Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Darlegung der Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage. Verallgemeinerungsfähigkeit der Frage der Versorgung mit einem Zweitrollstuhl. Einzelfallfragen. Grundsätzliche Bedeutung. Revisionsnichtzulassungsbeschwerde
Orientierungssatz
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache wird nicht hinreichend dargelegt, wenn nur die Besonderheiten des Einzelfalls als entscheidungserheblich angeführt werden die nicht erkennen lassen, dass es um einen Fall von allgemeiner Bedeutung geht (hier im Fall der Versorgung eines Querschnittsgelähmten mit einem Zweitrollstuhl).
Normenkette
SGB 5 § 12 Abs. 1, § 33 Abs. 1, § 70 Abs. 1 S. 2; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der 1954 geborene Kläger leidet an einer Querschnittlähmung mit kompletter Blasen- und Mastdarmlähmung. Die beklagte Krankenkasse hat ihn mit zwei Aktivrollstühlen mit Starrrahmen sowie mit einem Handbike ausgestattet. Ein Faltrollstuhl, der in der Regel für die Benutzung im häuslichen Bereich zur Verfügung gestellt wird, ist für den Kläger wegen erheblicher Streck- und Beugespastiken in den Beinen nicht geeignet. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) besitzt er derzeit einen 1998 bewilligten Starrrahmen-Aktivrollstuhl Modell Sopur Starlight, den er zuhause benutzt, und einen 2005 bewilligten Starrrahmen-Aktivrollstuhl Modell Argon (als Ersatz für einen 2000 bereitgestellten, aber zu eng gewordenen Rollstuhl Modell Sopur Allround), den er außerhalb seiner Wohnung - insbesondere bei seiner täglichen Berufstätigkeit und bei sportlichen Aktivitäten - einsetzt.
Einen Antrag des Klägers vom 15. April 2002, für den 1998 bewilligten Rollstuhl, der wegen einer deutlichen Gewichtszunahme zu eng geworden sei, Ersatz zu beschaffen durch einen neuen Starrrahmen-Aktivrollstuhl (Modell Sopur Starlight oder Modell Sopur Around) für den häuslichen Bereich, lehnte die Beklagte ab, weil die Ausstattung mit zwei Aktivrollstühlen nicht notwendig sei. Er könne den außer Haus benutzten Rollstuhl auch innerhalb der Wohnung einsetzen. Der Gefahr von Verschmutzungen infolge der Inkontinenz könne durch Schonbezüge bzw Wechselbezüge für den Sitz begegnet werden. Bei einer etwaigen Reparatur des Rollstuhls stelle der Hilfsmittellieferant kurzfristig leihweisen Ersatz. Auf Vertrauensschutz wegen der großzügigen Bewilligungspraxis in der Vergangenheit könne sich der Kläger nicht berufen. Bei jedem Leistungsantrag seien die Anspruchsvoraussetzungen unabhängig von früheren Entscheidungen neu zu prüfen.
Ebenso wie das Sozialgericht hat das LSG die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. Oktober 2005). Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Berufungsurteil.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie nicht in der durch die §§ 160 Abs 2 und 160a Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) normierten Form begründet worden ist. Sie ist deshalb ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§§ 160a Abs 4 Satz 2, 169 Satz 1 bis 3 SGG).
Der Kläger macht geltend, das angegriffene Urteil betreffe Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist es erforderlich, die grundsätzliche Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, dass sie über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat (BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 und 39) und dass sie klärungsbedürftig sowie klärungsfähig ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65), sie also im Falle der Revisionszulassung entscheidungserheblich wäre (BSG SozR 1500 § 160a Nr 54). In der Regel fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage, wenn diese höchstrichterlich bereits entschieden ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 51, § 160a Nr 13 und 65; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8); erforderlichenfalls muss dargelegt werden, dass die Entscheidung in der Rechtsprechung anderer Gerichte oder in der Literatur auf erhebliche Kritik gestoßen ist, sodass deutlich wird, dass die Rechtsfrage erneut klärungsbedürftig geworden ist (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 160 RdNr 7, 7a und § 160a RdNr 14e mwN). Diese Erfordernisse betreffen die gesetzliche Form iS des § 169 Satz 1 SGG (vgl BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 48). Deren Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
Der Kläger hat drei Rechtsfragen formuliert. Er sieht es als grundsätzlich bedeutsam und klärungsbedürftig an,
"1. ob bei dem Grundbedürfnis des Erschließens eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums ein Basisausgleich der Behinderung mit einer Mehrfachausstattung gleich gearteter Hilfsmittel (zweier Rollstühle jeweils für den Innen- und Außenbereich) bei dadurch festzustellender erfolgter Integration im Berufsleben und bei der sportlichen Freizeitgestaltung vorliegt, dies zur weiteren Aufrechterhaltung der erlangten Integration erforderlich ist und deswegen als notwendige Versorgung im Sinne von § 33 SGB V anzuerkennen ist;
2. ob das Grundbedürfnis der elementaren Körperpflege bei einer totalen Querschnittlähmung mit hinzutretender kompletter Mastdarm- und Blasenlähmung durch die Gewährung einer Mehrfachausstattung des gleichen Hilfsmittels (zweier Rollstühle jeweils für den Innen- und Außenbereich) ausgeglichen wird, weil nur auf diese Weise den elementaren hygienischen Bedürfnissen Rechnung getragen werden kann;
3. ob die Gewährung einer Mehrfachausstattung (zweier Rollstühle jeweils für den Innen- und Außenbereich) durch die gesetzliche Krankenversicherung in der Vergangenheit bei dem Hilfebedürftigen einen Vertrauenstatbestand mit der Folge ausgelöst hat, dass er ständig mit zwei Rollstühlen auszustatten ist oder wenigstens die Fortsetzung im Austausch mit dem zu klein gewordenen zweiten Rollstuhl von der Krankenversicherung verlangen kann."
