Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen aus der Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs

 

Orientierungssatz

Wird die Verletzung des rechtlichen Gehörs gerügt, weil das Gericht auf Grund eigener Sachkunde entschieden hat, muß dargetan werden, wieso das Gericht sich nicht in den Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung gehalten und gegebenenfalls auf allgemeinkundige Tatsachen gestützt hat (vgl BSG in SozR 1500 § 128 Nr 15).

 

Normenkette

SGG §§ 62, 128 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 26.04.1989; Aktenzeichen L 2 J 268/88)

 

Gründe

Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig; denn die Begründung entspricht nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form.

Die Klägerin macht geltend, es handele sich um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). In dem Rechtsstreit geht es darum, ob der Klägerin Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit zusteht. Sie war nie Pflichtmitglied in der gesetzlichen Rentenversicherung und als solches beschäftigt. Bei der Beklagten ist die Klägerin als sog Selbstversicherte freiwillig versichert, und sie hat Beiträge jeweils in Höhe der Mindestbeiträge entrichtet. Als Frage von grundsätzlicher Bedeutung sieht die Klägerin an, inwieweit eine freiwillig versicherte Hausfrau sich auf den Beruf einer ungelernten Hilfsarbeiterin verweisen lassen müsse.

Zu einer formgerechten Beschwerde gehört nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG, daß in der Begründung der Beschwerde die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt wird. Der Zulassungsgrund aus § 160 Abs 2 Nr 1 SGG erfordert es, neben der Bezeichnung einer Rechtsfrage darzulegen, warum diese von grundsätzlicher Art ist, dh warum die Entscheidung der Frage geeignet ist, das Recht zu vereinheitlichen oder fortzuentwickeln. Dazu sind auch Ausführungen darüber erforderlich, wieso die Rechtsfrage klärungsbedürftig und im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig ist. Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung der Klägerin nicht. Eine Rechtsfrage, die das Bundessozialgericht (BSG) entschieden hat, ist im allgemeinen nicht mehr klärungsbedürftig und ist somit nicht mehr von grundsätzlicher Bedeutung, es sei denn, die Beantwortung der Frage ist klärungsbedürftig geblieben oder es erneut geworden (so BSG in SozR 1500 § 160a Nr 65). Das hat die Klägerin nicht substantiiert vorgetragen.

Das BSG hat schon am 28. Juli 1966 (BSGE 25, 129) entschieden, daß bei der Prüfung der Frage, welche Tätigkeiten iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zumutbar sind, bei einem Selbstversicherten dessen bisheriger Beruf nur insoweit zu berücksichtigen ist, als die entrichteten Beiträge zur Rentenversicherung ihm entsprechen. Diese Rechtsprechung ist bestätigt, fortgeführt und ergänzt worden in den Urteilen vom 24. Januar 1967, 16. Januar 1968 und 20. Januar 1983 (SozR Nrn 64 und 66 zu § 1246 RVO, SozR 2200 § 1246 Nr 105; vgl auch BSG in SozR Nr 112 zu § 1246 RVO). Dabei hat sich das BSG in der Entscheidung vom 16. Januar 1968 speziell damit befaßt, wie die Berufsunfähigkeit einer selbstversicherten Hausfrau zu beurteilen ist. Die dafür entwickelten Kriterien gelten - wie generell bei Selbstversicherten - aber nur dann, wenn die Höhe der Beiträge der ausgeübten Tätigkeit entspricht. So hat das BSG auch für Hausfrauen betont (aaO Nr 66), bei der Prüfung der Frage, auf welche Tätigkeiten eine Selbstversicherte zumutbar verwiesen werden könne, sei der der bisherigen Tätigkeit "adäquate Beruf" nur insoweit zu berücksichtigen, als die entrichteten Beiträge ihm entsprächen.

