Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Außer Kraft getretenes Recht. Klärungsbedürftigkeit. Höchstrichterliches Geklärtsein. Rüge der Richtigkeit der Entscheidung. Verfassungsrechtliche Frage. Gefahrtarif
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei Rechtsfragen zu bereits außer Kraft getretenem Recht kann eine Klärungsbedürftigkeit nur anerkannt werden, wenn noch eine erhebliche Zahl von Fällen auf der Grundlage dieses ausgelaufenen Rechts zu entscheiden ist oder wenn die Überprüfung der Rechtsnorm bzw. ihrer Auslegung aus anderen Gründen fortwirkende allgemeine Bedeutung hat.
2. Als bereits höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht sie zwar in der konkreten Fallgestaltung noch nicht ausdrücklich entschieden hat, aber bereits eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben.
3. Wird im Kern die Richtigkeit der Entscheidung gerügt, kann dies allein nicht zur Zulässigkeit der Revision führen.
4. Die Beschwerdebegründung darf sich im Fall einer aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Frage nicht darauf beschränken, die Verfassungswidrigkeit zu behaupten und die als verletzt angesehenen Normen des Grundgesetzes zu benennen, es muss unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG und des BSG dargelegt werden, woraus sich im konkreten Fall die Verfassungswidrigkeit ergeben soll, wozu der Bedeutungsgehalt der in Frage stehenden einfachgesetzlichen Normen aufgezeigt, die Sachgründe ihrer jeweiligen Ausgestaltung erörtert und die Verletzung der konkreten Regelung des GG dargelegt werden müssen.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 Sätze 1-2, §§ 162, 169; SGB VII §§ 131, 157 Abs. 5; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 06.10.2017; Aktenzeichen S 16 U 363/14) |
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 08.04.2022; Aktenzeichen L 4 U 792/17) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. April 2022 wird als unzulässig verworfen.
Die Klägerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auf 137 645,99 Euro festgesetzt.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten in dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit über die Rechtmäßigkeit eines Veranlagungsbescheides auf Grundlage des Gefahrtarifs 2013 der Beklagten.
Die im Anschluss an ein erfolgloses Verwaltungsverfahren erhobene Klage hat das SG abgewiesen (Urteil vom 6.10.2017). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 8.4.2022). Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG rügt die Klägerin eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht formgerecht dargelegt worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
1. Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit, also Entscheidungserheblichkeit, sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, die sog Breitenwirkung, darlegen (stRspr; zB BSG Beschlüsse vom 24.5.2023 - B 2 U 77/22 B - juris RdNr 5, vom 10.5.2023 - B 2 U 123/22 B - juris RdNr 3 und vom 7.3.2017 - B 2 U 140/16 B - SozR 4-1920 § 52 Nr 18 RdNr 5, jeweils mwN). Diesen Darlegungserfordernissen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
Unabhängig davon, ob die Klägerin hier eine hinreichend bestimmte abstrakt-generelle Rechtsfrage zur Auslegung, Anwendbarkeit oder zur Vereinbarkeit einer konkreten revisiblen Norm des Bundesrechts (§ 162 SGG) mit höherrangigem Recht (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) aufgezeigt hat, fehlen jedenfalls hinreichende Ausführungen zur (abstrakten) Klärungsbedürftigkeit einer auf eine Gültigkeit des Gefahrtarifs 2013 der Beklagten abzielenden Rechtsfrage.
Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage erwächst daraus, dass ihre Klärung nicht nur für den Einzelfall, sondern im Interesse der Fortbildung des Rechts oder seiner einheitlichen Auslegung erforderlich ist. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist die Auslegung von Rechtsnormen, bei denen es sich um ausgelaufenes Recht handelt, deshalb regelmäßig nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Bei Rechtsfragen zu bereits außer Kraft getretenem Recht kann eine Klärungsbedürftigkeit daher nur anerkannt werden, wenn noch eine erhebliche Zahl von Fällen auf der Grundlage dieses ausgelaufenen Rechts zu entscheiden ist oder wenn die Überprüfung der Rechtsnorm bzw ihrer Auslegung aus anderen Gründen fortwirkende allgemeine Bedeutung hat. Eine Fortwirkung kann insbesondere dann vorliegen, wenn an die Stelle der bisherigen Regelung eine inhaltsgleiche getreten ist oder sogar die bisherige Regelung im Wortlaut beibehalten und nur formal neu geschaffen wurde. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist, wenn dies nicht offensichtlich ist, in der Beschwerdebegründung darzulegen (stRspr; zu alldem zB BSG Beschlüsse vom 28.6.2022 - B 2 U 181/21 B - juris RdNr 11, vom 29.12.2021 - B 3 P 6/21 B - juris RdNr 7 mwN und vom 19.7.2012 - B 1 KR 65/11 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 10 mwN). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Gefahrtarife haben eine Geltungsdauer von höchstens sechs Kalenderjahren (§ 157 Abs 5 SGB VII). Die Klägerin führt indes nichts dazu aus, dass der daher spätestens zum 31.12.2018 ausgelaufene Gefahrtarif 2013 der Beklagten noch fortwirkende Bedeutung im dargestellten Sinne hat.
Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage ferner nur dann, wenn sie höchstrichterlich weder tragend entschieden noch präjudiziert ist und die Antwort nicht von vornherein praktisch außer Zweifel steht, so gut wie unbestritten ist oder sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Letzteres bestimmt sich nach dem Gesetzeswortlaut, der Rechtssystematik sowie den Gesetzesmaterialien (stRspr; zB BSG Beschlüsse vom 24.5.2023 - B 2 U 77/22 B - juris RdNr 8 mwN, vom 1.12.2022 - B 2 U 194/21 B - juris RdNr 8 mwN und vom 4.6.1975 - 11 BA 4/75 - BSGE 40, 40, 41 f = SozR 1500 § 160a Nr 4 S 5 = juris RdNr 7). Als bereits höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht sie zwar in der konkreten Fallgestaltung noch nicht ausdrücklich entschieden hat, aber bereits eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben. Im Hinblick hierauf muss in der Beschwerdebegründung unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG bzw des BVerfG sowie ggf der einschlägigen Rechtsprechung aller obersten Bundesgerichte substantiiert vorgetragen werden, dass zu dem angesprochenen Fragenbereich noch keine Entscheidung vorliege oder durch die schon vorliegenden Entscheidungen die hier maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet sei (zB BSG Beschlüsse vom 24.5.2023 - B 2 U 77/22 B - juris RdNr 8, vom 10.5.2023 - B 2 U 123/22 B - juris RdNr 5 und vom 7.3.2017 - B 2 U 140/16 B - SozR 4-1920 § 52 Nr 18 RdNr 8, jeweils mwN). Hieran fehlt es, wenn die Beschwerdebegründung zur Senatsrechtsprechung vorträgt (ua Urteil vom 11.4.2013 - B 2 U 8/12 R - BSGE 113, 192 = SozR 4-2700 § 157 Nr 5) und dazu ua darlegt, dass den Gerichten nicht die Prüfung zusteht, ob der Gefahrtarif die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Regelung treffe. Die Klägerin referiert hierzu ua ferner, dass nach dieser Senatsrechtsprechung der Unfallversicherungsträger im Rahmen seiner Regelungsbefugnis bestimmen kann, welche und wie viele Tarifstellen der Gefahrtarif enthalten soll. Schließlich trägt sie vor, dass nach der Rechtsprechung die Gefahrengemeinschaften durch einen gewerbezweigspezifischen oder einen nach Tätigkeiten gegliederten Gefahrtarif gebildet werden können und welchen Voraussetzungen die Orientierung an Gewerbezweigen folgt. Welche Fragen grundsätzlicher Art auf Grundlage dieser Rechtsprechung für den hier relevanten Rechtsstreit offengeblieben sind, legt die Beschwerdebegründung indes nicht dar. Gleiches gilt für die wiedergegebene Rechtsprechung des Senats zu § 131 SGB VII, wonach nach dem Grundgedanken des § 131 SGB VII auch heterogen gestaltete Unternehmen nach Möglichkeit einem einzigen Versicherungsträger gegenüberstehen sollen (BSG Urteil vom 28.11.2006 - B 2 U 33/05 R - BSGE 97, 279 = SozR 4-2700 § 136 Nr 2).