Mit der Formulierung dieser Rechtsfragen allein ist der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache aber nicht hinreichend dargelegt worden. Der Kläger führt nur Besonderheiten seines Einzelfalls als entscheidungserheblich an (zB fehlende Eignung eines Faltrollstuhls für den häuslichen Bereich; starke Beanspruchung des Rollstuhls außer Haus durch Berufstätigkeit und sportliche Aktivitäten; frühere Bewilligungspraxis der Beklagten), die nicht erkennen lassen, dass es um einen Fall von allgemeiner Bedeutung geht.
Hinsichtlich der ersten Frage ist nicht verdeutlicht worden, dass das Grundbedürfnis gehunfähiger Versicherter auf Ermöglichung und Erhaltung der Bewegungsfreiheit in der eigenen Wohnung und in deren Nahbereich, um die es bei der Versorgung Erwachsener mit Mobilitätshilfen durch die Krankenkassen geht (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 7 und 31 sowie BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 3 und 7; zu Ausnahmen bei Kindern und Jugendlichen mit Blick auf die Ermöglichung des Schulbesuchs und die Integration in den Kreis Gleichaltriger vgl BSG SozR 2200 § 182b Nr 13; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27), generell nur mit Hilfe zweier - der Bauart nach gleicher - Rollstühle gewahrt werden kann. Es wird nicht geltend gemacht, dass die Ausstattung mit zwei Rollstühlen, die sich in Bauart und Verwendungsmöglichkeit nicht unterscheiden, zur Verwendung innerhalb und außerhalb der Wohnung dem heutigen Standard der medizinischen oder rehabilitativen Versorgung gemäß § 2 Abs 1 Satz 3 und § 70 Abs 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) entspricht (vgl dazu BSG SozR 2200 § 182 b Nr 13; BSGE 42, 229 = SozR 2200 § 182b Nr 2; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 22). Der Kläger stellt nicht in Abrede, dass die Mobilität in und außerhalb der Wohnung mit dem 2005 zur Verfügung gestellten Rollstuhl auch ohne den jetzt noch in der Wohnung benutzten alten Rollstuhl grundsätzlich gewährleistet wäre; vielmehr macht er nur plausibel, dass der Verzicht auf den zweiten Rollstuhl mit Erschwernissen für ihn (zB beim Sauberhalten des Rollstuhls und der Wohnung; Notwendigkeit der Leihe eines Ersatzrollstuhls im Fall einer Reparatur) und mit einem erhöhten Verschleiß verbunden wäre. Damit wird aber nur dargelegt, dass in seinem Fall die Versorgung mit einem Zweitrollstuhl möglicherweise zweckmäßig und wünschenswert sein könnte, wie es auch das LSG angenommen hat, nicht aber, dass eine solche Versorgung allgemein zur Wahrung der Grundbedürfnisse "erforderlich" bzw "notwendig" ist, wie es im Tatbestand des § 33 SGB V und im allgemeinen Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs 1 SGB V und des § 70 Abs 1 Satz 2 SGB V für die Hilfsmittelversorgung vorgeschrieben ist. Ob die Entscheidung des LSG im vorliegenden Fall zutreffend ist, kann dahinstehen. Eine allgemein höchstrichterlich klärungsbedürftige Rechtsfrage ist darin nicht erkennbar.
Hinsichtlich der zweiten Frage ist nur verdeutlicht worden, dass die Benutzung von Wechselbezügen für den Kläger nicht zumutbar wäre und deshalb die Versorgung mit dem zweiten Rollstuhl aus hygienischen Gründen "notwendig" ist. Auch hier fehlt es an Ausführungen, dass dabei allgemein klärungsbedürftige Rechtsfragen zu beantworten wären.
Die dritte Frage lässt ebenfalls die notwendige Verallgemeinerungsfähigkeit vermissen. Der Kläger legt nur dar, aus welchen Gründen der nur einmal erfolgte Ersatz dieses Faltrollstuhls durch einen weiteren Aktivrollstuhl mit Starrrahmen bei ihm einen Vertrauenstatbestand erzeugt hat, dass in Zukunft stets zwei Aktivrollstühle zur Verfügung gestellt werden. Auch hier kann offen bleiben, ob das LSG einen Vertrauensschutz des Klägers zu Recht verneint hat. Allgemeine Fragen über die Voraussetzungen und den Umfang von Vertrauensschutz im Rahmen der Hilfsmittelversorgung, die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch zu klären sind, lassen sich daraus nicht erkennen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen