Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Nichtbescheidung eines Antrags auf Terminsverlegung vor Beginn des Termins zur mündlichen Verhandlung
Orientierungssatz
1. Prozessbevollmächtigte dürfen zwar nicht darauf vertrauen, dass das Gericht ihrer Bitte entspricht und den Termin aufhebt, solange sie keine Antwort des Vorsitzenden auf ihre Bitte um Terminsverlegung bzw Terminsaufhebung erhalten haben. Mögliche Versäumnisse der Prozessbevollmächtigten in dieser Hinsicht lassen indessen die Pflicht des LSG unberührt, einen mit einer - auch ggf unzureichenden - Begründung versehenen Antrag noch vor Beginn des Termins zur mündlichen Verhandlung durch den Vorsitzenden zu entscheiden (vgl BSG vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B = juris RdNr 8).
2. Das Verfahren leidet an einer Versagung rechtlichen Gehörs schon dann (ohne dass es auf die inhaltliche Berechtigung zur Vertagung ankommt), wenn der Vorsitzende seiner Verpflichtung zur Bescheidung eines Terminsaufhebungs- bzw Verlegungsantrags nicht nachkommt, obwohl eine Entscheidung nach den Gesamtumständen möglich gewesen wäre (vgl BSG vom 3.7.2013 - B 12 R 38/12 B, vom 13.11.2012 - B 2 U 269/12 B = UV-Recht Aktuell 2013, 119, vom 27.6.2017 - B 2 U 27/17 B und vom 10.10.2017 - B 12 KR 64/17 B).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, §§ 62, 202 S. 1; ZPO § 227 Abs. 4 S. 1; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 7. Dezember 2021 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Streitig ist in der Hauptsache im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Höhe von Bedarfen für Unterkunft und Heizung für die Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) beziehende Klägerin für die Jahre 2015 und 2016.
Ein Antrag der Klägerin auf Überprüfung bestandskräftiger Bewilligungsbescheide für den genannten Zeitraum, den sie mit tatsächlich höheren Unterkunftskosten als vom Beklagten berücksichtigt begründet hat, ist von dem Beklagten abgelehnt worden (Bescheid vom 18.1.2017; Widerspruchsbescheid vom 19.1.2018). Die hiergegen erhobene Klage hat keinen Erfolg gehabt (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Halle ≪SG≫ vom 30.9.2020; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Sachsen-Anhalt vom 7.12.2021).
Auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 7.12.2021, 14 Uhr hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 26.11.2021 unter Vorlage einer Terminsladung des Amtsgerichts (AG) S auf den 6.12.2021, 15 Uhr beantragt, den Termin vor dem LSG zu verlegen, da er wegen der Rückfahrt von S erst am späten Nachmittag des 7.12.2021 wieder vor Ort sei. Das LSG hat hierauf den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 7.12.2021, 16 Uhr verlegt (Beschluss vom 29.11.2021, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 1.12.2021 zugestellt). Am 3.12.2021 (Freitag) hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin sodann einen weiteren Antrag auf Aufhebung und Verlegung des Termins vom 7.12.2021, 16 Uhr gestellt, da er wegen der Rückreise von S am 7.12.2021 einen Tag Urlaub genommen habe. Am 7.12.2021 hat das LSG einer Kanzleiangestellten des Klägervertreters telefonisch mitgeteilt, eine Entscheidung über das Verlegungsgesuch werde erst in der mündlichen Verhandlung verkündet. Hierauf ging am 7.12.2021 um 15.13 Uhr über einen Internetfaxdienst ein Ablehnungsgesuch der Klägerin gegen Mitglieder des erkennenden LSG-Senats wegen Besorgnis der Befangenheit ein. Das LSG hat in der mündlichen Verhandlung vom 7.12.2021 entschieden, dem Verlegungsantrag nicht stattzugeben.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ua ausgeführt, nachdem einem ersten Terminverlegungsantrag des Prozessbevollmächtigten der Klägerin stattgegeben worden sei, hätte ein weiterer kurz vor der mündlichen Verhandlung gestellter Verlegungsantrag ohne ausreichende Glaubhaftmachung eines Verlegungsgrundes nicht geprüft werden können.
