Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Aussetzung der Vollstreckung. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. keine aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels bei Nachzahlung von Sozialhilfeleistungen
Leitsatz (amtlich)
Das Rechtsmittel eines Sozialhilfeträgers hat auch keine aufschiebende Wirkung, soweit es Leistungen an den Sozialhilfeempfänger betrifft, die für die Zeit vor Erlass des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen.
Normenkette
SGG § 165 S. 1 Fassung: 1993-01-11, § 154 Abs. 2 Fassung: 2001-08-17, § 199 Abs. 2 S. 1 Fassung: 2001-08-17; SGB 12 § 41; SGB 12 §§ 41ff
Verfahrensgang
Tatbestand
Im Streit ist die zusätzliche Zahlung von insgesamt 402 Euro an Sozialhilfe für die Zeit vom 1.5. bis 31.10.2005.
Der volljährige Kläger lebt mit seiner Mutter zusammen; er besuchte im streitigen Zeitraum den Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen und erhielt von der Bundesagentur für Arbeit (BA) ein monatliches Ausbildungsgeld in Höhe von 67 Euro. Der Beklagte gewährte ihm Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach 80 % des Eckregelsatzes für einen Haushaltsvorstand unter vollständiger Berücksichtigung des Ausbildungsgeldes und einer Waisenrente als Einkommen (Beschluss vom 19.8.2005; Widerspruchsbescheid vom 9.2.2006) .
Die Klage auf monatlich zusätzliche 67 Euro war nach Klageabweisung in der ersten Instanz (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 4.6.2008) beim Landessozialgericht (LSG) erfolgreich (Urteil vom 28.8.2009) . Dabei ist das LSG, ausgehend von einer Entscheidung des 8. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19.5.2009 (B 8 SO 8/08 R) von einem Regelsatz von 100 %, allerdings unter Abzug von ersparten Mittagsessenskosten (siehe dazu das Urteil des 8. Senats des BSG vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 21/06 R -, BSGE 99, 252 ff = SozR 4-3500 § 28 Nr 3) , und nur von einer teilweisen Berücksichtigung des Ausbildungsgeldes in Höhe von monatlich 19,21 Euro ausgegangen; an einer Verurteilung zu über 402 Euro insgesamt hinausgehender Sozialhilfe sah es sich auf Grund des Antrags des Klägers gehindert. Gegen das Urteil hat der Beklagte Revision einlegt und einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt.
Zu seinem Aussetzungsantrag hat der Beklagte vorgetragen, die Nichtaussetzung der Vollziehung begründe für den Kläger keinen gravierenden Nachteil, weil Leistungen nur für in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Zeiträume zu erbringen seien. Eine Vollstreckung könne sich sogar für den Kläger nachteilig auswirken, weil dann eine Rückzahlungspflicht drohe. In Anbetracht der wirtschaftlichen Situation des Klägers müsse deshalb das Urteil des Senats im Revisionsverfahren abgewartet werden.
Entscheidungsgründe
Der Antrag auf einstweilige Aussetzung der Vollziehung (§ 199 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) ist statthaft und zulässig.
Nach dieser Vorschrift kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat. Die vom Beklagten eingelegte Revision hat keine aufschiebende Wirkung. Dies ergibt sich aus §§ 165 Satz 1, 154 SGG. Nach § 165 Satz 1 SGG gelten die Vorschriften über die Berufung entsprechend, soweit sich aus den Regelungen zum Revisionsrecht nichts anderes ergibt. Da Letzteres nicht der Fall ist, hat die Revision gemäß § 154 SGG keine aufschiebende Wirkung.
Insoweit ist Abs 1 der Vorschrift nicht einschlägig. Nach § 154 Abs 2 SGG bewirkt (nur) die Berufung - vorliegend also die Revision - eines Versicherungsträgers oder in der Kriegsopferversorgung eines Landes Aufschub, soweit es sich um Beträge handelt, die für die Zeit vor Erlass des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen. Zwar wird allgemein eine weite Auslegung der Norm verlangt (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 154 RdNr 3 mwN) ; vorliegend wäre die Anwendung dieser Vorschrift auf den Beklagten als Träger der Sozialhilfe jedoch nicht lediglich mit einer weiten Auslegung der Vorschrift verbunden, sondern würde eine analoge Anwendung der Vorschrift verlangen. Die Voraussetzungen einer Analogie liegen indes nicht vor (anderer Ansicht LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.6.2007 - L 18 B 970/07 AS ER -, zur Rechtslage für das Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - ≪SGB II≫) .
Es ist bereits zweifelhaft ob die für eine Analogie erforderliche (ungewollte) Gesetzeslücke zu bejahen ist. Zweifel ergeben sich insbesondere deshalb, weil der Gesetzgeber in der Vergangenheit mit Wirkung vom 1.8.2006 erst nachträglich die Träger der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 (BGBl I 1706) in § 75 Abs 2 und 5 SGG aufgenommen hat (vgl auch BSG, Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 14/06 R -, BSGE 97, 242 ff = SozR 4-4200 § 20 Nr 1) , ohne diese Änderung zum Anlass zu nehmen, auch andere Vorschriften des SGG der erweiterten Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit (für die Sozialhilfe und die Grundsicherung für Arbeitsuchende) anzupassen. Jedenfalls besteht keine gleichartige Interessenlage, soweit es um Leistungen der Existenzsicherung (insbesondere der Sozialhilfe) geht. Bei diesen ist es durchaus nachvollziehbar, dass dem Leistungsempfänger nicht zugemutet werden soll, mit der Vollstreckung bis zum Abschluss des gesamten Instanzenzugs abzuwarten. Auch aus den Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), die früher für Entscheidungen im Rahmen des Sozialhilferechts zuständig war, lassen sich keine Rückschlüsse für die Auslegung des § 154 Abs 2 SGG ziehen. Sowohl die Regelungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit (§§ 167 ff VwGO iVm den Vorschriften der Zivilprozessordnung ≪ZPO≫) als auch die Regelungen über die Klageart (keine Anfechtungs- und Leistungsklage entsprechend § 54 Abs 4 SGG) sind völlig anders ausgestaltet.
Der Antrag des Beklagten ist jedoch unbegründet. Im Rahmen des nach herrschender Meinung (vgl dazu nur Leitherer in Meyer-Ladewig, aaO, § 199 RdNr 8) auszuübenden Ermessens unter Abwägung der Interessen des Leistungsempfängers und der leistungspflichtigen Behörde ist vorliegend eine einstweilige Aussetzung der Vollziehung nicht gerechtfertigt. Dabei ist insbesondere die gesetzliche Wertung des § 154 Abs 2 SGG besonders zu beachten die es nahelegt, eine Aussetzung nur in Ausnahmefällen zuzulassen, wenn das Rechtsmittel offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat (Leitherer, aaO, mwN zur Rechtsprechung und Literatur) . Dies gilt umso mehr, als bei der Nichtgewährung existenzsichernder Leistungen regelmäßig das Individualinteresse höher als das öffentliche Interesse anzusetzen sein dürfte (vgl nur Leitherer, aaO, RdNr 8 mwN) .
Vorliegend hat die Revision jedenfalls keine offensichtliche Aussicht auf Erfolg. Zum einen hat der 8. Senat des BSG bereits im Mai 2009, wie vom LSG zu Recht ausgeführt, entschieden, dass sich bei Volljährigen keine Absenkung des Regelsatzes auf 80 % rechtfertigt, wenn der Leistungsempfänger nicht mit einer anderen Person in einer Einsatzgemeinschaft zusammenlebt. Das Urteil des LSG beruht damit lediglich zu einem äußerst geringen Anteil auf der vom Beklagten aufgeworfenen Rechtsfrage, ob das dem Kläger gezahlte Ausbildungsgeld bei der Gewährung der Sozialhilfe zu berücksichtigen ist. Auch insoweit hat das LSG jedenfalls nicht völlig abwegig auf eine entsprechende Anwendung des § 82 Abs 3 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) und eine nur teilweise Berücksichtigung des Ausbildungsgeldes verwiesen.
Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man wie der Vorsitzende des 4. Senats des BSG in seiner Entscheidung vom 6.8.1999 (SozR 3-1500 § 199 Nr 1) in § 199 Abs 2 Satz 1 SGG keine Ermessensnorm sieht, sondern das dort bezeichnete "Kann" als "Kompetenz-Kann" versteht und unter entsprechender Anwendung der Vorschriften der ZPO (§ 719 Abs 2 ZPO) darauf abstellt, ob die Vollstreckung dem Schuldner einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde und nicht ein überwiegendes Interesse des Gläubigers entgegensteht. Der Beklagte hat bereits in keiner Weise dargetan, dass ihm ein nicht zu ersetzender Nachteil drohen würde. Es kann deshalb offen bleiben, ob der Ansicht des Vorsitzenden des 4. Senats zu folgen ist.
Offen bleiben kann auch, ob die Entscheidung des § 199 Abs 2 Satz 1 SGG, worauf der Vorsitzende des 4. Senats in der zitierten Entscheidung zu Recht hinweist, immer vom Vorsitzenden zu treffen ist oder auch die Möglichkeit besteht, die Entscheidung dem Senat zu übertragen. Der Vorsitzende darf jedenfalls alleine entscheiden. Offen bleiben kann schließlich auch, ob bei einer Abweichung überhaupt § 41 SGG (Divergenzvorlage an den Großen Senat des BSG) einschlägig wäre, weil es sich bei der Entscheidung nicht um eine Senatsentscheidung, sondern um eine solche des Vorsitzenden handelt.
Fundstellen