Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. wesentliche Änderung der Prozesslage. Verlust der Wirksamkeit der Einverständniserklärung
Orientierungssatz
1. Nach allgemeiner Auffassung verliert die Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG ihre Wirksamkeit, wenn sich die Prozesslage wesentlich ändert. Das ist der Fall, wenn die Tatsachen- oder die Rechtsgrundlage eine andere wird, zB wenn Zeugen vernommen oder Auskünfte eingeholt werden.
2. Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 SGG der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, muss das Gericht im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das Bestehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 SGG prüfen.
3. Die Beteiligten sind daher bei Eintritt einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht gehalten, das Gericht darauf hinzuweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem Gericht gegenüber ausdrücklich zu widerrufen.
Normenkette
SGG § 124 Abs. 2, 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5
Verfahrensgang
SG Leipzig (Gerichtsbescheid vom 13.11.2007; Aktenzeichen S 2 SB 355/05) |
Sächsisches LSG (Urteil vom 07.07.2010; Aktenzeichen L 6 SB 52/07) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 7. Juli 2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG".
Mit Bescheid vom 22.6.1994 stellte das Amt für Familie und Soziales L. fest, dass bei der 1955 geborenen Klägerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 besteht und die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" vorliegen. Einen Antrag der Klägerin auf Feststellung eines GdB von 100 und der Voraussetzungen der Merkzeichen "H" und "RF" lehnte das Amt durch Bescheid vom 6.5.1998 ab. Die dagegen gerichtete Klage und die Berufung der Klägerin waren ohne Erfolg (abschließendes Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 2.7.2003 - L 1 SB 67/00 -).
Im August 2004 beantragte die Klägerin die Erhöhung des GdB auf 100 sowie die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens "aG". Diesen Antrag lehnte das Amt für Familie und Soziales L. mit Bescheid vom 31.5.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Sächsischen Landesamtes für Familie und Soziales vom 15.11.2005 ab, weil eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gegenüber 1994 nicht vorliege.
Nach Beiziehung verschiedener ärztlicher Unterlagen und Anhörung der Beteiligten hat das von der Klägerin angerufene Sozialgericht Leipzig (SG) die Klage durch Gerichtsbescheid vom 13.11.2007 abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG weitere ärztliche Befundberichte sowie von Amts wegen ein orthopädisches Gutachten des Sachverständigen Dr. E. vom 19.11.2008 und auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG ein orthopädisches Gutachten der Sachverständigen Dr. B. vom 28.8.2009 - jeweils mit einer ergänzenden Stellungnahme - eingeholt.
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In der mündlichen Verhandlung am 17.2.2010 hat die Klägerin neben ihrem Sachantrag "vorsorglich" beantragt, ihre Tochter, Frau C., zu hören zu ihrer Benutzung von zwei Unterarmgehstützen außerhalb des Hauses und auch zu ihrem Laufverhalten innerhalb der Wohnung. Das LSG hat nach Beratung über die Berufung folgende Erklärung zu Protokoll gegeben: |
"Das Gericht weist nach Wiedereintritt in die Verhandlung um 11:05 Uhr die Beteiligten darauf hin, dass sämtliche Gutachter bestätigt haben, dass die Klägerin sich nur unter Schmerzen erheblicher Art vom ersten Schritt außerhalb Kraftfahrzeuges fortbewegen kann. Sie nimmt seit Jahren Schmerzmedikamente ein, auch Opium. Die Chronifizierung des Schmerzes hat sich auch im Laufe der Jahre verschlechtert und es sind neue Schmerzen hinzugekommen durch das Gehverhalten der Klägerin bedingt, so im Ellenbogenbereich, im Handgelenkbereich und im Schultergelenkbereich, so dass nach der Begutachtung von Frau Dr. B. und des beschriebenen Gehverhaltens der Klägerin wohl davon auszugehen ist, dass spätestens ab Begutachtung von Frau Dr. B. von einer Fortbewegung der Klägerin unter ständigen Schmerzen außerhalb des Kraftfahrzeuges mit zwei Gehhilfen auszugehen ist." |
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Sodann haben sich die Beteiligten dazu bereit erklärt, nachfolgenden Vergleich zu Beendigung des Rechtsstreites zu schließen: |
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1. |
Der Beklagte erkennt an, dass bei der Klägerin ab 17.02.2010 die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG" vorliegen. |
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2. |
Die Beteiligten erklären im Übrigen übereinstimmend das Berufungsverfahren für erledigt. |
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3. |
Der Beklagte übernimmt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. |
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4. |
Der Beklagte behält sich den Widerruf des Vergleiches bis zum 17.03.2010 vor. |
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Ferner haben die Beteiligten für den Fall, dass der Vergleich widerrufen wird, einen Verzicht auf weitere mündliche Verhandlung erklärt.
