Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Fehlen eines wirksamen Einverständnisses zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Zurückverweisung

 

Orientierungssatz

1. Um wirksam auf eine Entscheidung mit mündlicher Verhandlung zu verzichten, muss jeder Beteiligte sein Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung klar, eindeutig und grundsätzlich - abgesehen von innerprozessualen Bedingungen wie dem Widerruf eines Vergleichs - vorbehaltlos erklären (vgl BSG vom 12.10.1972 - 10 RV 357/72, vom 22.9.1977 - 10 RV 79/76 = BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2 S 3, vom 3.6.2009 - B 5 R 306/07 B und vom 9.4.2019 - B 1 KR 81/18 B mwN).

2. An einem solchen eindeutigen und vorbehaltlosen Einverständnis der Klägerin fehlt es, wenn diese in ihrem Schriftsatz deutlich gemacht hat, dass sie jedenfalls nur dann auf eine mündliche Verhandlung verzichten möchte, wenn in ihrem Sinne entschieden wird, also - nach ihrer Vorstellung - ihre Argumente berücksichtigt werden und zu dem von ihr gewünschten Ergebnis führen und sie anderenfalls um die Möglichkeit bat, den Beklagten in einem Termin befragen zu können.

3. Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör (vgl BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B = SozR 4-1500 § 124 Nr 1, vom 11.4.2013 - B 2 U 359/12 B = UV-Recht Aktuell 2013, 683 und vom 6.10.2016 - B 5 R 45/16 B).

4. Es bedarf keines weiteren Vortrags zum "Beruhen-Können" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 5, § 62; GG Art. 103 Abs. 1; SGG § 124 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

SG Berlin (Gerichtsbescheid vom 19.06.2020; Aktenzeichen S 93 AS 4006/16)

LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 15.02.2022; Aktenzeichen L 31 AS 1074/20)

 

Tenor

Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. Februar 2022 gewährt.

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. Februar 2022 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Klägerin ist Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren (vgl § 67 SGG) wegen der fristgerechten Stellung eines PKH-Antrags durch sie und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung ihres Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung der PKH durch den Senat.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Beschlusses des LSG und Zurückverweisung der Sache begründet (§ 160a Abs 5 SGG).

Das Urteil des LSG vom 15.2.2022 beruht auf einem von der Klägerin hinreichend bezeichneten (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Das angefochtene Urteil ist unter Verstoß gegen den in § 124 Abs 1 SGG festgelegten Grundsatz der mündlichen Verhandlung ergangen. Ein wirksames Einverständnis zu einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) lag nicht vor.

Die Klägerin, die mit ihrer Berufung ua vorgetragen hat, ihr stünden unter Berücksichtigung von Nachzahlungsansprüchen gegen den Beklagten für Januar bis März 2015 endgültig höhere Leistungen zu und eine noch zu tilgende Restschuld aus dem Jahr 2012 sei ebenfalls bei der endgültigen Leistungsfestsetzung zu berücksichtigen, wurde im Januar 2022 zur Übertragung der Sache auf den Berichterstatter angehört sowie um ihr Einverständnis zu einem Urteil ohne mündliche Verhandlung gebeten. Die vom LSG vorbereitete Erklärung ergänzte sie mit "unter Vorbehalt" und vermerkte darauf zudem, dass der Richter zunächst weiter beigefügte Unterlagen zum besseren Verständnis ihres Anliegens zur Kenntnis nehmen solle. In ihrem der Erklärung beigefügten Schreiben vom 11.2.2022 führte die Klägerin ua aus: "Da der Beklagte mit seinem letzten Schreiben vom 03.05.2021 nicht den geringsten Zweifel mehr daran gelassen hat, dass er an seiner Vermeidungsstrategie bis zum bitteren Ende festzuhalten gedenkt, dürfte es m.E. ohne die benötigten Auskünfte eigentlich nur noch eine Möglichkeit geben, wie der Streit per Gerichtsbeschluss einigermaßen zügig würde beendet werden können: Zwischen der allenfalls noch zu tilgenden Restschuld von 787,52 € und dem höchstmöglichen Erstattungsbetrag von 3.003,08 € ist der Durchschnittswert zu ermitteln, wonach ich meiner Berechnung zufolge noch einen Erstattungsanspruch in Höhe von 1.106,28 € würde geltend machen können. (Irrtum vorbehalten!). Sollte ein Vergleich i.S. der vorgeschlagenen Kompromisslösung per Gerichtsbeschluss aus Ihrer Sicht nicht praktikabel sein, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir … auf jeden Fall noch einmal Gelegenheit geben würden, den Beklagten ... im Rahmen eines Erörterungstermins befragen zu können …". Und weiter "da ich nachweislich von Anfang an eine schriftliche Streitbeilegung in Ihrem Sinne angestrebt hatte, können Sie mein grundsätzliches Einverständnis mit allen Verfahrensweisen voraussetzen, die weitestgehend dem tatsächlichen Sinngehalt meiner Schriftsätze entsprechen …".

