Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragspsychotherapeutische Versorgung
Orientierungssatz
1. Eine Teilnahme iS des § 95 Abs 10 S 1 Nr 3 SGB 5 ist nur gegeben, wenn die Zahl der Behandlungsstunden für Versicherte der Krankenkassen entweder in einem halben Jahr des Zeitfensters durchschnittlich mindestens 11,6 je Woche oder im letzten Vierteljahr durchschnittlich mindestens 15 je Woche betrug. Die Härteregelung ermöglicht eine flexible, allen Umständen des Einzelfalles gerecht werdende Handhabung (vgl BSG vom 8.11.2000 - B 6 KA 52/00 R = BSGE 87, 158 = SozR 3-2500 § 95 Nr 25).
2. Aus der Bedeutung des wirtschaftlichen Ertrages der Praxistätigkeit ergibt sich, dass angebotene Stunden, in denen keine Behandlungen stattfanden, nicht mitberücksichtigt werden können, auch wenn keine anderweitige berufliche Tätigkeit ausgeübt wurde.
3. Für die Berücksichtigung von Behandlungsstunden im Delegations- wie im Kostenerstattungsverfahren ist Voraussetzung, dass die Behandlungsstunden von den Krankenkassen vergütet worden sein müssen.
4. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 2. Kammer vom 14.1.2004 - 1 BvR 2647/03).
Normenkette
SGB 5 § 95 Abs. 10 S. 1 Nr. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin, im Jahr 1948 geborene Diplom-Psychologin, hatte mit ihrem Begehren nach bedarfsunabhängiger Zulassung keinen Erfolg. Zulassungsausschuss, beklagter Berufungsausschuss, Sozialgericht und Landessozialgericht (LSG) haben die von ihr geltend gemachte Anzahl an Behandlungsstunden, die sie im sog Zeitfenster vom 25. Juni 1994 bis zum 24. Juni 1997 in eigener Praxis für Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erbrachte, als unzureichend erachtet. Im Urteil des LSG vom 4. Juni 2003 ist ausgeführt, sie komme in diesem Zeitraum lediglich auf einen Durchschnitt von wöchentlich 1,9 Behandlungsstunden. Offen bleiben könne, ob diese Stundenzahl um weitere zu erhöhen sei, die nicht von den gesetzlichen Krankenkassen (KKn) bezahlt wurden (weswegen noch Prozesse anhängig seien). Deren Hinzurechnung ergäbe nur einen Durchschnitt von wöchentlich 3,12 Stunden und damit noch nicht die vom Bundessozialgericht (BSG) errechnete Mindestanzahl von wöchentlich 11,6 Stunden. Überhaupt nicht bezahlte könnten ebenso wenig berücksichtigt werden wie erst nach dem 24. Juni 1997 erbrachte Stunden.
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG macht die Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und die Abweichung von der BSG-Rechtsprechung geltend.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg.
Ihr Vorbringen, der Rechtssache komme grundsätzliche Bedeutung zu (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ ), entspricht zwar auf Grund seiner eingehenden Ausführungen den Darlegungsanforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Diese Rüge ist mithin zulässig. Sie ist aber unbegründet, denn die Erfordernisse für eine Revisionszulassung aus diesem Grund sind nicht erfüllt. Diese setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl BVerfG ≪Kammer≫, SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14; s auch BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 19 S 34 f; Nr 30 S 57 f mwN). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, falls die Rechtsfrage schon beantwortet ist, ebenso dann, wenn Rechtsprechung zu dieser Konstellation zwar noch nicht vorliegt, sich aber die Antwort auf die Rechtsfrage ohne Weiteres aus dem Gesetz und/oder anhand der zu Teilaspekten vorliegenden Rechtsprechung ergibt (zur Verneinung der Klärungsbedürftigkeit im Falle klarer Antwort siehe zB BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; vgl auch BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f). Diese Anforderungen sind insgesamt verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl zB BVerfG ≪Kammer≫, Beschluss vom 29. Mai 2001 - 1 BvR 791/01 -, und früher schon BVerfG ≪Kammer≫, SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10 f; Nr 7 S 14; s auch BVerfG ≪Kammer≫, DVBl 1995, 35).
