Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Abweisung der Klage wegen Unzulässigkeit. Fortsetzungsfeststellungsklage. Erledigung des angefochtenen Verwaltungsakts. Maßgeblichkeit der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts. Fortsetzungsfeststellungsinteresse. Wiederholungsgefahr. Leistungsversagung wegen fehlender Mitwirkung
Orientierungssatz
1. Für die Frage, ob die Entscheidung durch Prozessurteil einen Verfahrensmangel darstellt, ist die materielle Rechtsauffassung des Berufungsgerichts maßgeblich, soweit diese hierfür ausschlaggebend war, selbst wenn diese verfehlt sein sollte (vgl BVerwG vom 20.12.2017 - 6 B 14/17 = NVwZ 2018, 739 = juris RdNr 11 und vom 18.1.2022 - 6 B 21/21 = NJW 2022, 1115 = juris RdNr 10 mwN).
2. Ein "berechtigtes Interesse" im Sinne von § 131 Abs 1 S 3 SGG meint jedes nach der Sachlage vernünftigerweise gerechtfertigtes Interesse, das rechtlicher, aber auch bloß wirtschaftlicher oder ideeller Art sein kann (vgl BSG vom 12.8.2010 - B 3 KR 3/10 B = juris RdNr 10 zu § 55 Abs 1 SGG).
3. Wiederholungsgefahr ist anzunehmen, wenn die hinreichend bestimmte (konkrete) Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung ergeht (vgl BSG vom 16.5.2007 - B 7b AS 40/06 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 4 RdNr 7 mwN).
4. Anträge auf Leistungen zur Eingliederung in Arbeit und hierzu ergangene Verwaltungsakte erledigen sich jedenfalls nicht ohne Weiteres allein dadurch, dass gleichgerichtete Anträge erneut gestellt werden.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 131 Abs. 1 S. 1; SGB I § 66 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
SG für das Saarland (Urteil vom 19.10.2018; Aktenzeichen S 12 AS 695/13) |
LSG für das Saarland (Urteil vom 30.11.2021; Aktenzeichen L 4 AS 15/19) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 30. November 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten im Wege einer Fortsetzungsfeststellungsklage darüber, ob der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Leistungen zur Eingliederung in Arbeit, konkret auf Übernahme der Kosten für Gesangsunterricht und Korrepetition, versagen bzw ablehnen durfte.
Die Klägerin beantragte am 9.5.2013 die Übernahme der Kosten für jeweils zehn Stunden für Gesangsunterricht und Korrepetition sowie der anfallenden Fahrkosten, da sie eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Opernchorsängerin anstrebe. Der Beklagte forderte bei der Klägerin mit Schreiben vom 24.5.2013 einen Nachweis der Notwendigkeit für die Förderung seitens der Künstlervermittlung der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung der Agentur für Arbeit (ZAV-Künstlervermittlung - im Folgenden: ZAV) an. Die Klägerin verwies stattdessen auf eine ihrer Ansicht nach bereits 2011 von der ZAV festgestellte Notwendigkeit der Förderung, woraufhin der Beklagte die beantragten Leistungen wegen mangelnder Mitwirkung nach §§ 60, 66 SGB I versagte (Bescheid vom 18.7.2013).
Ihren gegen den Versagungsbescheid erhobenen Widerspruch vom 23.7.2013 begründete sie damit, dass sie noch mit der ZAV in Korrespondenz stehe und die Sache noch nicht entscheidungsreif sei. Mit Schreiben vom selben Tag beantragte die Klägerin unter Hinweis darauf, dass sie einen Termin zum Vorsingen habe, erneut erfolglos die begehrten Leistungen. Dieser Antrag ist Gegenstand eines gesonderten Rechtsstreits (L 4 AS 17/19, B 4 AS 132/22 B).
Der Beklagte wies den Widerspruch als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 18.10.2013) und führte aus, unter Berücksichtigung der bisherigen Feststellungen der ZAV von Juni 2011 bestünde keine Notwendigkeit für eine Förderung aus dem Vermittlungsbudget. Die Klägerin habe keinen Nachweis über einen entsprechenden Bedarf an Gesangs- und Korrepetitionsstunden vorgelegt, sodass es mangels neuer relevanter Tatsachen nicht erforderlich gewesen sei, den Bescheid vom 18.7.2013 aufzuheben oder abzuändern.
Das SG hat die Klage mangels eines besonderen Fortsetzungsfeststellungsinteresses als unzulässig abgewiesen (Urteil vom 19.10.2018).
Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 30.11.2021). Die Fortsetzungsfeststellungsklage sei unzulässig. Die Versagungsentscheidung habe sich durch die erneute Antragstellung bereits vor Klageerhebung erledigt. Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse bestehe nicht. Insbesondere liege keine Wiederholungsgefahr vor. Eine vergleichbare konkrete Antragssituation drohe bereits deshalb nicht mehr, weil die Notwendigkeit des Nachweises eines Vorsingens bei der ZAV grundsätzlich auch von der Klägerin eingeräumt werde, sie diese Voraussetzung jedoch durch das Vorsingen im Jahr 2011 bei ihr als erfüllt ansehe. Allerdings sei die Klägerin auch im Rahmen verschiedener PKH-Entscheidungen darauf hingewiesen worden, dass ein solcher Nachweis wegen einer sich laufend verändernden Stimme stets aktuell zu erbringen sei. Entscheidend sei aber letztlich, dass die Klägerin nicht mehr realistisch in den Beruf der Opernchorsängerin vermittelt werden könne. Ein Anspruch auf die konkret begehrte Förderung in Form von Gesangs- und Korrepetitionsstunden scheide bereits deshalb aus, weil diese Förderung allein auf die von der Klägerin begehrte Vermittlung in den von ihr erlernten Beruf der Opernchorsängerin gerichtet sei. Zur Vermittlung in eine allgemeine, der Klägerin zumutbare versicherungspflichtige Beschäftigung seien solche Maßnahmen nicht erforderlich.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin ua, dass das LSG zu Unrecht ein Prozessurteil anstelle eines Sachurteils getroffen habe. Der Beklagte habe mit dem Widerspruchsbescheid vom 18.10.2013 in der Sache über den Widerspruch entschieden und den Anspruch auf die beantragte Leistung verneint. Das SG sei unzutreffend davon ausgegangen, dass sie kein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung habe. Auch das LSG habe das Feststellungsinteresse zu Unrecht mit einer fehlenden Wiederholungsgefahr verneint und das Prozessurteil des Sozialgerichts bestätigt, ohne in der Sache zu entscheiden.
II. Die jedenfalls bezogen auf die Rüge eines Verfahrensmangels zulässige Beschwerde der Klägerin führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG.
1. Der Entscheidung liegt ein formgerecht gerügter (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) zugrunde. Der Senat ist dabei auf die Prüfung der vorgetragenen Zulassungsgründe beschränkt und darf diese auch nur prüfen, soweit der Vortrag der Beschwerdebegründung reicht (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 19 mwN).
Das LSG hätte - ausgehend von seiner materiellen Auffassung - die Klage nicht als unzulässig ansehen dürfen. Dies ist ein Verfahrensmangel, denn bei einem Prozessurteil handelt es sich im Vergleich zum Sachurteil um eine qualitativ andere Entscheidung (stRspr; siehe nur BSG vom 19.3.2020 - B 4 AS 54/20 B - juris RdNr 5 mwN; BSG vom 2.9.2021 - B 4 AS 158/21 B - juris RdNr 4 mwN). Weist das SG eine Klage als unzulässig ab und bestätigt - wie hier - das LSG die Unzulässigkeit der Klage im Berufungsverfahren, haftet der Mangel der Entscheidung des LSG selbst an (BSG vom 17.12.2019 - B 8 SO 8/19 B - juris RdNr 6 mwN; BSG vom 18.8.2022 - B 1 KR 35/22 B - juris RdNr 7; BSG vom 2.2.2023 - B 5 R 60/22 BH - juris RdNr 9).
a) Der Beurteilung, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, ist im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde, soweit hierfür erforderlich, die materiellrechtliche Auffassung des LSG zugrunde zu legen. Hierdurch wird sichergestellt, dass die begrenzten Revisionszulassungsgründe des § 160 Abs 2 SGG, die materielle Fehler der Berufungsentscheidung als solche nicht umfassen, nicht durch eine Rüge eines Verfahrensmangels umgangen werden können (vgl zu diesem Aspekt BSG vom 3.3.2022 - B 4 AS 321/21 B - juris RdNr 10 aE). Die fehlerhafte Anwendung von Regelungen des Prozessrechts unterliegt, soweit dies nicht bereichsspezifisch gesetzlich ausgeschlossen ist, hingegen der vollständigen Prüfung durch das Revisionsgericht auch im Revisionszulassungsverfahren.
Für die Frage, ob die Entscheidung durch Prozessurteil einen Verfahrensmangel darstellt, ist daher die materielle Rechtsauffassung des Berufungsgerichts maßgeblich, soweit diese hierfür ausschlaggebend war, selbst wenn diese verfehlt sein sollte (vgl BVerwG vom 20.12.2017 - 6 B 14.17 - juris RdNr 11; BVerwG vom 18.1.2022 - 6 B 21/21 - juris RdNr 10 mwN - jeweils auch zum Folgenden). Dies bedeutet zugleich, dass kein Verfahrensmangel vorliegt, wenn bei der Anwendung des Prozessrechts lediglich Vorfragen zur materiellen Rechtslage fehlerhaft beurteilt werden (BVerwG vom 20.1.2017 - 8 B 23.16 ua - juris RdNr 8).
