Entscheidungsstichwort (Thema)

Unterbliebene Anhörung. Übertragungsbeschluss. Verfahrensmangel. Fehlerhafte Besetzung der Richterbank. Absoluter Revisionsgrund. Übergangener Antrag auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses. Mündliche Verhandlung. Rechtliches Gehör

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine unterbliebene Anhörung vor dem Übertragungsbeschluss des LSG auf den Berichterstatter stellt keinen Verfahrensmangel dar, auf dem die Entscheidung des LSG beruhen kann, da eine solche Gehörsverletzung nicht zu einer fehlerhaften Besetzung der Richterbank und damit zu einem absoluten Revisionsgrund führt, weil die Rückübertragung durch Beschluss des Senats auf den Senat möglich ist, wenn sich nach der Übertragung auf den Berichterstatter wegen einer wesentlichen Änderung der Prozesslage erweist, dass die Sache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist oder grundsätzliche Bedeutung hat.

2. Das Übergehen eines Antrags auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung eines mittellosen und rechtskundig nicht vertretenen Klägers stellt keine Versagung rechtlichen Gehörs dar, wenn er es selbst versäumt hat, sich vor Gericht durch die zumutbare Ausschöpfung der vom einschlägigen Prozessrecht eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten Gehör zu verschaffen.

3. Dies ist der Fall, wenn der Kläger auf das Schreiben des LSG mit der Aufforderung, die Höhe des beantragten Reisekostenvorschusses darzulegen und die Notwendigkeit der geltend gemachten Übernachtung(en) sowie der Begleitperson durch ein ärztliches Attest nachzuweisen, nicht reagiert hat.

4. Ohne eine solche Reaktion kann das LSG davon ausgehen, dass sich der Antrag erledigt hat und nicht noch einmal gesondert beschieden werden musste.

 

Normenkette

SGG §§ 62, 67, 103, 128 Abs. 1 S. 1, § 153 Abs. 2, 5, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 4 S. 2, § 202 S. 1; ZPO § 547 Nr. 1; GG Art. 103 Abs. 1; EMRK Art. 6 Abs. 1

 

Verfahrensgang

SG Hamburg (Entscheidung vom 26.06.2019; Aktenzeichen S 25 KR 1811/15)

LSG Hamburg (Urteil vom 11.06.2020; Aktenzeichen L 1 KR 81/19)

 

Tenor

Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 11. Juni 2020 gewährt.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 11. Juni 2020 wird zurückgewiesen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger ist mit seinem Begehren auf Befreiung von weiteren Zuzahlungen für das Jahr 2014 bei der beklagten Krankenkasse und dem SG erfolglos geblieben. Das LSG hat die Berufung gegen den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG durch Beschluss dem Berichterstatter übertragen und zusammen mit den vom Kläger geführten weiteren Verfahren L 1 KR 45/19 und L 1 KR 77/19 mündliche Verhandlung auf den 2.4.2020 anberaumt. Mit einem beim LSG am 21.2.2020 eingegangenen undatierten Schreiben hat der Kläger unter Verweis auf seine Bedürftigkeit einen Kostenvorschuss für die Anreise zur mündlichen Verhandlung beantragt. Die Kosten hat er nach Aufforderung durch das LSG auf insgesamt 2137,03 Euro beziffert. Das LSG hat dem Kläger daraufhin mit Schreiben vom 5.3.2020 (unter dem Aktenzeichen L 1 KR 45/19) mitgeteilt, dem Antrag auf Zahlung eines Vorschusses in dieser Höhe könne jedenfalls noch nicht stattgegeben werden. Die Höhe des begehrten Vorschusses sei nicht schlüssig dargelegt worden, ua weil bereits nicht ersichtlich sei, weshalb der Kläger nicht am Sitzungstag an- und abreisen könne. Mit Verfügung vom 16.3.2020 hat das LSG wegen der Corona-Pandemie den Verhandlungstermin auf den 11.6.2020 verlegt. Mit einem unter dem 19.3.2020 vom Berichterstatter zur Kenntnis genommenen Schreiben hat sich der Kläger an das LSG gewandt und nachgefragt, was mit dem Termin sei und ob man vergessen habe, ihn zu informieren. Das LSG hat am 11.6.2020 in Abwesenheit des Klägers mündlich verhandelt, die Berufung zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Zur Begründung hat es gemäß § 153 Abs 2 SGG auf die Entscheidungsgründe der erstinstanzlichen Entscheidung verwiesen und ergänzend zu dem schriftsätzlichen Vorbringen des Klägers Stellung genommen (Urteil vom 11.6.2020).

Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

II

1. Dem Kläger war von Amts wegen gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren, weil er fristgerecht einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe gestellt und die Nichtzulassungsbeschwerde nach der Bewilligung von Prozesskostenhilfe fristgerecht eingelegt und begründet hat.

2. Die Beschwerde, mit der der Kläger allein Verfahrensmängel geltend macht (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), ist teilweise unzulässig (dazu a) und im Übrigen jedenfalls unbegründet (dazu b).

Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) müssen die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden.

a) Soweit der Kläger seine fehlende Anhörung vor dem Übertragungsbeschluss des LSG auf den Berichterstatter nach § 153 Abs 5 SGG vom 8.11.2019 rügt, genügt sein Vorbringen bereits nicht den Darlegungsanforderungen. Der Kläger hat nicht aufgezeigt, dass in der unterbliebenen Anhörung ein Verfahrensmangel liegt, auf dem die Entscheidung des LSG beruhen kann. Denn eine solche Gehörsverletzung führt nicht zu einer fehlerhaften Besetzung der Richterbank und damit zu einem absoluten Revisionsgrund nach § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO, weil die Rückübertragung durch Beschluss des Senats auf den Senat möglich ist, wenn sich nach der Übertragung auf den Berichterstatter wegen einer wesentlichen Änderung der Prozesslage erweist, dass die Sache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist oder grundsätzliche Bedeutung hat (vgl BSG vom 21.9.2017 - B 8 SO 3/16 R - SozR 4-1500 § 153 Nr 16 RdNr 16; BSG vom 24.1.2018 - B 14 AS 73/17 BH - juris RdNr 6; BSG vom 18.6.2018 - B 9 V 1/18 B - juris RdNr 27; tendenziell aA - allerdings nicht entscheidungstragend - BSG vom 14.10.2020 - B 4 AS 188/20 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 19 RdNr 10 f). Dass vorliegend die Voraussetzungen für eine solche Rückübertragung vorgelegen haben (vgl dazu auch BSG vom 6.12.2018 - B 8 SO 53/18 B - juris RdNr 5), trägt der Kläger nicht vor. Im Übrigen setzt er sich auch nicht mit der Möglichkeit einer Heilung des Gehörsverstoßes (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 295 ZPO) durch sein schriftsätzliches Vorbringen und den von ihm nach der Übertragung auf den Einzelrichter gestellten Antrag auf Gewährung eines Reisekostenvorschusses für die Anreise zur mündlichen Verhandlung (siehe dazu unter b) auseinander (vgl auch BSG vom 4.2.2019 - B 8 SO 21/18 BH - juris RdNr 7; BVerwG vom 10.11.1999 - 6 C 30/98 - BVerwGE 110, 40 = juris RdNr 19).

b) Der Kläger rügt ferner eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention) dadurch, dass das LSG seinen Antrag auf Reisekostenvorschuss zur Wahrnehmung des Termins übergangen habe. Ungeachtet der Frage, ob sein Vorbringen insofern den Darlegungsanforderungen genügt, liegt der Verfahrensmangel jedenfalls in der Sache nicht vor.

Zwar kann das völlige Übergehen eines Antrags auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung bei einem mittellosen und rechtskundig nicht vertretenen Kläger eine Versagung rechtlichen Gehörs darstellen (vgl BSG vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - juris RdNr 11; BSG vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - juris RdNr 6). Eine Verletzung rechtlichen Gehörs kann aber nicht geltend machen, wer es selbst versäumt hat, sich vor Gericht durch die zumutbare Ausschöpfung der vom einschlägigen Prozessrecht eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten Gehör zu verschaffen (vgl BVerfG vom 18.8.2010 - 1 BvR 3268/07 - juris RdNr 28; BSG vom 9.8.2016 - B 9 V 36/16 B - juris RdNr 7; BVerwG vom 3.7.1992 - 8 C 58.90 - juris RdNr 9; BVerwG vom 7.4.2020 - 5 B 30.19 D - juris RdNr 32; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 62 RdNr 11d, jeweils mwN). Dies war vorliegend der Fall.

