Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensmangel. Verletzung des Gebots des gesetzlichen Richters. nicht vorschriftsmäßige Besetzung der Richterbank. Selbstentscheidung des Richters über einen Befangenheitsantrag
Orientierungssatz
Wird ein Beschlusses, mit dem ein Ablehnungsgesuch unter Mitwirkung des abgelehnten Vorsitzenden Richters zurückgewiesen wurde, damit begründet, dass allein die Verweigerung der Führung eines Wortprotokolls keinen Grund für die Besorgnis der Befangenheit darstelle, zumal es gesetzlich nicht vorgeschrieben sei und bis zur Ablehnung auch keine Weigerung erfolgt sei, Anträge und sonstige Erklärungen des Klägers zu Protokoll zu nehmen, so wird das Selbstentscheidungsrecht der Sache nach auf einen Fall der mangelnden Begründetheit des Ablehnungsgesuchs ausgedehnt. Der durch die unzulässige Entscheidung in eigener Sache vorliegende Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters gem Art 101 Abs 1 S 2 GG wirkt in der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts bei seiner Endentscheidung durch Urteil fort.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3; ZPO § 547 Nr. 1, § 557 Abs. 2; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. März 2013 - L 11 AS 400/11 - aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) vom 27.3.2013 ist zulässig, denn er hat einen Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters gemäß Art 101 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Die Beschwerde ist insoweit auch begründet. Der gerügte Verfahrensfehler liegt vor. Das LSG war bei seinem auf die mündliche Verhandlung vom 27.3.2013 ergangenen Urteil nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 547 Nr 1 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫ iVm § 202 Satz 1 SGG). Denn an diesem Urteil hat ein Richter mitgewirkt, den der Kläger zuvor in der mündlichen Verhandlung zwar erfolglos abgelehnt hatte, dessen Mitwirkung aber gleichwohl das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt hat. Die Zurückweisung des diesen Richter betreffenden Ablehnungsgesuchs hat Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art 101 Abs 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt (vgl zu den Maßstäben Bundessozialgericht ≪BSG≫ Beschluss vom 27.10.2009 - B 1 KR 68/09 B - juris RdNr 5, unter Hinweis auf BVerfGE 82, 286, 298; Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ Beschluss vom 5.7.2005 - 2 BvR 497/03 - NVwZ 2005, 1304, 1307 f), weshalb der Senat an die Zurückweisung vorliegend entgegen § 557 Abs 2 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG nicht gebunden ist (vgl BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 5 mwN).
Der vom Kläger abgelehnte Vorsitzende Richter P. hat vor Verkündung des Urteils vom 27.3.2013 als Vorsitzender an dem in das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 27.3.2013 aufgenommenen Beschluss - L 11 SF 81/13 AB - mitgewirkt, durch den der gegen ihn gerichtete Ablehnungsantrag wegen Besorgnis der Befangenheit mit der Begründung abgewiesen worden ist, allein die Weigerung der Führung eines Wortprotokolls stelle keinen Grund für die Besorgnis der Befangenheit dar. Das Ablehnungsgesuch sei daher wegen verfahrensfremder Zwecke rechtsmissbräuchlich und die Ablehnung könne durch den Senat in dieser Besetzung erfolgen.
Diese Ausführungen des LSG lassen die Einhaltung der engen Grenzen für eine Selbstentscheidung des abgelehnten Richters über den ihn betreffenden Befangenheitsantrag nicht erkennen. Art 101 Abs 1 Satz 2 GG lässt lediglich in dem Fall eines unzulässigen oder missbräuchlich angebrachten Ablehnungsgesuchs eine Selbstentscheidung des abgelehnten Richters über das Gesuch zu. Entsprechend ist bei dem kollegial besetzten LSG über ein Ablehnungsgesuch grundsätzlich ohne den abgelehnten Richter von dem zuständigen Senat mit dem nach der Geschäftsverteilung berufenen Vertreter zu entscheiden. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass es nach der Natur der Sache an der völligen inneren Unbefangenheit und Unparteilichkeit eines Richters fehlen wird, wenn er über die vorgetragenen Gründe für seine eigene angebliche Befangenheit selbst entscheiden müsste. Wie im Zivil- und Strafprozess ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren anerkannt, dass abweichend von dem aufgezeigten Grundsatz der Spruchkörper ausnahmsweise in alter Besetzung unter Mitwirkung des abgelehnten Richters nur über unzulässige Ablehnungsgesuche in bestimmten Fallgruppen entscheidet (vgl dazu im Einzelnen BSG Beschluss vom 27.10.2009 - B 1 KR 68/09 B - juris RdNr 8 ff mwN).
Vorliegend hat der abgelehnte Vorsitzende Richter das gegen ihn gerichtete Befangenheitsgesuch mit anderen Richtern zwar abgewiesen, weil er es wegen verfahrensfremder Zwecke für rechtsmissbräuchlich hielt. Aus der Begründung des Beschlusses vom 27.3.2013 ergibt sich indes zugleich, dass dieser Entscheidung eine Bewertung des Verhaltens des Vorsitzenden dahin zugrunde liegt, allein die Weigerung der Führung eines Wortprotokolls stelle keinen Grund für die Besorgnis der Befangenheit dar, zumal ein solches Wortprotokoll gesetzlich nicht vorgeschrieben sei und bis zur Ablehnung auch keine Weigerung erfolgt sei, Anträge und sonstige wesentliche Erklärungen des Klägers zu Protokoll zu nehmen. Damit wird das Selbstentscheidungsrecht der Sache nach auf einen Fall der mangelnden Begründetheit eines Ablehnungsgesuchs ausgedehnt. Denn dieses ist tragend mit dem Argument abgewiesen worden, der vom Kläger geltend gemachte Grund für die Besorgnis der Befangenheit liege nicht vor. Hierüber konnte der abgelehnte Richter nicht entscheiden, ohne zugleich seine eigene Verhandlungsführung zu bewerten. Der den Ablehnungsantrag abweisende Beschluss geht damit in seiner Begründung zwar nicht auf den Gegenstand des Verfahrens ein, befasst sich aber mit der konkreten Verhandlungssituation und enthält insoweit eine Würdigung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters. Es liegt deshalb eine unzulässige Entscheidung in eigener Sache vor und der hierin liegende Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters wirkte in der Besetzung des LSG bei seiner Endentscheidung fort.
Der absolute Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG) führt zur Aufhebung und Zurückverweisung (§ 160a Abs 5 SGG). Die Verweisung an einen anderen Senat des LSG (§ 563 Abs 1 Satz 2 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG) ist nicht geboten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.
Fundstellen