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Urteil und macht als Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) ua die Verletzung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫, § 62 SGG) geltend.
II. Die Beschwerde ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensmangels den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Die Beschwerde ist auch begründet.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) gewährleistet, dass die Beteiligten zum gerichtlichen Verfahren herangezogen werden und Gelegenheit erhalten, sich vor Erlass der Entscheidung zum Prozessstoff zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in der Verhandlung darzulegen (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 28.8.1991 - 7 BAr 50/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 4 S 5). Zu diesem Zweck bestimmt der Vorsitzende Zeit und Ort der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten (in der Regel zwei Wochen vorher) mit (§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG). Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt wird, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG), also dem Anspruch auf rechtliches Gehör genügt wird (vgl BSG vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 57).
Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs umfasst auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten oder Vertagung eines bereits begonnenen Termins zur mündlichen Verhandlung, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist. Die erheblichen Gründe sind auf Verlangen des Vorsitzenden, für eine Vertagung auf Verlangen des Gerichts, glaubhaft zu machen. Über einen Aufhebungs- oder Verlegungsantrag hat der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 4 Satz 1 Halbsatz 1 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫). Prozessbevollmächtigte dürfen zwar nicht darauf vertrauen, dass das Gericht ihrer Bitte entspricht und den Termin aufhebt, solange sie keine Antwort des Vorsitzenden auf ihre Bitte um Terminsverlegung bzw Terminsaufhebung erhalten haben. Mögliche Versäumnisse der Prozessbevollmächtigten in dieser Hinsicht lassen indessen die Pflicht des LSG unberührt, einen mit einer - auch ggf unzureichenden - Begründung versehenen Antrag noch vor Beginn des Termins zur mündlichen Verhandlung durch den Vorsitzenden zu entscheiden. Dies ist im vorliegenden Fall nicht geschehen. Dass der Vorsitzende den vom Prozessbevollmächtigten geltend gemachten Grund nicht als erheblich oder nicht als hinreichend substantiiert oder nicht glaubhaft gemacht angesehen hat, hat dessen Pflicht unberührt gelassen, über den Aufhebungs- und Verlegungsantrag noch vor Beginn der mündlichen Verhandlung wirksam zu entscheiden (vgl BSG vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - RdNr 8; BSG vom 25.2.2010 - B 11 AL 113/09 B - RdNr 9; BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 269/12 B - RdNr 10 ff). In der Rechtsprechung des BSG ist auch geklärt, dass die ohne mündliche Verhandlung ergehende Entscheidung über einen Verlegungsantrag den Beteiligten formlos zur Kenntnis gegeben werden kann (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 329 Abs 2 Satz 1 ZPO; vgl BSG vom 12.9.2019 - B 9 V 53/18 B - RdNr 14; BSG vom 7.4.2022 - B 5 R 210/21 B - RdNr 6).
Das Verfahren leidet an einer Versagung rechtlichen Gehörs schon dann (ohne dass es auf die inhaltliche Berechtigung zur Vertagung ankommt), wenn der Vorsitzende seiner Verpflichtung zur Bescheidung eines Terminsaufhebungs- bzw Verlegungsantrags nicht nachkommt, obwohl eine Entscheidung nach den Gesamtumständen möglich gewesen wäre (vgl BSG vom 3.7.2013 - B 12 R 38/12 B; BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 269/12 B; BSG vom 27.6.2017 - B 2 U 27/17 B; BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 64/17 B).
Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet ist (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 ZPO), ist wegen der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung für das Gerichtsverfahren im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dadurch, dass ein Verfahrensbeteiligter an deren Teilnahme gehindert worden ist, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (stRspr; vgl etwa BSG vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - RdNr 10 mwN; BSG vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - SozR 4-1750 § 227 Nr 1 RdNr 7; BSG vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62). Eine Angabe, welches Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden ist, bedarf es deshalb nicht.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das erkennende Gericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Bieresborn Scholz Luik
Fundstellen
Dokument-Index HI15515976 |