Entscheidungsstichwort (Thema)
Richterlich begründete außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde. kein wirksamer Rechtsbehelf. überlange Verfahrensdauer. Kassenärztliche Vereinigung. Bildung von Honorartöpfen für Arztgruppen. Anknüpfung an früher ausbezahlte Abrechnungsvolumina. Beobachtungs- und Reaktionspflicht
Orientierungssatz
1. Eine lediglich richterrechtlich begründete außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde ist kein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine überlange Verfahrensdauer (vgl EGMR vom 8.6.2006 - 75529/01 = NJW 2006, 2389).
2. Eine Kassenärztliche Vereinigung darf Honorartöpfe für Arztgruppen in Anknüpfung an die in einem früheren Jahr ausbezahlten Abrechnungsvolumina bilden (vgl BSG vom 20.10.2004 - B 6 KA 13/04 B). Die Honorarkontingente werden nicht allein dadurch rechtswidrig, dass nach der Festlegung ihres Zuschnitts eine Höherbewertung von solchen Leistungen im EBM-Ä erfolgt, die aus einem derartigen festen Honorarkontingent vergütet werden (vgl BSG vom 8.3.2000 - B 6 KA 7/99 R = BSGE 86, 26 = SozR 3-2500 § 87 Nr 23).
3. Mit der Bildung von Honorarkontingenten geht eine Beobachtungs- und Reaktionspflicht der Kassenärztlichen Vereinigung als Normgeber einher. Diese Reaktionspflicht bei der Honorarverteilung kann eingreifen, wenn sich bei einer Arztgruppe ein honorarmindernd wirkender dauerhafter Punktwertabfall von mehr als 15% unter das sonstige Durchschnittsniveau ergibt, von dem Punktwertverfall ein wesentlicher Leistungsbereich betroffen ist, die dem Punktwertverfall zugrunde liegende Mengenausweitung nicht von der Arztgruppe selbst zu verantworten ist und die Honorarrückgänge in dem wesentlichen Leistungsbereich nicht durch andere Effekte kompensiert werden (vgl BSG vom 29.8.2007 - B 6 KA 43/06 R).
Normenkette
MRK Art. 6 Abs. 1; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3; SGB 5 § 85 Abs. 4; EBM-Ä
Verfahrensgang
Sächsisches LSG (Urteil vom 30.05.2007; Aktenzeichen L 1 KA 3/05) |
SG Dresden (Urteil vom 01.12.2004; Aktenzeichen S 11 KA 121/98) |
Tatbestand
Die Klägerin betrieb in den streitbefangenen Quartalen IV/1997 bis II/1998 als Fachbiologin der Medizin eine zytologische Praxis. Sie begehrt für diese Quartale höheres Honorar, insbesondere weil die Bemessung des Honorarkontingents, aus dem die zytologischen Leistungen vergütet worden waren, mit höherrangigem Recht unvereinbar gewesen sei.
Die Honorarverteilung der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) erfolgte ab dem Quartal II/1996 auf der Grundlage fester arztgruppenbezogener Honorarkontingente. Zum Quartal III/1997 wurde für die Fachbiologen der Medizin und Fachärzte für Pathologie mit der besonderen Genehmigung "gynäkologische Zytologie" ein eigenes Honorarkontingent eingerichtet, wobei der Zuschnitt dieses Kontingents auf der Grundlage der Gesamtvergütungsanteile der einzelnen Fachgruppen und Untergruppen im Jahre 1995 basierte. Die kurativen Punktwerte der einzelnen Kontingente durften den durchschnittlichen kurativen Punktwert über alle Kontingente - getrennt nach budgetierten und unbudgetierten Fachgruppen - ab dem Quartal III/1997 um nicht mehr als 10 % und ab dem Quartal I/1998 um nicht mehr als 20 % unterschreiten und mussten erforderlichenfalls insoweit gestützt werden. Ab dem Quartal III/1998 enthielt der Honorarverteilungsmaßstab (HVM) eine Bestimmung zur Berücksichtigung von Bewertungskorrekturen im Einheitlichen Bewertungsmaßstab für vertragsärztliche Leistungen (EBM-Ä) bei der Aufteilung der Mittel auf die einzelnen Kontingente.
Die Leistungen der Klägerin wurden in den streitbefangenen Quartalen mit Punktwerten zwischen 4,88 Pf (Primärkassen Quartal I/1998) und 7,88 Pf (Ersatzkassen Quartal IV/1997) honoriert.
Das Sozialgericht (SG) hat die 1998 erhobenen Klagen gegen die einzelnen Honorarbescheide verbunden - und soweit noch von Interesse - abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Es ist der Auffassung, die Honorarverteilung der Beklagten bis zum Quartal II/1998 hinsichtlich der Honorierung der zytologischen Leistungen sei nicht zu beanstanden. Die Beklagte sei nicht gehalten gewesen, das Kontingent für die zytologischen Leistungen zu Lasten anderer Arztgruppen allein deshalb zu erhöhen, weil im EBM-Ä ab dem Jahre 1996 eine Höherbewertung dieser Leistungen vorgenommen worden sei. Ihrer bei der Honorarverteilung auf der Grundlage fester, arztgruppenbezogener Honorarkontingente bestehenden Beobachtungs- und ggf Anpassungspflicht sei die Beklagte nachgekommen und habe ihren HVM mit Wirkung zum dritten Quartal 1998 so geändert, dass bei der Aufteilung der Gesamtvergütung auf die Honorarkontingente Erhöhungen der Fallpunktzahlen von mehr als 3 % zu berücksichtigen gewesen seien, soweit diese auf Änderungen im EBM-Ä zurückgingen (Urteil vom 30.5.2007) .