Das LSG hat dem Kläger ausweislich der vom Senat beigezogenen Akten des Parallelverfahrens B 12 KR 22/21 B sowie der dortigen Beiakten des vorinstanzlichen Verfahrens zu dem auf denselben Terminstag geladenen Parallelverfahren L 1 KR 45/19 mit Schreiben vom 5.3.2020 mitgeteilt, dem (zu allen drei am selben Tag verhandelten Verfahren gestellten) Antrag auf Zahlung eines Vorschusses iHv 2137,03 Euro könne trotz der von ihm nachgewiesenen Mittellosigkeit jedenfalls noch nicht stattgegeben werden. Zum einen sei der Betrag der Höhe nach in keiner Weise schlüssig dargelegt worden. Darüber hinaus sei nicht ersichtlich, aus welchen gegebenenfalls gesundheitlichen Gründen dem Kläger eine An- und/oder Abreise am Verhandlungstag nicht möglich und daher (ein oder) zwei Übernachtungen notwendig sein sollten. Entsprechendes gelte für die Notwendigkeit einer Begleitperson. Das LSG hat den Kläger in dem Schreiben aufgefordert, die schlüssige Darlegung hinsichtlich der Höhe des Betrages nachzuholen und die Notwendigkeit der Übernachtung(en) sowie der Begleitperson durch ein ärztliches Attest nachzuweisen. Auf dieses Schreiben, das der Kläger ausweislich seines eigenen Vorbringens zum Parallelverfahren B 12 KR 22/21 B auch erhalten hat, hat der Kläger nicht reagiert. Er hat lediglich mit einem beim LSG am 19.3.2020 eingegangenen (undatierten) Schreiben nachgefragt "Was ist los? Hat man den Termin abgesagt und vergessen mich zu informieren?". Auf dieses Schreiben hat das LSG mit Blick auf die einen Tag zuvor verfügte Terminsverlegung nicht reagiert.

Wenn der Kläger an dem Antrag auf den Reisekostenvorschuss auch ohne Vorlage der vom LSG geforderten Nachweise hätte festhalten wollen, hätte er sich spätestens nach Erhalt der Mitteilung über die Verlegung des Termins nochmals an das LSG wenden und auf das Schreiben vom 5.3.2020 nebst der darin enthaltenen Mitwirkungsaufforderung reagieren müssen. Ohne eine solche Reaktion konnte das LSG davon ausgehen, dass sich der Antrag erledigt hat und nicht noch einmal gesondert beschieden werden musste. Weder das undatierte Schreiben des Klägers, welches sich mit der Terminsverlegung überschnitten hat, noch der von ihm behauptete Anruf beim LSG "kurz vor dem Termin vom 11.6.2020" genügt der Anforderung an den Kläger, alles ihm Zumutbare zu unternehmen, sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Für den behaupteten Anruf finden sich im Übrigen in den Akten des LSG keinerlei Hinweise und der Kläger hat selbst hierzu keine Nachweise vorgelegt. Sein Vorbringen enthält auch keine konkrete Sachverhaltsschilderung, etwa zum genauen Zeitpunkt des Telefonats und zu der Person beim LSG, mit der er dieses geführt haben will, die Ansätze für weitere Ermittlungen des Senats bieten würde. Das Vorbringen ist auch insofern nicht plausibel, als der erstmals in der ergänzenden Beschwerdebegründung vom 22.4.2021 behauptete Anruf in dem nur wenige Wochen nach der mündlichen Verhandlung vor dem LSG von dem Kläger persönlich gestellten Antrag auf Prozesskostenhilfe für die Nichtzulassungsbeschwerde vom 29.6.2020 überhaupt keine Erwähnung findet, obwohl dies angesichts seines gesamten Vorbringens zu erwarten gewesen wäre.

2. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Schlegel

Estelmann

Bockholdt

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15148885

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