Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache. soziales Entschädigungsrecht. Verbrechen ohne Leiche. Gewaltopferentschädigung. plötzliches Verschwinden des Primäropfers. Traumatisierung eines nahen Angehörigen. Sekundäropfer. längere Ungewissheit über einen möglichen gewaltsamen Tod. Maßgeblichkeit der Nachricht von der Gewalttat. zeitlich punktueller Vorgang. keine Klärungsbedürftigkeit

 

Orientierungssatz

1. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist eine unmittelbare Schädigung durch eine Gewalttat auch dann noch anzunehmen, wenn eine Person die Nachricht von der vorsätzlichen Tötung eines nahen Angehörigen erhält und dadurch einen Schock erleidet. In einem solchen Fall bildet die Nachrichtenübermittlung eine natürliche Einheit mit dem Tatgeschehen, weswegen auch der Empfänger der Nachricht von der Gewalttat nicht etwa nur mittelbar, sondern - wenn auch zeitlich versetzt - unmittelbar geschädigt wird.

2. Erst der Erhalt der Nachricht von der Gewalttat gegen das Primäropfer bildet ihm gegenüber das Ende der Gewalttat. Dabei ist die Nachricht ein zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindender kommunikativer Vorgang und kein Dauerzustand.

3. Nicht klärungsbedürftig ist daher die Frage, ob ein Anspruch nach dem OEG unabdingbar die unmittelbare Kenntniserlangung vom gewaltsamen Tod eines nahen Angehörigen erfordert oder ob es ausreicht, wenn die Kenntnis von einem plötzlichen Verschwinden des Angehörigen und die über längere Zeit andauernde Ungewissheit über dessen gewaltsamen Tod zu einer nachhaltigen Traumatisierung führen.

 

Normenkette

OEG § 1 Abs. 1 S. 1; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.05.2022; Aktenzeichen L 13 VG 24/21Urt)

SG Köln (Gerichtsbescheid vom 23.02.2021; Aktenzeichen S 28 VG 12/20)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Mai 2022 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I. Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz wegen eines Schockschadens, nachdem ihr Schwiegersohn ihre Tochter getötet hat.

Der Beklagte hat die begehrte Versorgung abgelehnt, weil die von der Rechtsprechung für die Anerkennung eines Schockschadens geforderte Nachricht vom gewaltsamen Tod eines nahen Angehörigen nicht erfolgt sei. Vielmehr habe die Klägerin erst in mehreren Teilschritten Gewissheit über den Tod ihrer Tochter erlangt (Bescheid vom 3.9.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.1.2020).

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Gerichtsbescheid des SG vom 23.2.2021; Urteil des LSG vom 19.5.2022).

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil die allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht ordnungsgemäß dargelegt worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

1. Eine Rechtssache hat nur grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung sowie ggf des Schrifttums angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 23.2.2022 - B 9 SB 53/21 B - juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 18.6.2018 - B 9 V 1/18 B - juris RdNr 4, jeweils mwN). Diese Darlegungsanforderungen verfehlt die Beschwerde.

Die Klägerin hält sinngemäß die Fragen für klärungsbedürftig,

ob ein Anspruch nach dem OEG unabdingbar die unmittelbare Kenntniserlangung vom gewaltsamen Tod eines nahen Angehörigen erfordert oder ob es ausreicht, wenn die Kenntnis von einem plötzlichen Verschwinden des Angehörigen, zu dem enge, nahezu tägliche Kontakte bestehen, und die über längere Zeit andauernde Ungewissheit über dessen gewaltsamen Tod zu einer nachhaltigen Traumatisierung - im Ergebnis ähnlich den Folgen eines Schocks - führen.

Damit und mit ihren weiteren Ausführungen in der Beschwerdebegründung hat die Klägerin indes schon keine hinreichend konkrete Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer bestimmten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht bezeichnet und den vom Revisionsgericht erwarteten klärenden Schritt für deren Beantwortung ausreichend konkret dargelegt. Die Beschwerdebegründung benennt insbesondere kein konkretes Tatbestandsmerkmal einer bestimmten Norm, dessen Auslegung nach ihrer Ansicht grundsätzlicher Bedeutung zukommt.

