Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Hinweis auf einen sachdienlichen Antrag. Streitgegenstand

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Das Gericht entscheidet über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.

2. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden.

3. Die Darlegung eines Verfahrensmangels, der in der Verkennung des Streitgegenstands liegt, erfordert die lückenlose Darlegung des Verfahrensgangs unter Auslegung der den Rechtsmittel- bzw. Streitgegenstand bestimmenden Entscheidungen und Erklärungen sowie die sorgfältige Auseinandersetzung mit dem Regelungsgehalt der angegriffenen Verwaltungsentscheidungen, dem Klagebegehren, der Entscheidung erster Instanz und dem Berufungsbegehren.

 

Normenkette

SGG §§ 103, 106 Abs. 1, §§ 109, 112 Abs. 2 S. 2, §§ 123, 128 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 1, § 169 S. 3

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 22.07.2021; Aktenzeichen L 8 SO 246/19)

SG Bremen (Entscheidung vom 06.09.2019; Aktenzeichen S 24 SO 34/19)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachen-Bremen vom 22. Juli 2021 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der 1951 geborene Kläger macht höhere Bedarfe für Beiträge zu seiner privaten Kranken- und Pflegeversicherung geltend. Bei ihm liegen verschiedene Erkrankungen vor, ua eine ausgeprägte Angststörung (Agoraphobie) und eine chronisch rezidivierende depressive Störung. Er erhält seit März 2017 eine Regelaltersrente und bezieht ergänzend laufend Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII). Für seine private Kranken- und Pflegeversicherung wendet er im Normaltarif monatliche Beiträge von gut 650 Euro, ab Juli 2021 ca 690 Euro auf. Der Beklagte legte bei den Grundsicherungsleistungen einen Bedarf für Beiträge in Höhe von knapp 300 Euro zugrunde. Im Hinblick auf ein vom Kläger vorgelegtes Angebot seiner Versicherung über einen Wechsel in den Basistarif bei Bedürftigkeit zu monatlichen Beiträgen von knapp 160 Euro bewilligte die Beklagte dem Kläger Grundsicherungsleistungen "ab dem 1.6.2018" unter Berücksichtigung eines auf den Beitragssatz im Basistarif begrenzten Bedarfs für Beiträge zu seiner Kranken- und Pflegeversicherung. Der Kläger wechselte indes nicht in den Basistarif, sondern vertritt die Auffassung, dies sei ihm wegen seines komplexen Krankheitsbildes nicht zumutbar. Er benötige wegen seiner Angststörung therapeutische Hausbesuche und alternative Heilmittel, die vom Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung nicht abgedeckt würden, von seiner privaten Krankenversicherung derzeit aber übernommen würden.

Das Sozialgericht (SG) Bremen hat seine Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 6.9.2019). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat seiner Berufung teilweise stattgegeben, soweit dem Kläger für Zeiträume nach Juni 2018 geringere Leistungen als durch Bescheide vom 26.4.2018, 16.5.2018 und 19.6.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.1.2019 bewilligt gezahlt worden seien. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen: Dem Kläger stehe kein höherer Beitragszuschuss zu seiner privaten Kranken- und Pflegeversicherung zu. Der Bedarf sei der Höhe nach auf den sich nach § 152 Abs 4 des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) ergebenden halbierten monatlichen Beitrags für den Basistarif als dem angemessenen Beitrag begrenzt (§ 32 Abs 4 Satz 2 Nr 1 SGB XII). Dem Kläger sei auch in Ansehung seiner Erkrankungen ein Wechsel in den Basistarif zumutbar (Urteil vom 22.7.2021).

Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

II

Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des allein geltend gemachten Zulassungsgrunds des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann jedoch nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14; BSG vom 24.3.1976 - 9 BV 214/75 - SozR 1500 § 160a Nr 24 und BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36; BSG vom 31.7.2019 - B 8 SO 20/19 B - RdNr 9).

Ein Verfahrensmangel ist nicht schlüssig aufgezeigt, indem der Kläger geltend macht, das LSG habe nicht auf einen sachdienlichen Antrag hingewiesen und damit den Streitgegenstand (§ 123 SGG) verkannt. Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 123 RdNr 3; Schmidt, aaO, § 112 RdNr 8). Die Darlegung eines Verfahrensmangels, der in der Verkennung des Streitgegenstands liegt, erfordert die lückenlose Darlegung des Verfahrensgangs unter Auslegung der den Rechtsmittel- bzw Streitgegenstand bestimmenden Entscheidungen und Erklärungen sowie die sorgfältige Auseinandersetzung mit dem Regelungsgehalt der angegriffenen Verwaltungsentscheidungen, dem Klagebegehren, der Entscheidung erster Instanz und dem Berufungsbegehren (vgl zB BSG vom 24.11.2022 - B 5 R 146/22 B - RdNr 13; BSG vom 8.5.2019 - B 14 AS 86/18 B - RdNr 5 mwN).

Diesen Anforderungen wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht. Der Kläger legt nicht hinreichend dar, auf welchen sachdienlichen Antrag das LSG hätte hinwirken müssen. Allein die allgemeine Aussage, das LSG habe seine Prüfung auf Ansprüche nach dem Vierten Kapitel des SGB XII beschränkt, ohne sich auch mit Rechtsgrundlagen nach anderen Vorschriften - etwa aus dem Fünften bis Neunten Kapitel - zu befassen und insoweit auf einen sachdienlichen Antrag hinzuweisen, genügt den dargestellten Anforderungen nicht. Im Kern macht der Kläger lediglich geltend, das LSG habe den Anspruch nicht unter allen in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen geprüft, ohne im Einzelnen darzulegen, aus welcher konkreten Rechtsgrundlage sich der von ihm geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von Bedarfen für eine Kranken- und Pflegeversicherung ergeben sollte. Damit behauptet er schon nicht, dass das LSG den Streitgegenstand nicht zutreffend erfasst habe, sondern wendet sich nur gegen die Richtigkeit der Entscheidung im Einzelfall.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Krauß

Bieresborn

Scholz

 

Fundstellen

Dokument-Index HI16148583

Dieser Inhalt ist unter anderem im TVöD Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?