Entscheidungsstichwort (Thema)

Revisionsnichtzulassungsbeschwerde. Rüge eines Verfahrensmangels. Berufungsentscheidung im Beschlussverfahren. Zeitpunkt der Anhörungsmitteilung. Rechtliches Gehör

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Anhörungsregelung des § 153 Abs. 4 S. 2 SGG soll sicherstellen, dass bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens in der Berufungsinstanz das rechtliche Gehör gewahrt bleibt und zwischen dem Gericht und den Beteiligten eine Kommunikation über die beabsichtigte Verfahrensweise zu einem Zeitpunkt in Gang gesetzt wird, in dem die Beteiligten einerseits noch rechtzeitig Bedenken gegen das vereinfachte Verfahren vorbringen können, andererseits aber schon ernsthaft mit der Durchführung dieses Verfahrens rechnen müssen. Die Anhörungsmitteilung ergeht deshalb sinnvollerweise regelmäßig erst dann, wenn sich das Berufungsgericht bereits mit der Frage befasst hat, ob die Anwendung des vereinfachten Verfahrens sachgerecht sein kann.

2. Eine erneute Anhörung ist regelmäßig erforderlich, wenn nach Zustellung einer (ersten) Anhörungsmitteilung eine Berufungsbegründung vorgelegt und darin ein Beweisantrag gestellt wird, das Berufungsgericht aber auch unter Würdigung des neuen Vortrags des Berufungsführers an seiner Absicht festhalten will, über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, ohne dem neuen Vorbringen nachzugehen (st.Rspr.; vgl. vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4). Eine erneute Anhörung ist auch ohne Stellung eines Beweisantrags etwa dann erforderlich, wenn vom Kläger ein Attest vorgelegt wird, aus dem sich nach seiner Behauptung eine Verschlimmerung der Gesundheitsstörungen ergibt, sodass eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. BSG Beschluss v. 01.09.1999, B 9 SB 7/98 R).

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 153 Abs. 4 S. 2

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Beschluss vom 23.11.2001)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. November 2001 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

Mit Beschluss vom 23. November 2001 hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) einen Anspruch der Klägerin auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, hilfsweise auf Rente wegen Erwerbsminderung, aus den Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung verneint und gemäß § 153 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen. Nachdem die Klägerin bei Berufungseinlegung mitgeteilt hatte, sie sei aus gesundheitlichen Gründen zurzeit nicht in der Lage, die Berufung zu begründen, hörte das Gericht die Klägerin zu der beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG an (Schreiben vom 31. Oktober 2001). Daraufhin teilte die Klägerin durch Schriftsatz vom 16. November 2001 mit, bei ihr sei eine Magenschleimhautentzündung neu diagnostiziert worden; ihre Körperschwäche müsse nochmals untersucht werden. Der Beschluss des LSG vom 23. November 2001 erging ohne nochmalige Anhörung der Klägerin.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat die Klägerin beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Sie rügt ausschließlich Verfahrensmängel. In der Beschwerdebegründung müssen aber Verfahrensmängel „bezeichnet”, dh schlüssig dargetan werden (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Diesem Erfordernis genügt die Beschwerdebegründung vom 18. Oktober 2002 nicht.

Die Klägerin rügt als Verfahrensmangel, das LSG hätte sie nach ihren Ausführungen im Schriftsatz vom 16. November 2001 erneut anhören müssen, ehe es durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG über die Berufung habe entscheiden dürfen. Denn nach Versendung der Anhörungsmitteilung vom 31. Oktober 2001 sei durch die Stellungnahme eine neue Verfahrenslage eingetreten. Dieses Vorbringen ist nicht geeignet, die Revisionsinstanz zu eröffnen.

Nach § 153 Abs 4 SGG kann das LSG eine Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören; sie müssen aber – anders als im Falle einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG – der Entscheidung durch Beschluss nicht zustimmen. Eine erneute Anhörung ist regelmäßig erforderlich, wenn nach Zustellung einer (ersten) Anhörungsmitteilung eine Berufungsbegründung vorgelegt und darin ein Beweisantrag gestellt wird, das Berufungsgericht aber auch unter Würdigung des neuen Vortrags des Berufungsführers an seiner Absicht festhalten will, über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, ohne dem neuen Vorbringen nachzugehen (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4; BSG Beschluss vom 1. September 1999 – B 9 SB 7/98 R – veröffentlicht in Juris; BVerwG Buchholz 310, § 130a VwGO Nr 16). Eine erneute Anhörung ist auch ohne Stellung eines Beweisantrages erforderlich, wenn vom Kläger ein Attest vorgelegt wird, aus dem sich nach seiner Behauptung eine Verschlimmerung der Gesundheitsstörungen ergibt, sodass eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erforderlich ist (BSG Beschluss vom 1. September 1999, aaO). Das Berufungsgericht kann jedoch in einer solchen Situation von einer erneuten Anhörungsmitteilung verfahrensfehlerfrei absehen, wenn der Berufungskläger selbst erkennbar keinen Wert auf eine mündliche Verhandlung legt (BVerwG NVwZ-RR 1996, 477) oder sein Vorbringen nicht den Anforderungen entspricht, die erfüllt sein müssen, damit das Tatsachengericht gehalten ist, durch weitere Ermittlungen darauf einzugehen (vgl hierzu Senatsurteil vom 17. August 2000 – B 13 RJ 69/99 R – veröffentlicht in Juris; BSG Beschluss vom 6. Juni 2001 – B 2 U 117/01 B – jeweils veröffentlicht in Juris; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 31). Eine wesentliche Änderung der Prozesslage liegt danach insbesondere dann nicht vor, wenn früheres Vorbringen lediglich wiederholt wird oder der Vortrag bzw die Beweisanträge unsubstantiiert sind (BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4).

Die Klägerin hat sich gemäß ihrem Beschwerdevorbringen mit ihrem Schreiben vom 16. November 2001 inhaltlich nicht gegen eine Entscheidung durch Beschluss gewandt. Gegenüber ihrem bisherigen Vortrag hat sie lediglich ergänzt, die neueste Diagnose laute „Magenschleimhautentzündung”. Damit verbundene – über die durch die bisher festgestellten Leiden hervorgerufene – Leistungseinschränkungen hat sie nicht behauptet und lediglich wegen ihrer „Körperschwäche” nochmals eine Untersuchung angeregt. Sie hat daher weder erkennbar Wert auf die mündliche Verhandlung gelegt noch hat sie – über die Wiederholung früheren Vorbringens hinaus – substantiiert ihren Sachvortrag ergänzt oder gar einen Beweisantrag gestellt. Eine wesentliche Änderung der Prozesslage (vgl hierzu: BVerwG Buchholz 312 Entlastungsgesetz Nr 60; Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 7. Aufl 2002, RdNr 20 zu § 153 mwN) hat sie damit in der Beschwerdebegründung iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nicht „bezeichnet”.

Ebenso wenig hat das LSG nach dem Beschwerdevorbringen der Klägerin gegen die Grundsätze der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes; § 62 SGG) verstoßen.

Die Anhörungsregelung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG soll sicherstellen, dass bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug das rechtliche Gehör gewahrt bleibt (vgl BVerwG Buchholz 312 Entlastungsgesetz Nr 32) und zwischen dem Gericht und den Beteiligten eine Kommunikation über die beabsichtigte Verfahrensweise zu einem Zeitpunkt in Gang gesetzt wird, in dem die Beteiligten einerseits noch rechtzeitig Bedenken gegen das vereinfachte Verfahren vorbringen können, andererseits aber schon ernsthaft mit der Durchführung dieses Verfahrens rechnen müssen. Die Anhörungsmitteilung hat deshalb sinnvollerweise regelmäßig erst dann zu ergehen, wenn sich der Vorsitzende oder der Berichterstatter des Senats mit der Frage befasst hat, ob die Anwendung des vereinfachten Verfahrens sachgerecht sein kann. Dies setzt – in der Regel – voraus, dass die Berufungsbegründung vorliegt oder der Rechtsmittelführer eine zur Vorlage der Berufungsbegründung gesetzte Frist ungenutzt hat verstreichen lassen (BVerwG aaO; Meyer-Ladewig, aaO, RdNr 20 zu § 153).

Vorliegend hatte die Klägerin, wie sie selbst einräumt, bei Einlegung der Berufung mit Schriftsatz vom 13. September 2001 zu erkennen gegeben, dass sie zurzeit nicht in der Lage sei, die Berufung weiter zu begründen oder zu ihrer Begründung dienende Tatsachen als Beweismittel anzugeben. Nachdem sie auch auf eine Erinnerung des Gerichts vom 26. September 2001 Gründe für ihr Rechtsmittel nicht vorgetragen hatte, konnte das LSG davon ausgehen, dass weiterer Sachvortrag nicht gewünscht war und eine Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung nach Lage der Akten erfolgen sollte, auch wenn der Klägerin eine Frist zur Übersendung der Berufungsbegründung nicht gesetzt worden war. Bereits durch die (erste) Anhörung war der Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen Gelegenheit gegeben worden, rechtzeitig Bedenken gegen das vereinfachte Verfahren vorzubringen und sich ernsthaft mit der Durchführung des Verfahrens – durch substantiierten Sachvortrag oder die Stellung eines Beweisantrages – auseinander zu setzen. Andererseits war es den Richtern des LSG mangels substantiierten Sachvortrags der Klägerin nicht möglich, weitere Erkenntnisse als nur durch das Aktenstudium zu gewinnen, sodass die Anhörungsmitteilung vom 31. Oktober 2001 den Anforderungen des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG entspricht, wie sie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nähere Ausgestaltung erfahren haben.

Die nach alledem nicht formgerecht begründete Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist damit unzulässig. Sie konnte ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss verworfen werden (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1176642

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