Verfahrensgang

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 29.07.2019; Aktenzeichen S 16 R 4051/17)

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 27.07.2022; Aktenzeichen L 2 R 2895/19)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Juli 2022 wird als unzulässig verworfen.

Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Juli 2022 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwältin H beizuordnen, wird abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I

Die im Jahr 1965 geborene Klägerin begehrt eine Rente wegen Erwerbsminderung. Der beklagte Rentenversicherungsträger lehnte ihren im Januar 2017 gestellten Antrag ab, weil sie trotz bestehender gesundheitlicher Beeinträchtigungen noch in der Lage sei, arbeitstäglich wenigstens sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig zu sein (Bescheid vom 1.3.2017, Widerspruchsbescheid vom 15.11.2017). Das SG hat die dagegen erhobene Klage nach Einholung eines orthopädischen und eines lungenfachärztlichen Sachverständigengutachtens abgewiesen (Urteil vom 29.7.2019).

Im Berufungsverfahren hat das LSG zunächst den die Klägerin behandelnden Lungenfacharzt S als sachverständigen Zeugen befragt. Dieser ging in seiner schriftlichen Auskunft vom 14.3.2020 davon aus, dass die Klägerin noch in der Lage sei, täglich sechs Stunden leichte Tätigkeiten auszuüben. Nach einer Wirbelsäulenoperation am 20.8.2020 gewährte die Beklagte eine ambulante Anschlussheilbehandlung. Gemäß dem Reha-Entlassungsbericht vom 28.10.2020 war angesichts der multiplen gesundheitlichen Probleme mit einer alsbald eintretenden Erwerbsfähigkeit der Klägerin von über drei Stunden nicht zu rechnen. Im April 2021 wurde die Klägerin erneut an der Wirbelsäule operiert und erhielt von da an von der Pflegekasse Pflegegeld nach Pflegegrad 2. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 27.7.2022). Die Klägerin habe "nicht nachweisen können", dass bis zum Zeitpunkt des letztmaligen Vorliegens der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen am 30.6.2020 eine quantitative Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigendem Ausmaß eingetreten sei. Zwar sei davon auszugehen, dass sie zwischenzeitlich erwerbsgemindert sei. Doch sei es wahrscheinlich, dass es erst im Anschluss an die Wirbelsäulenoperation im August 2020 zu einer erheblichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands gekommen sei. Der Vollbeweis einer eingetretenen Erwerbsminderung bereits bis zum 30.6.2020 sei nicht möglich; dasselbe gelte für eine fehlende Wegefähigkeit. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen sei ebenso wenig feststellbar wie eine spezifische Leistungsbehinderung.

Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat die Klägerin beim BSG Beschwerde eingelegt. Sie beanstandet, die erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachten hätten ihr Erkrankungsbild nicht hinreichend gewürdigt. Ihr Leistungsvermögen sei spätestens seit dem 30.6.2020 auf unter drei Stunden täglich gemindert. Auch eine Wegefähigkeit habe bereits deutlich vor dem 30.6.2020 nicht mehr bestanden. Zudem rügt sie eine Rechtsprechungsabweichung und beantragt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH).

II

1. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Die Klägerin hat den Revisionszulassungsgrund einer Rechtsprechungsabweichung (Divergenz) nicht hinreichend bezeichnet (vgl § 160 Abs 2 Nr 2 iVm § 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.

Eine Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt vor, wenn das angefochtene Urteil seiner Entscheidung einen abstrakten Rechtssatz zugrunde legt, der von einem zu derselben Rechtsfrage entwickelten abstrakten Rechtssatz in einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht. Darüber hinaus erfordert der Zulassungsgrund der Divergenz, dass die angefochtene Entscheidung auf dieser Abweichung beruht. Dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist in der Beschwerdebegründung im Einzelnen darzulegen (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Hierzu sind die betreffenden Rechtssätze einander gegenüberzustellen; zudem ist näher zu begründen, weshalb diese nicht miteinander vereinbar sind und inwiefern die Entscheidung des LSG auf der Abweichung beruht (stRspr; vgl BSG Beschluss vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 17; BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 13). Nicht ausreichend ist hingegen, wenn die fehlerhafte Anwendung eines als solchen nicht in Frage gestellten höchstrichterlichen Rechtssatzes durch das Berufungsgericht geltend gemacht wird (bloße Subsumtionsrüge), denn nicht die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall, sondern nur eine Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen ermöglicht die Zulassung der Revision wegen Divergenz (stRspr; zB BSG Beschluss vom 25.8.2022 - B 5 R 83/22 B - juris RdNr 5 mwN).

Die Beschwerdebegründung der Klägerin erfüllt diese Anforderungen nicht. Sie trägt vor, die Entscheidung des LSG weiche vom Urteil des BSG vom 11.12.2019 (B 13 R 7/18 R - BSGE 129, 274 = SozR 4-2600 § 43 Nr 22) ab. Dort sei ausgeführt, eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen liege auch dann vor, wenn mehrere auf den ersten Blick gewöhnliche Leistungseinschränkungen aufgrund einer besonderen Addierungs- und Verstärkungswirkung ernste Zweifel an einer Einsetzbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt begründen würden. Diese Maßstäbe habe das LSG "nicht erkannt bzw. nicht richtig angewandt". Insbesondere habe es verkannt, dass es sich bei dem vom Sachverständigen S im Februar 2022 festgestellten Erfordernis, die Klägerin müsse die Möglichkeit haben, sich während der Arbeit zwischendurch kurz hinzulegen, um eine schwere spezifische Leistungseinschränkung handele. Auf dieser Abweichung beruht die Entscheidung des LSG.

Dieser Vortrag zeigt nicht auf, dass das LSG im Rechtsgrundsätzlichen von der genannten Entscheidung des BSG abgewichen sei, indem es andere rechtliche Maßstäbe zugrunde gelegt habe. Das Vorbringen der Klägerin erschöpft sich vielmehr in der Behauptung, das LSG habe die Maßstäbe aus dem BSG-Urteil in ihrem Einzelfall unzutreffend angewandt; es geht mithin über eine (unbeachtliche) Subsumtionsrüge nicht hinaus (s dazu auch BSG Beschluss vom 10.8.2021 - B 5 R 108/21 B - juris RdNr 12 mwN; BSG Beschluss vom 5.8.2022 - B 5 R 58/22 B - juris RdNr 6).

Auch soweit die Klägerin geltend macht, das LSG habe verkannt, dass bei ihr eine "Zusammenhäufung" mehrerer ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliege, die zu einer besonderen Addierungs- und Verstärkungswirkung führten und deshalb die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderten, ergibt sich aus ihrer Darstellung nicht, dass das Berufungsgericht dem BSG im Rechtsgrundsätzlichen widersprochen hätte.

Entsprechendes gilt für den Vortrag, die Entscheidung des LSG weiche vom Urteil des BSG vom 17.12.1991 (13/5 RJ 73/90 - SozR 3-2200 § 1247 Nr 10) ab. Insoweit beanstandet die Klägerin, das LSG sei der Einschätzung des Sachverständigen S zum Verlust der Wegefähigkeit bereits im Juli 2018 zu Unrecht nicht gefolgt und habe zu ihrer Fähigkeit, öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten zu nutzen, keine ausreichenden Feststellungen getroffen. Von welchem Rechtssatz aus der BSG-Entscheidung das LSG abgewichen sein soll, erschließt sich daraus nicht. Vielmehr kritisiert die Klägerin lediglich die Beweiswürdigung bzw den Umfang der vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen bei der Rechtsanwendung in ihrem Einzelfall.

Soweit die Klägerin darüber hinaus rügt, die erstinstanzlich eingeholten Gutachten hätten ihr Erkrankungsbild nicht hinreichend gewürdigt, wendet sie sich im Ergebnis dagegen, dass das LSG diese Gutachten für überzeugend befunden und seine Entscheidung auch hierauf gestützt hat. Mit dieser Rüge kann die Klägerin im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht durchdringen, weil nach ausdrücklicher Anordnung in § 160 Abs 2 Nr 3 Teilsatz 2 SGG ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (vgl § 128 Abs 1 Satz 1 SGG) gestützt werden kann.

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

2. Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von PKH für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten ist abzulehnen. Die zugleich mit dem PKH-Antrag bereits wirksam eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde bietet - wie ausgeführt - keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1, § 121 Abs 1 ZPO).

3. Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Düring

Körner

Gasser

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15615676

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