2. Indem die Klägerin sich mit ihrem Vorbringen umfassend auch unter Nennung weiterer Senatsrechtsprechung (zB BSG Urteile vom 21.3.2006 - B 2 U 2/05 R und vom 5.7.2005 - B 2 U 32/03 R - BSGE 95, 47 = SozR 4-2700 § 157 Nr 2) gegen die Bestätigung des Gefahrtarifs 2013 der Beklagten durch das Vordergericht wendet, rügt sie im Kern die Richtigkeit der Entscheidung. Diese allein kann indes nicht zur Zulässigkeit der Revision führen (vgl BSG Beschlüsse vom 28.6.2022 - B 2 U 181/21 B - juris RdNr 11 mwN, vom 25.5.2020 - B 9 V 3/20 B - juris RdNr 6 und vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4). In diesem Zusammenhang legt die Beschwerdebegründung mit ihrem Vorbringen auch eine Verletzung von Art 3 Abs 1 GG nicht rügefähig dar. Da die Rüge eines Verfassungsverstoßes keinen eigenen Zulassungsgrund darstellt (vgl § 160 Abs 2 SGG), hätte die Klägerin konkreter zu diesen Gründen ausführen müssen. Die Beschwerdebegründung darf sich im Fall einer aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Frage nicht darauf beschränken, die Verfassungswidrigkeit zu behaupten und die als verletzt angesehenen Normen des Grundgesetzes zu benennen. Es muss unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG und des BSG dargelegt werden, woraus sich im konkreten Fall die Verfassungswidrigkeit ergeben soll. Hierzu müssen der Bedeutungsgehalt der in Frage stehenden einfachgesetzlichen Normen aufgezeigt, die Sachgründe ihrer jeweiligen Ausgestaltung erörtert und die Verletzung der konkreten Regelung des GG dargelegt werden (zB BSG Beschlüsse vom 27.1.2022 - B 12 R 22/21 B - juris RdNr 16 mwN, vom 13.1.2022 - B 10 EG 2/21 B - juris RdNr 11 mwN und grundlegend vom 22.8.1975 - 11 BA 8/75 - BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11). Dabei ist aufzuzeigen, dass der Gesetz-, Verordnungs- oder Satzungsgeber die gesetzlichen Grenzen seines weiten Gestaltungsspielraums überschritten hat. Diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht. So setzt sie sich insbesondere bzgl einer möglichen Grundsatzrüge (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht mit der zur Bildung und Gliederung von Gefahrtarifen und mit der zu den Grenzen einer zulässigen Typisierung ergangenen Rechtsprechung des BSG und des BVerfG auseinander (vgl dazu BSG Urteil vom 11.4.2013 - B 2 U 8/12 R - BSGE 113, 192 = SozR 4-2700 § 157 Nr 5, RdNr 53 mwN). Im Weiteren fehlen Ausführungen zu einem möglicherweise angenommenen und beachtlichen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) wegen Verstoßes gegen Art 3 Abs 1 GG in Ausgestaltung des Willkürverbotes (zB BSG Beschlüsse von 24.5.2023 - B 2 U 81/22 B - juris RdNr 17, vom 31.5.2022 - B 2 U 120/21 B - juris RdNr 18 und vom 30.4.2015 - B 10 EG 17/14 B - juris RdNr 5, jeweils mwN).
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
4. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO.
6. Der Streitwert richtet sich gemäß § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1, § 47 Abs 1 und 3 GKG nach der sich für die Klägerin ergebenden Bedeutung der Sache, die in der Beitragsdifferenz zwischen den Tarifstellen 13 und 14 für die Dauer des Veranlagungszeitraums besteht (BSG Beschlüsse vom 9.6.2023 - B 2 U 149/22 B - juris RdNr 4 und vom 13.12.2016 - B 2 U 135/16 B - juris RdNr 8 sowie BSG Urteil vom 11.4.2013 - B 2 U 8/12 R - BSGE 113, 192 = SozR 4-2700 § 157 Nr 5, RdNr 59) und 137 645,99 Euro beträgt, wie die Vorinstanz zu Recht festgestellt hat.
Fundstellen
Dokument-Index HI16186707 |