Nach fristgerechtem Widerruf des Vergleichs durch den beklagten Landkreis hat das LSG die Sachverständige Dr. B. als behandelnde Ärztin der Klägerin ergänzend befragt. Diese hat sich unter dem 3.6.2010 dahin geäußert, dass die Schmerzmittelmedikation seit dem 28.8.2009 nicht geändert worden sei, die Klägerin beim Gehen Schmerzen im Bereich der Extremitäten verspüre (Hinweis auf das Gutachten zu Punkt 5) und dieser Zustand seit mindestens eineinhalb Jahren bestehe.
Durch Urteil vom 7.7.2010 hat das LSG ohne mündliche Verhandlung die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Nach Darstellung der rechtlichen Grundlagen sowie der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Merkzeichen "aG" hat das LSG unter Zugrundelegung der Beurteilung des Sachverständigen Dr. E. die Auffassung vertreten, dass eine Gleichstellung der Klägerin mit den in der einschlägigen Verwaltungsvorschrift aufgelisteten Personengruppen (Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartrikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind) nicht vorgenommen werden könne. Zwar habe die Sachverständige Dr. B. ähnliche Befunde wie Dr. E. erhoben. Ihrer Einschätzung der Gehfähigkeit der Klägerin sei indes nicht zu folgen.
Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin die Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Ihr Beweisantrag auf Vernehmung der Tochter sei nicht berücksichtigt worden. Darin liege auch eine Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG. Nach den in der mündlichen Verhandlung am 17.2.2010 gegebenen Hinweisen habe das LSG mit seinem Urteil ebenfalls das aus dem Rechtsstaatsgebot folgende Verbot widersprüchlichen Verhaltens verletzt. Zudem stelle die Entscheidung des LSG eine unzulässige Überraschungsentscheidung dar. Für den Verzicht der Klägerseite auf eine mündliche Verhandlung sei damit zugleich die Geschäftsgrundlage weggefallen. Eine weitere mündliche Verhandlung sei zwingend erforderlich gewesen.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet.
Der von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des § 124 Abs 2 SGG (Urteil ohne mündliche Verhandlung) liegt vor. Er führt gemäß § 160a Abs 5 SGG zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Ob die behauptete Verletzung des § 62 SGG (rechtliches Gehör) vorliegt, kann offenbleiben. Zudem muss nicht entschieden werden, ob das LSG in gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG relevanter Weise gegen § 103 SGG (Sachaufklärungspflicht) verstoßen hat. Denn die Klägerin macht jedenfalls mit Recht geltend, dass angesichts des Verfahrensganges eine "weitere mündliche Verhandlung" erforderlich gewesen sei und dass für ihre "Verzichtserklärung" betreffend eine weitere mündliche Verhandlung die Geschäftsgrundlage weggefallen sei. Sie hat damit sinngemäß eine Verletzung des § 124 Abs 2 SGG gerügt, die auch vorliegt. Das LSG hätte nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, weil der von den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 17.2.2010 erklärte "Verzicht auf weitere mündliche Verhandlung" im Hinblick auf den weiteren Gang des Verfahrens nicht mehr tragfähige Grundlage für eine Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gewesen ist.
Nach allgemeiner Auffassung verliert die Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG ihre Wirksamkeit, wenn sich die Prozesslage wesentlich ändert (s nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 124 RdNr 3d mwN). Das ist der Fall, wenn die Tatsachen- oder die Rechtsgrundlage eine andere wird, zB wenn Zeugen vernommen oder Auskünfte eingeholt werden (Keller, aaO, RdNr 3e mwN). Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 SGG der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, muss das Gericht im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das Bestehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 SGG prüfen. Die Beteiligten sind daher bei Eintritt einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht gehalten, das Gericht darauf hinzuweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem Gericht gegenüber ausdrücklich zu widerrufen (vgl § 128 Abs 2 Satz 1 ZPO, der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren trotz der dort in § 101 VwGO mit § 124 SGG wortlautgleichen Vorschrift für anwendbar gehalten wird; s Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 101 RdNr 8).
Das am 17.2.2010 sinngemäß erklärte Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) ist hier im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am 7.7.2010 nicht mehr wirksam gewesen, weil sich die Prozesslage jedenfalls dadurch wesentlich geändert hatte, dass das LSG nach dem Widerruf des Vergleichs durch den Beklagten eine weitere Beweiserhebung durchgeführt hat. Es hat nämlich eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen Dr. B. vom 3.6.2010 eingeholt und bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigt.
Auf dieser Verletzung des § 124 Abs 2 SGG kann das angefochtene Urteil beruhen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), denn es ist nicht auszuschließen, dass das LSG bei prozessordnungsgerechter Sachbehandlung zu einer anderen, der Klägerin günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Insbesondere hätte die Klägerin in einer weiteren mündlichen Verhandlung ua auch die Möglichkeit gehabt, ihren Beweisantrag zu wiederholen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen