Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Abweichung. Rechtssache. Grundsätzliche Bedeutung. Verfahrensfehler. Auffällige Patientenidentität. Formenmissbrauch. Missbrauch der Rechtsform der Praxisgemeinschaft. Honorar. Schätzung. Überraschungsentscheidung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Es entzieht sich einer generellen Festlegung, ob bei einer nur in geringem Maße auffälligen Patientenidentität und plausiblen Erklärungen dafür die Feststellung eines Formenmissbrauchs das Vorliegen weiterer Anhaltspunkte erfordert.

2. Lediglich bei einem Vom-Hundert-Satz gemeinsam behandelter Patienten von über 50 % in einem Quartal ist im Regelfall „ohne Weiteres” ein Missbrauch der Rechtsform der Praxisgemeinschaft anzunehmen.

3. Die Kassenärztliche Vereinigung ist berechtigt, das verbleibende Honorar im Wege der Schätzung zu ermitteln; dieser Schätzung muss nicht zwingend ein Vergleich mit einer hypothetischen Gemeinschaftspraxis zugrunde liegen.

4. Die Verpflichtung zur vollständigen Erstattung des zu Unrecht Erlangten besteht selbst dann, wenn bei Wahl der rechtmäßigen Gestaltungsform der Honoraranspruch ebenso hoch gewesen wäre.

5. Eine Divergenz liegt nicht schon vor, wenn das LSG einen Rechtssatz aus einer oberstgerichtlichen Entscheidung nicht beachtet oder unrichtig angewandt hat, sondern erst dann, wenn es diesem Rechtssatz widersprochen, also einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat; nicht die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall, sondern nur die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung einer Revision wegen Divergenz.

6. Eine Überraschungsentscheidung setzt voraus, dass das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht.

 

Normenkette

SGG §§ 62, 103, 109, 128 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 160 Abs. 2, § 160a Abs. 2 S. 3; SGB V § 106b Abs. 2a; GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

SG Mainz (Entscheidung vom 01.02.2017; Aktenzeichen S 8 KA 207/14)

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 04.11.2021; Aktenzeichen L 5 KA 5/17)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. November 2021 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 110 468,47 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I. Im Streit steht die Rechtmäßigkeit von Honorarrückforderungen für die Quartale 2/2009 bis 1/2013 wegen missbräuchlicher Nutzung der Kooperationsform der Praxisgemeinschaft.

Die Klägerin, eine Fachärztin für Innere Medizin, nimmt an der hausärztlichen Versorgung im Bereich der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) teil. Im streitgegenständlichen Zeitraum bildete sie eine - bereits langjährig bestehende - Praxisgemeinschaft mit dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. Z, der ebenfalls an der hausärztlichen Versorgung teilnahm.

Im Rahmen eines Plausibilitätsverfahrens im Jahr 2005 stellte die Beklagte fest, dass in den Praxen der Klägerin und des Dr. Z eine große Anzahl gleicher Patienten bestand und führte weitere Ermittlungen durch. Mit Schreiben vom 18.2.2009 informierte sie die Staatsanwaltschaft, die im November 2009 eine Durchsuchung der Praxisräume durchführte, eine Praxismitarbeiterin als Zeugin vernahm sowie ein Gutachten vom 28.5.2010 bei einer Sachverständigen für Abrechnungen im Gesundheitswesen einholte. Das nachfolgende Strafverfahren war zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das LSG noch nicht abgeschlossen.

Aus den Abrechnungen für die Quartale 2/2009 bis 1/2013 ergaben sich gemeinsame Patienten im Umfang von 362 (Quartal 2/2010) bis 618 (Quartal 2/2009) Personen; die Anteile von gemeinsamen Patienten an den Fallzahlen der Klägerin beliefen sich auf zwischen 38,55 % (Quartal 2/2010) und 66,31 % (Quartal 2/2009). Der Anteil überstieg in der Mehrzahl der Quartale 50 %, lediglich in sechs der sechzehn Quartale lag er darunter (3/2009 39,17 %, 2/2010 38,55 %, 2/2011 47,39 %, 3/2011 48,67 %, 1/2012 47,59 % und 1/2013 48,25 %). Das Honorar der Klägerin betrug in diesem Zeitraum zwischen 34 817,71 Euro (Quartal 4/2010) und 42 949,43 Euro (Quartal 3/2009).

Die Beklagte hob die Honorarbescheide für die Quartale 2/2004 bis 1/2013 auf und forderte 261 981,90 Euro zurück (Bescheid vom 16.10.2013). Die Partner der Praxisgemeinschaft hätten die Patienten zu einem hohen Anteil gemeinschaftlich behandelt und sich damit der Organisationsform der Praxisgemeinschaft missbräuchlich bedient. Es seien treuwidrig und planmäßig Fallzahlsteigerungen bewirkt worden. Tatsächlich sei eine Gemeinschaftspraxis betrieben worden. Zur Berechnung des Regresses hatte die Beklagte die Doppelfälle der einschlägigen Quartale hälftig auf die Klägerin und Dr. Z aufgeteilt, mit dem Fallwert der Klägerin multipliziert und einen Sicherheitsabschlag von 30 % vorgenommen.

Ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz sowie der Widerspruch der Klägerin blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 18.8.2014). Auf die hiergegen erhobene Klage, mit der die Klägerin ua geltend gemacht hat, die Beklagte habe bei der Berechnung der Patientenidentität berechtigte Solitär-, Vertretungs- und Überweisungsfälle nicht herausgerechnet, hat das SG den angegriffenen Bescheid aufgehoben, soweit er die Quartale 2/2004 bis 1/2009 betrifft, und diesen im Übrigen dahingehend geändert, dass eine Regressfestsetzung nur insoweit erfolge, als bei allen Patienten, die im jeweiligen Quartal gemeinsam durch die Klägerin und Dr. Z behandelt worden seien, die Ordinationsgebühr und die hausärztliche Grundvergütung gestrichen würden (Urteil vom 1.2.2017).

Das LSG hat auf die (auf den Zeitraum ab dem Quartal 2/2009 beschränkte) Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben, soweit es den Regressbescheid betreffend die Quartale 2/2004 bis 1/2009 geändert hat. Im Übrigen hat es die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 4.11.2021). Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt, das Aufgreifkriterium von 20 % Patientenidentität sei in allen Quartalen erreicht. Jedenfalls bei einer 50 % übersteigenden Quote identischer Patienten sei ein Missbrauch der Rechtsform ohne Weiteres anzunehmen (Hinweis auf BSG Beschluss vom 6.2.2013 - B 6 KA 43/12 B - juris; BSG Beschluss vom 2.7.2014 - B 6 KA 2/14 B - juris). Dies treffe auf zehn der streitgegenständlichen Quartale zu. Es könne dahinstehen, ob dies auch für die anderen sechs Quartale gelte, da der Durchschnitt für alle sechzehn Quartale ebenfalls über 50 % liege. Denn es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin und Dr. Z in den betreffenden Quartalen im Vergleich zu der Mehrzahl der davor und dazwischen liegenden Quartale mit Anteilen von über 50 % relevante Änderungen in ihren langjährigen Praxisabläufen vorgenommen hätten, zumal die Anteile in vier der sechs Quartale nur knapp unter 50 % lägen. Insofern sei der Schluss gerechtfertigt, dass auch in den Quartalen 3/2009, 2/2010, 2/2011, 3/2011, 1/2012 und 1/2013 tatsächlich ein gemeinsamer Patientenstamm bestanden habe, der in gemeinschaftlicher Ausübung der Praxis behandelt worden sei.

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG macht die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Rechtsprechungsabweichungen sowie Verfahrensmängel (Zulassungsgründe gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG) geltend.

II. Die Beschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg.

1. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG liegen nicht vor. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 29.11.2006 - B 6 KA 23/06 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 mwN; BSG Beschluss vom 28.10.2015 - B 6 KA 12/15 B - SozR 4-2500 § 116 Nr 11 RdNr 5; BSG Beschluss vom 15.10.2020 - B 6 KA 16/20 B - juris RdNr 8). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, wenn die aufgeworfene Frage bereits geklärt ist oder wenn sich die Antwort ohne Weiteres aus den Rechtsvorschriften oder aus schon vorliegender Rechtsprechung klar beantworten lässt (BSG Beschluss vom 11.10.2017 - B 6 KA 29/17 B - juris RdNr 4). Klärungsfähigkeit ist nicht gegeben, wenn die aufgeworfene Rechtsfrage nicht im Revisionsverfahren zur Entscheidung anstünde oder wenn die Bedeutung über den Einzelfall hinaus fehlt, weil eine weitergehende Bedeutung der Rechtsfrage für weitere Fälle nicht erkennbar ist oder die Rechtsfrage aufgrund besonderer Gestaltung des Rechtsstreits einer verallgemeinerungsfähigen Beantwortung nicht zugänglich ist (vgl zB BSG Beschluss vom 13.2.2019 - B 6 KA 17/18 B - juris RdNr 7).