Die von der Klägerin aufgeworfenen Rechtsfragen,
welche Maßstäbe an die Teilnahme eines während des Zeitfensters hauptberuflich in eigener Praxis tätigen Psychotherapeuten zu stellen sind, der neben dieser Tätigkeit keine andere nennenswerte Nebentätigkeit ausübt und gesetzlich krankenversicherte Patienten behandelt,
was "abgerechnete Behandlungsstunde" im Sinne der Entscheidungen des BSG bedeutet, dh ob es ausreicht, dass sie bei gesetzlich Krankenversicherten erbracht und den KKn in Rechnung gestellt wurden, oder ob sie von den KKn auch bereits vergütet worden sein müssen,
ob bei hauptberuflich in freier Praxis tätigen Psychotherapeuten, die keine anderweitige berufliche Tätigkeit ausüben, die angebotenen Sprechstunden, in denen sie den gesetzlich Krankenversicherten zur Verfügung stehen, ohne in Anspruch genommen zu werden, bei der Frage der "Teilnahme" an der Versorgung gesetzlich Versicherter zu berücksichtigen sind,
ob die Verwaltungspraxis der Zulassungsstellen, 250 erbrachte Behandlungsstunden während des Zeitfensters als ausreichend anzusehen, unter Berücksichtigung des Art 3 GG Bindungswirkung hat, wenn zu Unrecht diese Voraussetzung als nicht erbracht angesehen wurde,
sind nicht klärungsbedürftig. Denn die für ihre Beantwortung wesentlichen Gesichtspunkte sind in der Rechtsprechung des BSG bereits geklärt, und die Antwort auf die zusätzlichen besonderen Aspekte ergibt sich ohne Weiteres aus dem in der Rechtsprechung klargestellten Sinn und Zweck der Regelungen des § 95 Abs 10 und 11 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB V≫ (zur Verneinung der Klärungsbedürftigkeit im Falle klarer Antwort siehe die oben zitierte Rechtsprechung).
Die Grundsätze ergeben sich aus zahlreichen Entscheidungen des BSG und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) (s zB BSGE 87, 158, 171, 175 ff = SozR 3-2500 § 95 Nr 25 S 118 f, 122 ff; BVerfG ≪Kammer≫, NJW 2000, 3416, 3416 f = SozR 3-2500 § 95 Nr 24 S 102 f; zuletzt BSG, MedR 2003, 359 = GesR 2003, 42, s dazu die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde durch BVerfG ≪Kammer≫, Beschluss vom 6. Dezember 2002 - 1 BvR 2021/02 -). Danach ist eine Teilnahme im Sinne des § 95 Abs 10 Satz 1 Nr 3 SGB V nur gegeben, wenn die Zahl der Behandlungsstunden für Versicherte der KKn entweder in einem halben Jahr des Zeitfensters durchschnittlich mindestens 11,6 je Woche oder im letzten Vierteljahr durchschnittlich mindestens 15 je Woche betrug. Die Härteregelung ermöglicht eine flexible, allen Umständen des Einzelfalles gerecht werdende Handhabung (vgl hierzu BSGE 87, 158, 166 oben und 176 oben = SozR 3-2500 § 95 Nr 25 S 112 f, 123 f). Die genannte Mindestquote beruht auf dem Gedanken, dass bereits im Zeitfenster eine schutzwürdige Praxisstruktur, deren wirtschaftlicher Ertrag annähernd das für eine Berufstätigkeit typische Ausmaß erreichte, vorhanden gewesen sein muss (dazu zuletzt BSG MedR 2003, 359, 360, in GesR 2003, 42 insoweit nicht abgedruckt). Daraus folgt - ohne dass eine (erneute) Klärung in einem Revisionsverfahren erforderlich ist -, dass jedenfalls große Abweichungen von der Quote von durchschnittlich wöchentlich 11,6 Stunden - wie dies bei der Klägerin der Fall ist - die Zulassung unmöglich machen, auch wenn neben der Praxistätigkeit keine anderen nennenswerten Nebentätigkeiten ausgeübt wurden.
Aus diesen Grundsätzen ergibt sich aber nicht nur die Antwort auf die erste aufgeworfene Frage, sondern ohne Weiteres auch diejenige auf die zweite: Die Frage, ob die KKn die Behandlungsstunden bereits vergütet haben müssen, ist zu bejahen. Denn nur dann kann sich die wirtschaftliche Existenz gerade auf die Praxistätigkeit gegründet haben, womit eine schutzwürdige Praxisstruktur mit einem wirtschaftlichen Ertrag in einem annähernd für eine Berufstätigkeit typischen Ausmaß vorhanden war (vgl BSG aaO). Selbst wenn die Klägerin - wie sie geltend macht - die Vergütungen für acht Behandlungsstunden noch nachträglich von den KKn erhalten hat, könnte das zu keinem anderen Ergebnis führen. Denn auch damit wäre die vom BSG geforderte Mindestdurchschnittszahl vergüteter Behandlungsstunden bei Weitem nicht erreicht.