Darüber hinaus fehlt es aber bezogen auf die Klärungsbedürftigkeit an der erforderlichen Auseinandersetzung mit der bereits ergangenen Rechtsprechung des BSG zu dem mit der Beschwerde aufgeworfenen Problemkreis des Schockschadens im Anwendungsbereich des OEG. Eine Rechtsfrage ist nämlich dann nicht (mehr) klärungsbedürftig, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist. Als bereits höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht oder das BVerfG darüber zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, jedoch schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (stRspr; zB BSG Beschluss vom 5.6.2020 - B 9 SB 87/19 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 21.1.1993 - 13 BJ 207/92 - SozR 3-1500 § 160 Nr 8 - juris RdNr 7). Im Hinblick hierauf muss in der Beschwerdebegründung unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG substantiiert vorgetragen werden, dass zu dem angesprochenen Fragenbereich noch keine Entscheidung vorliege oder durch die schon ergangenen Urteile die hier maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet sei (vgl BSG Beschluss vom 23.4.2021 - B 13 R 67/20 B - juris RdNr 7 mwN).

Diese Darlegungsanforderungen erfüllt die Beschwerde nicht. Insbesondere hat die Klägerin keinen fortbestehenden oder erneut entstandenen Klärungsbedarf dargelegt. Ihre Beschwerde geht nicht auf die einschlägige Rechtsprechung des BSG zu möglichen Entschädigungsansprüchen von Sekundäropfern nach § 1 OEG ein. Diese können in den Schutzbereich der Norm einbezogen sein, wenn die psychischen Auswirkungen der Gewalttat auf sie bei wertender Betrachtung so eng mit der Tat verbunden sind, dass beide eine natürliche Einheit bilden. Maßgebliches Kriterium für einen solchen engen Zusammenhang ist die zeitliche, örtliche und personale Nähe, ohne dass allerdings alle Aspekte gleichermaßen vorzuliegen brauchen. So ist eine unmittelbare Schädigung auch dann noch anzunehmen, wenn eine Person die Nachricht von der vorsätzlichen Tötung eines nahen Angehörigen erhält und dadurch einen Schock erleidet. In einem solchen Fall bildet die Nachrichtenübermittlung eine natürliche Einheit mit dem Tatgeschehen, weswegen auch der Empfänger der Nachricht von der Gewalttat nicht etwa nur mittelbar, sondern - wenn auch zeitlich versetzt - unmittelbar geschädigt wird. Denn erst der Erhalt der Nachricht von der Gewalttat gegen das Primäropfer bildet ihm gegenüber das Ende der Gewalttat. Dabei ist die Nachricht ein zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindender kommunikativer Vorgang und kein Dauerzustand (vgl zu Schockschäden von Sekundäropfern BSG Urteil vom 12.6.2003 - B 9 VG 1/02 R - BSGE 91, 107 = SozR 4-3800 § 1 Nr 3, RdNr 6 = juris RdNr 15; BSG Urteil vom 12.6.2003 - B 9 VG 8/01 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 2 RdNr 5 f = juris RdNr 12 f; BSG Urteil vom 10.12.2002 - B 9 VG 7/01 R - BSGE 90, 190 = SozR 3-3800 § 1 Nr 23 - juris RdNr 15 ff; BSG Urteil vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R - BSGE 88, 240 = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 - juris RdNr 17; BSG Beschluss vom 27.8.2020 - B 9 V 5/20 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 25.9.2017 - B 9 V 30/17 B - juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 14.10.2015 - B 9 V 43/15 B - juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 4.3.2014 - B 9 V 60/13 B - juris RdNr 7; BSG Beschluss vom 17.12.1997 - 9 BVg 5/97 - juris RdNr 2, jeweils mwN; vgl im Schrifttum zB Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 16 ff; Bischofs, SGb 2010, 693, 695; Loytved, NZS 2004, 516, 518 f).

Zum Beleg eines fortbestehenden höchstrichterlichen Klärungsbedarfs hätte die Klägerin daher darlegen müssen, warum die genannte und vom LSG in dem angefochtenen Urteil auch herangezogene Rechtsprechung des BSG - auch unter Berücksichtigung des zitierten, damit im Zusammenhang stehenden Schrifttums - keine ausreichenden Anhaltspunkte zur Beurteilung ihres Falls enthält und der weiteren Konkretisierung bedarf. Dazu führt die Beschwerde aber nichts aus.

Vielmehr rügt die Klägerin mit ihrer Kritik am Berufungsurteil der Sache nach nur einen im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde unerheblichen Rechtsanwendungsfehler. Eine behauptete inhaltliche Unrichtigkeit der Entscheidung des LSG im Einzelfall kann als solche aber nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 28.10.2020 - B 10 EG 1/20 BH - juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4).

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

2. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Kaltenstein Mecke Röhl

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15523873

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