Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. rechtliches Gehör. Überraschungsentscheidung. Sachverständigengutachten. Feststellung von Mängeln des Gutachtens im Urteil. Vorhersehbarkeit bei entsprechendem Beklagtenvorbringen
Orientierungssatz
1. Zur Darlegung des Verfahrensmangels eines Gehörsverstoßes in Form einer Überraschungsentscheidung muss der Beschwerdeführer einer Nichtzulassungsbeschwerde unter Bezugnahme auf den Gang des Gerichtsverfahrens und das Vorbringen der Beteiligten sowie unter Hervorhebung von Äußerungen des Berufungsgerichts darlegen, dass die Entscheidung des LSG nach dem bisherigen Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte (vgl BSG vom 20.2.2019 - B 9 SB 67/18 B, vom 12.3.2019 - B 13 R 273/17 B und vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B).
2. Die Darlegung des Beschwerdeführers, das LSG habe erst in der Urteilsbegründung auf Mängel im Gutachten des Sachverständigen hingewiesen, genügt insoweit nicht, wenn bereits der Beklagte in seiner ergänzenden Stellungnahme vor dem Urteil erklärt hat, dass das Gutachten nicht schlüssig sei und den Vorgaben (hier der Versorgungsmedizinischen Grundsätze) widerspreche.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 1, §§ 62, 106 Abs. 1, § 109; VersMedV § 2; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Gotha (Urteil vom 16.06.2016; Aktenzeichen S 4 SB 1702/13) |
Thüringer LSG (Urteil vom 28.05.2020; Aktenzeichen L 5 SB 1102/16) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 28. Mai 2020 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. In der Hauptsache begehrt der Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 ab Antragstellung im September 2012. Mit Urteil vom 28.5.2020 hat das LSG den Anspruch verneint. Das SG sei zutreffend davon ausgegangen, dass beim Kläger die Behinderungen der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 30 erst ab Januar 2015 nachgewiesen seien und sich die weiteren Behinderungen von jeweils 10 (Beinvenenthrombose und Harnröhrenstriktur) nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB auswirkten. Die von dem Sachverständigen PD Dr. P in seinem im Berufungsverfahren auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG erstellten Gutachten und seiner ergänzenden Stellungnahme mitgeteilte Intensität der psychiatrischen Leiden und deren Bewertung mit einem GdB von jeweils 50 sei nicht nachvollziehbar.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt. Er rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Der Kläger hat den von ihm allein geltend gemachten Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht ordnungsgemäß bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels zunächst die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Den sich daraus ergebenden Anforderungen ist die Beschwerdebegründung nicht gerecht geworden.
Der Kläger rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG). Das LSG habe eine für ihn überraschende Entscheidung getroffen. Erst in der Urteilsbegründung habe das LSG auf Mängel im Gutachten des Sachverständigen PD Dr. P hingewiesen, ohne ihm zuvor entsprechende Hinweise nach § 106 Abs 1 SGG zu erteilen. Es habe ihm damit die Möglichkeit entzogen, die gerichtliche Anordnung des Erscheinens des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens zu beantragen oder den Gutachter zu den Vorbehalten des Gerichts schriftlich zu hören.
Der Kläger versäumt es jedoch, den behaupteten Gehörsverstoß hinreichend substantiiert darzulegen. Der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet das Prozessgericht grundsätzlich nicht, die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 1.7.2019 - B 9 SB 19/19 B - juris RdNr 6 mwN). Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 27.8.2018 - B 9 SB 19/18 B - juris RdNr 7; Senatsbeschluss vom 26.1.2017 - B 9 V 72/16 B - juris RdNr 8; Senatsbeschluss vom 25.2.2016 - B 9 V 69/15 B - juris RdNr 11). Dies ist nach der Beschwerdebegründung aber nicht anzunehmen.
Hierzu hätte der Kläger aufzeigen müssen, dass er unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Sachentscheidung habe rechnen können. Es besteht nämlich insbesondere gegenüber rechtskundig vertretenen Beteiligten weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen, denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 18.6.2018 - B 9 V 1/18 B - juris RdNr 22; Senatsbeschluss vom 24.8.2017 - B 9 SB 44/17 B - juris RdNr 8). Art 103 Abs 1 GG gebietet vielmehr lediglich dann einen Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 1.7.2019 - B 9 SB 19/19 B - juris RdNr 6; Senatsurteil vom 16.3.2016 - B 9 V 6/15 R - juris RdNr 26). Der Kläger legt nicht substantiiert dar, dass er nach dem bisherigen Prozessverlauf unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Entscheidung habe rechnen können. Hierzu hätte er unter Bezugnahme auf den Gang des Gerichtsverfahrens und das Vorbringen der Beteiligten sowie unter Hervorhebung von Äußerungen des Berufungsgerichts darlegen müssen, dass die Entscheidung des LSG nach dem bisherigen Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte (vgl Senatsbeschluss vom 20.2.2019 - B 9 SB 67/18 B - juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 12.3.2019 - B 13 R 273/17 B - juris RdNr 26; BSG Beschluss vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B - juris RdNr 9). Dies hat der Kläger jedoch nicht getan. Vielmehr räumt er selbst ein, dass der Beklagte auch nach der ergänzenden schriftlichen Stellungnahme des Sachverständigen PD Dr. P vom 25.10.2019 mit Schriftsatz vom 18.11.2019 erklärt habe, dass er sich dessen Bewertung der gesundheitlichen Verhältnisse mit einem Gesamt-GdB von 50 seit September 2012 "weiter" nicht anschließen könne, weil die von dem Sachverständigen erfolgte Bildung der Einzel-GdB für die psychiatrischen Erkrankungen sowie des Gesamt-GdB von 50 nicht schlüssig sei und den Vorgaben der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung widerspreche. Der Kläger behauptet auch nicht, dass das LSG im Vorfeld der Entscheidung Äußerungen getätigt habe, aus denen er entnehmen hätte können, dass das Urteil zu seinen Gunsten ausfallen werde. Ebenso wenig rügt er, dass das Berufungsgericht sein Urteil auf Tatsachen oder Beweisergebnisse gestützt hat, zu denen er sich nicht äußern konnte (vgl § 128 Abs 2 SGG).
Im Übrigen sind die Tatsachengerichte nicht verpflichtet, auf die Stellung von Beweisanträgen hinzuwirken (Senatsbeschluss vom 22.3.2018 - B 9 SB 78/17 B - juris RdNr 17). Dass der Kläger vom LSG in der mündlichen Verhandlung darin gehindert worden sei, weitere aus seiner Sicht sachdienliche Beweisanträge zu stellen, trägt er nicht vor.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14226257 |