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt die Klägerin die überlange Verfahrensdauer in der ersten Instanz als Verfahrensmangel (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) und macht geltend, im Rechtsstreit seien Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Die Klägerin rügt zunächst, dass das Verfahren in der ersten Instanz die durch das Gebot des fairen Verfahrens iS des Art 6 Abs 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gezogene zeitliche Grenze überschritten habe. Das Verfahren war 5 1/2 Jahre bei dem SG anhängig, und während dieser Zeit hat das Gericht bis zur Anberaumung der mündlichen Verhandlung Mitte 2004 und der kurz zuvor erfolgten Verbindung der ursprünglich getrennt erhobenen Klagen nichts veranlasst. Eine Verletzung des Gebotes der Verfahrensbeschleunigung kann jedoch die Zulassung der Revision nicht rechtfertigen, weil das angefochtene Berufungsurteil auf diesem Mangel nicht iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG beruht. Dem Berufungsgericht, dessen Urteil für die Prüfung eines Verfahrensmangels maßgeblich ist, fällt ein Verstoß gegen Art 6 Abs 1 EMRK nicht zur Last; ein solcher Verstoß wird von der Klägerin auch nicht geltend gemacht. Dessen Urteil beruht auch nicht auf der übermäßig langen Dauer des sozialgerichtlichen Verfahrens; es ist weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich, dass das LSG in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht zu anderen Erwägungen gelangt wäre, wenn das SG schneller entschieden hätte.
Der Rechtsauffassung, eine Verletzung des Rechts auf ein zügiges Verfahren könne mit der Nichtzulassungsbeschwerde auch dann geltend gemacht werden, wenn ausgeschlossen ist, dass der Verfahrensmangel das Urteil beeinflusst hat, folgt der Senat in Übereinstimmung mit dem 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG, Beschluss vom 4.9.2007 - B 2 U 308/06 B, zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen) nicht. Soweit der 4. Senat des BSG in seinem Beschluss vom 13.12.2005 (SozR 4-1500 § 160a Nr 11) eine abweichende Rechtsauffassung vertreten hat, ist dieser Entscheidung durch die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) die Grundlage entzogen (vgl bereits Beschluss des 1. Senats des BSG vom 21.5.2007 - B 1 KR 4/07 S, SozR 4-1500 § 160a Nr 11) . Mit einer nicht an die Anforderung des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG gebundenen Nichtzulassungsbeschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer würde im Ergebnis ein unzulässiger außerordentlicher Rechtsbehelf geschaffen, dessen Voraussetzungen und Folgewirkungen unklar sind und der deshalb dem rechtsstaatlichen Erfordernis der Rechtsmittelklarheit nicht genügt. Eine Nichtzulassungsbeschwerde im Verständnis des Beschlusses des 4. Senats des BSG vom 13.12.2005 (SozR 4-1500 § 160a Nr 11 RdNr 34 und 84) würde die Funktion einer bisher gesetzlich nicht vorgesehenen Untätigkeitsbeschwerde übernehmen. Das ist nach der Rechtsprechung des BVerfG zur Rechtsmittelklarheit ausgeschlossen (BVerfGE 107, 395, 416) . Im Übrigen hat der EGMR mit Urteil vom 8.6.2006 (NJW 2006, 2389) entschieden, dass eine lediglich richterrechtlich begründete außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde kein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine überlange Verfahrensdauer ist.
Soweit die Klägerin geltend macht, im Rechtsstreit seien Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden, hat sie diese Rüge in einer den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG entsprechenden Form erhoben. Die Rüge ist deshalb zulässig. Sie ist aber nicht begründet, weil die von der Klägerin geltend gemachte Klärungsbedürftigkeit der entscheidungserheblichen Rechtsfragen nicht (mehr) besteht.
Die Klägerin ist der Auffassung, es müsse entschieden werden, "ob eine Kassenärztliche Vereinigung zur Korrektur von Honorarkontingenten verpflichtet, wenn es nach dem für die Bildung der Honorarkontingente maßgeblichen Zeitraum zu einer veränderten Bewertung von Leistungen im EBM kommt, die sich in ihren Auswirkungen nicht lediglich auf Verteilungsaspekte innerhalb einer Arztgruppe beschränkt". Diese Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig, weil sich die Antwort auf sie ohne weiteres aus der bisherigen Rechtsprechung des BSG ergibt.