Die Klägerin sieht zunächst die folgende Rechtsfrage als grundsätzlich klärungsbedürftig an:

a)

"Lässt sich die ohne weitere Anhaltspunkte getroffene Feststellung eines Gestaltungsmissbrauchs der Rechtsform einer Praxisgemeinschaft für Quartale mit festgestellten Quoten identischer Patienten von über 50 % bzw. bei einer über mehrere Quartale hinweg ermittelten durchschnittlichen Quote identischer Patienten von mehr als 50 % allein mit der Begründung auf Quartale mit einer Quote identischer Patienten unterhalb von 50 % (vorliegend zw. 33,55% und 48,67%) übertragen, es lägen keine Anhaltspunkte für eine Änderung der Praxisabläufe in diesen Quartalen vor."

Die Antwort auf diese Frage ist schon nicht verallgemeinerungsfähig. Es ist nicht zu erwarten, dass die von der Klägerin begehrte Entscheidung geeignet ist, in künftigen Revisionsverfahren die Rechtseinheit zu erhalten oder zu sichern oder die Fortbildung des Rechts zu fördern (zu dieser Anforderung vgl BSG Beschluss vom 26.6.1975 - 12 BJ 12/75 - SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).

Der Senat ist in seiner Rechtsprechung stets von einer hohen Quote der gemeinsamen Behandlung von Patienten ausgegangen, die grundsätzlich die Annahme eines Rechtsformmissbrauchs trägt. Weitere Umstände, die auf einen Missbrauch hindeuten, hat der Senat mehrfach angesprochen (BSG Beschlüsse vom 5.11.2008 - B 6 KA 17/07 B - juris RdNr 12 und vom 8.12.2010 - B 6 KA 46/10 B - juris RdNr 15), aber nicht gefordert, dass neben einer auffälligen Patientenidentität stets zusätzliche Sachverhalte eines Formenmissbrauchs gegeben sein müssen. Vielmehr hat er betont, dass es sich einer generellen Festlegung entzieht, ob bei einer nur in geringem Maße auffälligen Patientenidentität und plausiblen Erklärungen dafür die Feststellung eines Formenmissbrauchs das Vorliegen weiterer Anhaltspunkte erfordert (BSG Beschluss vom 2.7.2014 - B 6 KA 2/14 B - juris RdNr 9; vgl auch BSG Beschluss vom 5.11.2008 - B 6 KA 17/07 B - juris RdNr 10). Lediglich bei einem Vom-Hundert-Satz gemeinsam behandelter Patienten von über 50 % in einem Quartal ist - wovon auch das LSG zu Recht ausgeht - nach der Senatsrechtsprechung im Regelfall "ohne Weiteres" ein Missbrauch der Rechtsform der Praxisgemeinschaft anzunehmen (BSG Urteil vom 22.3.2006 - B 6 KA 76/04 R - BSGE 96, 99 = SozR 4-5520 § 33 Nr 6, RdNr 20; BSG Beschluss vom 6.2.2013 - B 6 KA 43/12 B - juris RdNr 8).

Die angesprochene fehlende Verallgemeinerungsfähigkeit gilt in besonderem Maß auch für die hier von der Klägerin als klärungsbedürftig angesehene Frage, ob bei einer über mehrere Quartale hinweg ermittelten durchschnittlichen Quote identischer Patienten von mehr als 50 % für einzelne Quartale mit einer Quote unter 50 % ohne Weiteres von unveränderten Praxisabläufen ausgegangen werden kann. Denn für die Antwort hierauf kommt es wesentlich auf die Umstände des Einzelfalls an, etwa die Gesamtdauer des betrachteten Zeitraums sowie darauf, ob die Quote von 50 % - wie hier - lediglich in einzelnen Quartalen unterschritten, in nachfolgenden aber wieder - zum Teil deutlich - übertroffen wird. Lässt die Verteilung der unterdurchschnittlichen Quartale im Zeitablauf nur einzelne Ausreißer, nicht aber eine Entwicklung hin zu einer geringeren Patientenidentität erkennen, kann dies für eine zufällige Verschiebung innerhalb der Quartale sprechen, nicht aber für geänderte Praxisabläufe. Damit hängt die Antwort auf die Frage der Klägerin jedoch von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer verallgemeinerungsfähigen Aussage.