Dies gilt auch bei einer Abweisung der Klage als unzulässig wegen der Annahme, es fehle an einem Fortsetzungsfeststellungsinteresse. Ein Verfahrensfehler liegt vor, wenn in einer Entscheidung die an das Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu stellenden Anforderungen verkannt werden (vgl BVerwG vom 20.12.2017 - 6 B 14.17 - juris RdNr 12 zum berechtigten Interesse iS von § 43 Abs 1 VwGO - auch zum Folgenden). Soweit die Beurteilung des Feststellungsinteresses durch das materielle Recht determiniert wird und die Anerkennung des Feststellungsinteresses auf der Anwendung materiellen Rechts beruht, begründet dessen fehlerhafte Anwendung dagegen keinen Verfahrensfehler.
b) Der Senat hat daher seiner Beurteilung die im materiellen Recht wurzelnde Auffassung des LSG zugrunde zu legen, dass sich der streitgegenständliche Bescheid vom 18.7.2013 durch den weiteren Leistungsantrag vom 23.7.2013 erledigt hat, unabhängig davon, ob diese Prämisse zutreffend ist. Auf dieser Grundlage tragen die prozessrechtlichen Ausführungen des LSG allerdings nicht seine Bestätigung des erstinstanzlichen Prozessurteils.
Ein "berechtigtes Interesse" iS von § 131 Abs 1 Satz 3 SGG meint jedes nach der Sachlage vernünftigerweise gerechtfertigtes Interesse, das rechtlicher, aber auch bloß wirtschaftlicher oder ideeller Art sein kann (BSG vom 12.8.2010 - B 3 KR 3/10 B - juris RdNr 10 zu § 55 Abs 1 SGG). Wiederholungsgefahr ist anzunehmen, wenn die hinreichend bestimmte (konkrete) Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung ergeht (vgl BSG vom 16.5.2007 - B 7b AS 40/06 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 4 RdNr 7 mwN).
Im vorliegenden Fall ist nach Ansicht des Senats eine Wiederholungsgefahr gegeben; sie hat sich durch den Erlass entsprechender nachfolgender Verwaltungsentscheidungen sogar schon realisiert. Dabei ist von Bedeutung, dass Gegenstand des Rechtsstreits ein Versagungsbescheid nach § 66 SGB I ist. Dem wird die Begründung des LSG, das nicht auf die Wiederholungsgefahr mit Blick auf die spezifischen Voraussetzungen des § 66 SGB I abstellt, sondern im Wesentlichen auf die Frage, ob ein materieller Anspruch der Klägerin auf die begehrte Eingliederungsleistung bestehen könnte, nicht gerecht. Nichts anderes gilt aber, wenn man aufgrund des Widerspruchsbescheids vom 18.10.2013 davon ausgeht, dass der Beklagte inzwischen eine Sachentscheidung getroffen hat. Insofern lässt sich schon aufgrund der erneuten, gleichgerichteten und erfolglosen Antragstellung der Klägerin nicht ausschließen, dass eine Sachentscheidung im vorliegenden Fall Klärung und Rechtsfrieden auch für zukünftige Verfahren herbeiführt.
c) Die Entscheidung des LSG beruht auch auf diesem Verfahrensfehler, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Sachentscheidung zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Es würde am Beruhenszusammenhang fehlen, wenn sich der Berufungsentscheidung entnehmen ließe, dass das LSG die Berufung selbst bei unterstellter Zulässigkeit der Klage zurückgewiesen hätte (BSG vom 2.2.2023 - B 5 R 60/22 BH - juris RdNr 9; vgl auch BSG vom 31.5.2017 - B 5 R 29/16 BH - RdNr 16). Daran fehlt es hier.
d) Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch. Vor diesem Hintergrund kommt es nicht darauf an, ob weitere Zulassungsgründe vorliegen, denn auch in diesem Fall müsste voraussichtlich eine Zurückverweisung erfolgen (vgl nur BSG vom 14.12.2016 - B 13 R 204/16 B - juris RdNr 18).
e) Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird das LSG allerdings zu prüfen haben, ob seine Auffassung, dass sich der Bescheid vom 18.7.2013 iS des § 131 Abs 1 Satz 3 SGG erledigt hat, zutreffend ist. Insoweit weist der Senat darauf hin, dass es im vorliegenden Fall nicht um die Ablehnung von Geldleistungen für einen bestimmen Zeitraum geht, bei der ein erneuter Antrag eine Zäsur bewirkt (vgl zu diesen Konstellationen BSG vom 22.3.2012 - B 4 AS 99/11 R - SozR 4-4200 § 12 Nr 18 RdNr 11; BSG vom 26.11.2020 - B 14 AS 13/19 R - BSGE 131, 116 = SozR 4-4200 § 44a Nr 2, RdNr 9). Anträge auf Leistungen zur Eingliederung in Arbeit und hierzu ergangene Verwaltungsakte erledigen sich jedenfalls nicht ohne Weiteres allein dadurch, dass gleichgerichtete Anträge erneut gestellt werden. Kommt das LSG zu dem Schluss, dass sich der streitgegenständliche Bescheid nicht erledigt hat, hätte es zu erwägen, ob die Klage als Anfechtungsklage (vgl zur isolierten Anfechtungsklage gegen Versagungsentscheidungen Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl 2018, § 66 RdNr 73 mwN zur Rechtsprechung) bzw - wenn man unterstellt, dass durch den Widerspruchsbescheid vom 18.10.2013 inzwischen eine Sachentscheidung erfolgt ist - als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft ist.
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2. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten. |
Söhngen |
B. Schmidt |
Burkiczak |
Fundstellen
Dokument-Index HI15758008 |