Der Berichterstatter verwarf die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG als unzulässig (Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 15.2.2022). Der Wert der Beschwer bestimme sich allein durch den noch angefochtenen Erstattungsbetrag von 705,18 Euro. Soweit das SG in den Entscheidungsgründen des Gerichtsbescheids ausgeführt habe, es gehe auch um die Vollstreckung von Forderungen in Höhe von 2076,01 Euro und der Wert der Beschwer liege daher über 750 Euro, sei "dies nicht nachvollziehbar".

In der Erklärung der Klägerin vom 11.2.2022 liegt kein wirksames Einverständnis zu einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung. Um wirksam auf eine Entscheidung mit mündlicher Verhandlung zu verzichten, muss jeder Beteiligte sein Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung klar, eindeutig und grundsätzlich - abgesehen von innerprozessualen Bedingungen wie dem Widerruf eines Vergleichs - vorbehaltlos erklären (vgl BSG vom 12.10.1972 - 10 RV 357/72; BSG vom 22.9.1977 - 10 RV 79/76 - BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2 S 3; BSG vom 3.6.2009 - B 5 R 306/07 B; BSG vom 9.4.2019 - B 1 KR 81/18 B mwN). An einem solchen eindeutigen und vorbehaltlosen Einverständnis der Klägerin fehlt es. Gleichgültig, ob bereits die Formulierung "unter Vorbehalt" der Wirksamkeit der Erklärung entgegen steht, hat die Klägerin in ihrem Schriftsatz deutlich gemacht, dass sie jedenfalls nur dann auf eine mündliche Verhandlung verzichten möchte, wenn in ihrem Sinne entschieden wird, also - nach ihrer Vorstellung - ihre Argumente berücksichtigt werden und zu dem von ihr gewünschten Ergebnis führen. Anderenfalls bat sie um die Möglichkeit, den Beklagten in einem Termin befragen zu können.

Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 GG; BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1; BSG vom 11.4.2013 - B 2 U 359/12 B; BSG vom 6.10.2016 - B 5 R 45/16 B; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 124 RdNr 4a mwN). Ob im Vorgehen des Gerichts zugleich ein Verstoß gegen die Hinweispflicht nach § 106 SGG bzw das Gebot fairen Verfahrens liegt, kann dahin stehen.

Die Klägerin macht auch einen Verfahrensmangel geltend, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Es bedarf keines weiteren Vortrags zum "Beruhen-Können" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl BSG vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62; BSG vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2, SozR 4-1750 § 547 Nr 1, SozR 4-6020 Art 6 Nr 1). Wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens reicht es vielmehr aus, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl BSG vom 22.9.1977 - 10 RV 79/76 - BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2 S 5; BSG vom 17.2.2010 - B 1 KR 112/09 B). Angesichts der vom LSG als "nicht nachvollziehbar" bezeichneten Bewertung des Beschwerdewerts durch das SG und dem schriftlichen Vorbringen der Klägerin nicht zuletzt im Berufungsverfahren ist nicht auszuschließen, dass das LSG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn die Klägerin Gelegenheit gehabt hätte, sich in einer mündlichen Verhandlung zu den rechtlichen und tatsächlichen Aspekten des Rechtsstreits zu äußern. Dies gilt in besonderem Maße, da eine mündliche Verhandlung in der ersten Instanz nicht stattgefunden hat (vgl Art 6 Abs 1 EMRK) und das SG den Streitgegenstand abweichend von der Rechtsauffassung des LSG beurteilt hat.

Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

11

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.

Harich

Neumann

Siefert

 

Fundstellen

Haufe-Index 15554685

NZS 2023, 263

info-also 2023, 138

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