Die von der Klägerin ferner gestellte Frage

b)

"Ist es im Rahmen einer sachlich-rechnerischen Berichtigung wegen Annahme eines Gestaltungsmissbrauchs der Rechtsform einer Praxisgemeinschaft nicht notwendig, die Honorarkürzungen auf diejenigen Leistungen und Fälle zu beschränken, welche in der Rechtsform einer Berufsausübungsgemeinschaft nicht abrechenbar gewesen wären?"

ist nicht klärungsbedürftig, da sie der Senat bereits beantwortet hat. Die Klägerin verweist insofern selbst auf den - auch vom LSG herangezogenen - Senatsbeschluss vom 17.2.2016 (B 6 KA 50/15 B), wonach der Senat die KÄV als berechtigt ansieht, das verbleibende Honorar im Wege der Schätzung zu ermitteln und dieser Schätzung nicht zwingend einen Vergleich mit einer hypothetischen Gemeinschaftspraxis zugrunde liegen muss (aaO juris RdNr 7 unter Hinweis auf BSG Urteil vom 23.6.2010 - B 6 KA 7/09 R - BSGE 106, 222 = SozR 4-5520 § 32 Nr 4, RdNr 66 f). Soweit die Klägerin eine Neubewertung dieser Rechtsprechung begehrt, genügen ihre Darlegungen nicht den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG.

Eine Rechtsfrage, über die bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, kann wieder klärungsbedürftig werden, wenn der Rechtsprechung in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden, was im Rahmen der Beschwerdebegründung ebenfalls darzulegen ist (vgl zB BSG Beschluss vom 19.7.2012 - B 1 KR 65/11 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 32; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - juris RdNr 7; vgl auch BSG Beschluss vom 14.5.2014 - B 6 KA 67/13 B - juris RdNr 10). Erneute Klärungsbedürftigkeit ist darüber hinaus auch gegeben, wenn neue erhebliche Gesichtspunkte gegen die bisherige Rechtsprechung vorgebracht werden, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden Betrachtung der aufgeworfenen Fragestellung führen können und die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung nicht offensichtlich ausschließen (vgl BSG vom 30.9.1992 - 11 BAr 47/92 - SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2; BSG vom 11.2.2020 - B 10 EG 14/19 B - juris RdNr 6, jeweils mwN). Diesen Anforderungen entspricht die Beschwerdebegründung nicht. Weder zeigt die Klägerin auf, dass der Rechtsprechung des BSG in nicht geringfügigem Umfang widersprochen worden wäre, noch bringt sie hiergegen neue erhebliche Gesichtspunkte vor.

Die Klägerin verweist in ihrer Beschwerdebegründung darauf, dass es "aufgrund Entwicklungen in der Gesetzgebung und der technischen Möglichkeiten" einer Neubewertung bedürfe. Einer Schätzung bedürfe es "aufgrund der fortschreitenden Entwicklung der EDV und deren Möglichkeiten … nicht mehr. Angesichts der Kennzeichnung von Originalscheinen, Vertretungen und Überweisungen, der eindeutigen Patientenidentifikation und der durch die lebenslangen Arztnummern eindeutigen Zuordnung des Behandlers" könne "ein unverhältnismäßiger Aufwand zur exakten Ermittlung der Folgen eines unterstellten Formenmissbrauchs nicht mehr angenommen werden." Abrechnungsscheine müssten insbesondere nicht mehr persönlich gesichtet werden, sondern könnten durch eine entsprechende Prüfungssoftware geprüft werden (S 12 der Beschwerdebegründung). Diese Ausführungen stützen eine Neubeurteilung nicht. Die Klägerin verkennt, dass bei einem Missbrauch der Gestaltungsform "Praxisgemeinschaft" nicht allein die für Gemeinschaftspraxen bzw Berufsausübungsgemeinschaften geltenden Regelungen umgangen werden, sondern mit ihm oftmals auch eine nicht medizinisch begründete Fallzahlvermehrung einhergeht. Die Verpflichtung zur vollständigen Erstattung des zu Unrecht Erlangten besteht selbst dann, wenn bei Wahl der rechtmäßigen Gestaltungsform der Honoraranspruch ebenso hoch gewesen wäre (BSG Beschluss vom 17.2.2016 - B 6 KA 50/15 B - juris RdNr 7). Es ist nicht ersichtlich, wie die von der Klägerin behaupteten fortentwickelten EDV-Möglichkeiten eine bessere Beurteilung einer solchen Fallzahlvermehrung erlauben könnten, da dies grundsätzlich über die Identifikation der Patienten und der Zuordnung zum Behandler hinaus die Überprüfung des einzelnen Behandlungsfalles auf seine medizinische Notwendigkeit erfordern würde.