Der Senat hat in seinem von der Beschwerdebegründung zutreffend herangezogenen Beschluss vom 20.10.2004 (B 6 KA 13/04 B) seine ständige Rechtsprechung zur Bildung und Anpassung von arztgruppenbezogenen Honorarkontingenten dahin zusammengefasst, dass die KÄV Honorartöpfe für Arztgruppen in Anknüpfung an die in einem früheren Jahr ausbezahlten Abrechnungsvolumina bilden darf, und dass die so gebildeten Honorarkontingente nicht allein dadurch rechtswidrig werden, dass nach der Festlegung ihres Zuschnitts eine Höherbewertung von solchen Leistungen im EBM-Ä erfolgt, die aus einem derartigen festen Honorarkontingent vergütet werden (vgl bereits BSGE 86, 16, 26 = SozR 3-2500 § 87 Nr 23 S 125) .
In seinem nach Verkündung des hier angefochtenen Urteils des Sächsischen LSG ergangenen Urteil vom 29.8.2007 (B 6 KA 43/06 R, zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen) hat der Senat bezogen auf die Arztgruppe der Anästhesisten und die Höherbewertung der anästhesistischen Leistungen im EBM-Ä zum 1.1.1996 und deren Auswirkungen auf fachgruppenbezogene Honorarkontingente erneut bekräftigt, dass mit der Bildung von Honorarkontingenten eine Beobachtungs- und Reaktionspflicht der KÄV als Normgeber einhergeht. Diese Reaktionspflicht bei der Honorarverteilung kann eingreifen, wenn sich bei einer Arztgruppe ein honorarmindernd wirkender dauerhafter Punktwertabfall von mehr als 15 % unter das sonstige Durchschnittsniveau ergibt, von dem Punktwertverfall ein wesentlicher Leistungsbereich betroffen ist, die dem Punktwertverfall zugrunde liegende Mengenausweitung nicht von der Arztgruppe selbst zu verantworten ist und die Honorarrückgänge in dem wesentlichen Leistungsbereich nicht durch andere Effekte kompensiert werden (Urteil vom 29.8.2007 - B 6 KA 43/06 R - RdNr 20) . An dieser, bereits in zahlreichen früheren Entscheidungen entwickelten Rechtsprechung hat sich das Berufungsgericht der Sache nach orientiert und im Einzelnen dargelegt, weshalb es nicht zu beanstanden sei, dass die Beklagte erst zum dritten Quartal des Jahres 1998 unter bestimmten Voraussetzungen eine Erhöhung des Honorarkontingentes der zytologisch tätigen Fachwissenschaftler der Medizin im Hinblick auf eine Höherbewertung von Leistungen im EBM-Ä vorgenommen hat. Angesichts der unvermeidlicherweise relativ unbestimmten Rechtsfolgen aus der vom Senat hervorgehobenen Reaktions- bzw Anpassungspflicht der KÄVen bei der Honorarverteilung auf der Grundlage von festen arztgruppenbezogenen Honorarkontingenten ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen und ab welchem Zeitpunkt genau eine KÄV auf eine bestimmte Honorarverteilungsentwicklung reagieren muss, einer allgemein gültigen Festlegung und damit grundsätzlicher Klärung nicht zugänglich.
Im Übrigen hat das LSG - für den Senat gemäß § 163 SGG bindend, weil nicht mit Verfahrensrügen angegriffen - festgestellt, dass der Punktwert der Zytologen in den streitigen Quartalen nie unter dem durchschnittlichen Punktwert der unbudgetierten Honorargruppen gelegen hat. Daher spricht nichts dafür, dass die zytologisch tätigen Fachwissenschaftler der Medizin durch die (erst) zum 1.7.1998 vorgenommene Korrektur des für sie maßgeblichen Honorarkontingents im Verhältnis zu anderen Arztgruppen gleichheitswidrig (Art 3 Abs 1 GG) benachteiligt worden sind.
Schließlich steht der Annahme von grundsätzlicher Bedeutung entgegen, dass die von der Nichtzulassungsbeschwerde aufgeworfene Rechtsfrage ausgelaufenes Recht betrifft. Die Beklagte hat - wie oben näher dargestellt - ihre Honorarverteilung im Hinblick (auch) auf die zytologisch tätigen Fachbiologen der Medizin schon zum dritten Quartal des Jahres 1998 geändert. Dass für die Zeit bis Mitte 1998 noch Widerspruchsverfahren bei der Beklagten oder Streitverfahren bei den sächsischen Sozialgerichten anhängig sind, ist weder geltend gemacht noch ersichtlich. Rechtsfragen zu ausgelaufenem Recht haben nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn entweder noch eine erhebliche Zahl von Fällen auf der Grundlage des ausgelaufenen bzw auslaufenden Rechts zu entscheiden sind oder die Überprüfung der Rechtsnorm bzw ihrer Auslegung aus anderen Gründen fortwirkende allgemeine Bedeutung hat (vgl Beschluss des Senats vom 5.11.2003 - B 6 KA 69/03 B) . Dafür spricht hier nichts.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 160a Abs 4 Satz 3 Halbsatz 2 SGG abgesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG in der bis zum 1.1.2002 geltenden und hier im Hinblick auf die Klageerhebung im Jahre 1998 noch anzuwendenden Fassung.
Fundstellen