Aus der Bedeutung des wirtschaftlichen Ertrages der Praxistätigkeit ergibt sich auch die Antwort auf die dritte Frage, dass nämlich angebotene Stunden, in denen keine Behandlungen stattfanden, nicht mitberücksichtigt werden können, auch wenn keine anderweitige berufliche Tätigkeit ausgeübt wurde. Hiergegen greift der Hinweis der Klägerin auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum Bereitschaftsdienst nicht durch. Diese betraf den Fall eines in abhängiger Beschäftigung auf Weisung des Arbeitgebers geleisteten Bereitschaftsdienstes, während vorliegend ein nicht vergleichbarer Sachverhalt, nämlich nicht ausgefüllte Sprechstunden im Rahmen freier Praxistätigkeit, in Frage steht.
Zur vierten von der Klägerin aufgeworfenen Frage ist darauf hinzuweisen, dass diese bei Zugrundelegung der klaren Antworten auf die drei anderen Fragen ins Leere geht, insoweit nämlich die Entscheidungserheblichkeit (Klärungsfähigkeit) fehlt. Die Klägerin geht in ihrer vierten Fragen davon aus, dass die Zulassungsgremien zu Unrecht die erforderliche Stundenzahl als nicht erbracht ansahen. Dieser Fall ist aber nicht gegeben. Denn die erforderliche Zahl an Behandlungsstunden ist im Falle der Klägerin zu Recht verneint worden, wie sich bei Mitberücksichtigung der Antworten auf die drei anderen Fragen ergibt.
Die von der Klägerin schließlich noch erhobene Rüge, es liege eine Rechtsprechungsabweichung vor (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG), ist schon nicht zulässig. Nach den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Darlegungsanforderungen müsste die Beschwerdebegründung entscheidungstragende Rechtssätze im Berufungsurteil und in einer höchstrichterlichen Entscheidung, die sich auf revisibles Recht iS des § 162 SGG beziehen, einander gegenüberstellen und ausführen, inwiefern sie miteinander nicht vereinbar sind. Entsprechende Ausführungen sind nicht erfolgt. Die Klägerin hat zwar konkrete Urteile des Bundessozialgerichts (BSGE 87, 158, 171, 175 ff = SozR 3-2500 § 95 Nr 25 S 118 f, 122 ff, und BSG, MedR 2003, 359 = GesR 2003, 42) benannt und aus ihnen auch Passagen wiedergegeben, von denen das LSG abgewichen sei. Sie stellt diesen Passagen aber keine damit unvereinbaren (abstrakten) Rechtssätze des Berufungsurteils gegenüber.
Dies ist ohne Weiteres erkennbar, soweit sie eine Rechtsprechungsabweichung darin sieht, dass das LSG die Forderung des BSG nach einer flexiblen, allen Umständen des Einzelfalles gerecht werdenden Anwendung des Begriffs der "Teilnahme" nicht in der richtigen Weise umgesetzt habe. Darin liegt lediglich die Rüge, das LSG habe fehlerhaft subsumiert. Die Rüge fehlerhafter Subsumtion genügt indessen nicht den Anforderungen an eine Divergenzrüge im Sinne von § 160 Abs 2 Nr 2 iVm § 160a Abs 2 Satz 3 SGG.
Eine zulässige Abweichungsrüge ergibt sich auch nicht aus ihrem Vorbringen, das BSG habe den Behandlern im Delegationsverfahren diejenigen gleich gestellt, die im Kostenerstattungsverfahren behandelten, das LSG dagegen habe insoweit Unterschiede gemacht, insbesondere, soweit es gefordert habe, dass nur Therapiestunden berücksichtigt werden könnten, die von den KKn auch bezahlt worden seien. Soweit das LSG eine Bezahlung für erforderlich hält, liegt darin keine dem BSG widersprechende Unterscheidung zwischen Delegations- und Kostenerstattungsverfahren, vielmehr nur die Anwendung des oben genannten Rechtsgrundsatzes, dass nach der BSG-Rechtsprechung eine schutzwürdige Praxisstruktur mit einem wirtschaftlichen Ertrag in einem annähernd für eine Berufstätigkeit typischen Ausmaß vorhanden gewesen sein muss (vgl obige Ausführungen mit Hinweis auf BSG MedR 2003, 359, 360, in GesR 2003, 42 insoweit nicht abgedruckt). Aus diesem Grundsatz folgt gleichermaßen für Behandlungsstunden im Delegations- wie im Kostenerstattungsverfahren, dass die Behandlungsstunden von den KKn vergütet worden sein müssen. Eine Abweichung des Urteils des LSG von einem des BSG kann daher insoweit nicht festgestellt werden und wird auch nicht in der Beschwerdebegründung im Sinne von § 160 Abs 2 Nr 2 iVm § 160a Abs 2 Satz 3 SGG dargelegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG (in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung).
Fundstellen