Soweit die Klägerin im Übrigen auf eine seit dem 1.1.2017 erweiterte Transparenz der vertragsärztlichen Leistungsabrechnung verweist (S 12 f der Beschwerdebegründung), ist nicht ersichtlich, welche Relevanz dies für den hier streitgegenständlichen, die Quartale bis 1/2013 umfassenden Regress haben könnte. Dass die von der Klägerin außerdem angesprochene Pflicht zur Beratung im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung oder die in § 106b Abs 2a SGB V (idF des Terminservice- und Versorgungsgesetzes ≪TSVG≫ vom 6.5.2019, BGBl I 646) nunmehr geregelte Beschränkung der Höhe von Nachforderungen wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise auf die Differenz der Kosten zwischen der tatsächlich ärztlich verordneten und der wirtschaftlichen Leistung, eine Neubewertung erforderlich machen könnten, ist fernliegend. Im Übrigen beschränken sich die Darlegungen der Klägerin im Wesentlichen auf ihren konkreten Fall und sind ebenfalls nicht geeignet, eine erneute Klärungsbedürftigkeit zu belegen.

2. Auch der Zulassungsgrund einer Rechtsprechungsabweichung (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) ist, soweit er hinreichend dargelegt wurde, nicht erfüllt. Hierfür ist erforderlich, dass das LSG seiner Entscheidung tragend einen Rechtssatz zugrunde gelegt hat, der einem Rechtssatz in einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG widerspricht. Eine Divergenz im Sinne der genannten Vorschrift liegt nicht schon vor, wenn das LSG einen Rechtssatz aus einer oberstgerichtlichen Entscheidung nicht beachtet oder unrichtig angewandt hat, sondern erst dann, wenn es diesem Rechtssatz widersprochen, also einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat. Nicht die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall, sondern nur die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung einer Revision wegen Divergenz (stRspr; vgl BSG Beschluss vom 29.11.2017 - B 6 KA 43/17 B - juris RdNr 13 mwN).

Nach diesen Maßstäben kann keine der von der Klägerin geltend gemachten Divergenzen zu einer Revisionszulassung führen.

Die Klägerin entnimmt dem LSG-Urteil die tragenden Rechtssätze

"dass bei Überschneidungsquoten von mehr als 50 % in einigen Quartalen bzw. im Schnitt aller Quartale der danach festzustellende Formenmissbrauch ohne weitere Prüfung auch auf Quartale mit einer Quote von unter 50 % übertragen werden kann."

bzw

"dass es zur Verneinung eines Formenmissbrauchs besonderer Anhaltspunkte für geänderte Praxisabläufe in den Quartalen mit geringeren Quoten gegenüber solchen mit Überschneidungsquoten von mehr als 50 % bedürfe und Überschneidungsquoten von deutlich über 20 % bis knapp unter 50 % ohne solche Anhaltspunkte die gemeinschaftliche Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bedingen." (S 14 der Beschwerdebegründung).

Solche Rechtssätze hat das LSG jedoch schon nicht aufgestellt. Vielmehr hat es lediglich im Rahmen seiner Beweiswürdigung ausgeführt, es gebe "keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin und Dr. Z. in den Quartalen 3/2009, 2/2010, 2/2011, 3/2011, 1/2012 und 1/2013 im Vergleich zu der Mehrzahl der davor und dazwischen liegenden Quartale mit Anteilen von über 50 % relevante Änderungen in ihren langjährigen Praxisabläufen vorgenommen hatten" (Urteilsumdruck S 27). Dem lässt sich gerade nicht entnehmen, dass das LSG den Rechtssatz aufstellen wollte, dass ein in bestimmten Quartalen wegen Überschreitens der 50 %-Quote festgestellter Formenmissbrauch "ohne weitere Prüfung" auf andere Quartale übertragen werden könnte. Ebenso wenig kann der Würdigung des LSG, dass im konkreten Fall keine Anhaltspunkte für geänderte Praxisabläufe bestehen, der Rechtssatz entnommen werden, dass es stets "besonderer Anhaltspunkte für geänderte Praxisabläufe" bedürfte, um einen Formenmissbrauch in Quartalen mit "Überschneidungsquoten von deutlich über 20 % bis knapp unter 50 %" zu verneinen. Ein solcher Umkehrschluss ist nicht zulässig.

3. Die von der Klägerin geltend gemachten Verfahrensfehler liegen, soweit die Beschwerdebegründung den Darlegungsanforderungen entspricht, nicht vor.

Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die den Verfahrensfehler (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Die Klägerin rügt einen Verstoß gegen das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren und ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 128 Abs 2 SGG, § 62 SGG). Das LSG habe keine Feststellungen zu den Praxisabläufen getroffen und diese auch nie einer Prüfung unterzogen, da es dies nicht für erforderlich hielt. Da es den gesamten klägerischen Vortrag zu den Praxisabläufen "im streitigen Sachverhalt" darstelle, müsse davon ausgegangen werden, "dass es diesen Vortrag seiner Feststellung zu den Praxisabläufen nicht zugrunde gelegt" und somit den Vortrag übergangen habe. Auch habe das LSG ihr keine Möglichkeit gegeben, die Praxisabläufe in den verschiedenen Quartalen im Sinne der Rechtsansicht des LSG, es bedürfe zur Verneinung eines Formenmissbrauchs geänderter Abläufe, darzustellen. Insoweit sei auch kein Hinweis des LSG erfolgt.

Eine Gehörsverletzung, auf der das Urteil des LSG beruhen könnte, ergibt sich hieraus nicht. Die Klägerin trägt selbst vor, dass das LSG die Frage, wie die Abläufe in der Praxis der Klägerin organisiert waren (allgemeine Praxisorganisation ≪EDV, Terminvorgabe etc≫, Organisation der Vertretung, Überweisungspraxis) im Hinblick auf eine 50 % übersteigende Quote identischer Patienten für nicht erheblich hielt (Urteilsumdruck S 26). Zudem hat das LSG den Vortrag der Klägerin zu den Praxisabläufen ersichtlich zur Kenntnis genommen, da es diesen - wie auch die Klägerin einräumt - in den Tatbestand aufgenommen hat. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht nicht, jedes Vorbringen der Beteiligten ausdrücklich zu bescheiden oder gar der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (vgl etwa BSG Beschluss vom 14.7.2021 - B 6 KA 42/20 B - juris RdNr 11 mwN).

Auch soweit die Klägerin eine Überraschungsentscheidung rügt, da das LSG sie nicht darauf hingewiesen habe, dass es nach seiner Rechtsauffassung auf eine eventuelle Änderung der Praxisabläufe ankomme, liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht vor. Eine Überraschungsentscheidung setzt voraus, dass das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (BSG Urteil vom 17.2.2016 - B 6 KA 6/15 R - BSGE 120, 254 = SozR 4-2500 § 119 Nr 2, RdNr 24 mwN). Die Organisation der Praxis durch die Klägerin war von Anfang an Gegenstand des Austauschs der Beteiligten, wie sich ua aus dem vom LSG wiedergegebenen Vortrag der Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren ergibt (Urteilsumdruck S 9 f). Es liegt auf der Hand, dass dies auch eventuelle Änderungen in den Praxisabläufen während der streitgegenständlichen Quartale umfasst. Darüber hinaus hat die Klägerin in ihrer Beschwerdebegründung nicht angegeben, welcher konkrete Vortrag ihr durch die Vorgehensweise des LSG abgeschnitten worden sei, dh welche Praxisabläufe sich im streitigen Zeitraum geändert hätten.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm §§ 154 ff VwGO. Danach hat die Klägerin die Kosten des von ihr ohne Erfolg durchgeführten Rechtsmittels zu tragen (§ 154 Abs 2 VwGO).

5. Die Festsetzung des Streitwerts entspricht der von den Beteiligten nicht angegriffenen Festsetzung des LSG in Höhe des zuletzt noch streitigen Regressbetrages von 110 468,47 Euro (§ 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG).

Oppermann Loose Just

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15403698

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