Mit dieser Rechtsprechung hat sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Beschluß vom 1. Februar 1978 (SozR 2200 § 1246 Nr 28, vgl auch aaO Nr 156) befaßt und dazu folgendes ausgeführt: "Angesichts dessen, daß es ohne eine derart eingeschränkte Anknüpfung an den ausgeübten Beruf überhaupt keinen Anknüpfungspunkt an einen Beruf gegeben hätte mit der Folge, daß jedem Selbstversicherten ohne Rücksicht auf seine Beitragszahlungen und seinen tatsächlichen Beruf jede, auch die einfachste Tätigkeit vor der Bewilligung einer Berufsunfähigkeitsrente hätte zugemutet werden müssen, erscheint diese Begründung sachgerecht und vernünftig." Das BSG hat demzufolge in dem späteren Urteil vom 20. Januar 1983 (SozR 2200 § 1246 Nr 105) keine Veranlassung gesehen, von der bisherigen Rechtsprechung abzugehen. Eine Bevorzugung in der Weise, daß die Selbstversicherten selbst bei einer erheblich geringeren Beitragsleistung denselben "Berufsschutz" wie Pflichtversicherte erhielten, werde durch die Rechtsprechung des BSG vermieden.

Die von der Klägerin bezeichnete Rechtsfrage ist somit höchstrichterlich geklärt, und eine weitergehende oder erneute Klärungsbedürftigkeit ist nicht dargelegt worden. Somit ist die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht formgerecht begründet worden.

Als Mangel des Berufungsverfahrens rügt die Klägerin, das Landessozialgericht (LSG) hätte das am 19. April 1989 beantragte medizinische Gutachten einholen müssen. Auf die von der Klägerin gerügte Verletzung des § 103 SGG kann die Beschwerde nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nur gestützt werden, wenn sich der Verfahrensverstoß mangelnder Sachaufklärung auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Eine Verletzung des § 103 SGG durch ein unbegründetes Übergehen eines Beweisantrags kommt nur dann in Betracht, wenn ein Beweisantritt iS der einschlägigen Vorschriften der Zivilprozeßordnung (ZPO) erfolgt ist, beim Sachverständigenbeweis (§§ 118 Abs 1 SGG iVm 403 ZPO) also die zu begutachtenden Punkte bezeichnet worden sind (so BSG in SozR 1500 § 160 Nr 45). Darlegungen dazu in der Beschwerdebegründung sind auch deshalb erforderlich, weil § 160 Abs 2 Nr 3 SGG die mögliche Rüge einer Verletzung des § 103 SGG auf die Punkte beschränkt, die der Beschwerdeführer durch den Beweisantrag geklärt sehen wollte (so BSG SozR 1500 § 160 Nr 35).

Die Klägerin hat den Beweisantrag zwar genau bezeichnet, daß es sich dabei aber um einen wirksamen Beweisantritt iS der oben dargestellten Anforderungen handelt, ist nicht aufgezeigt worden. Im Schriftsatz der Klägerin vom 19. April 1989 ist lediglich ausgeführt worden, aus dem überreichten Attest von Dr. H        , ebenfalls vom 19. April 1989, ergebe sich eine Verschlechterung im Befinden der Klägerin. Die schwere endogene Depression habe zu ausgeprägten Organneurosen geführt. Eine Wiedergenesung sei nicht absehbar, so daß mit Sicherheit Berufs- und Erwerbsunfähigkeit vorliege. Zum Beweis werde beantragt, nochmal ein Gutachten eines Sachverständigen einzuholen. Darüber hinaus hat die Klägerin in der Beschwerdebegründung nicht substantiiert aufgezeigt, auf Grund welcher Rechtsauffassung des LSG Tatfragen als klärungsbedürftig erscheinen, und es zu einer genau darzulegenden Sachaufklärung drängen mußten (so BSG in SozR 1500 § 160a Nrn 14 und 34). Dr. H         hat in seiner Bescheinigung vom 19. April 1989 keine Verschlimmerung im Befinden der Klägerin angegeben, sondern seit Beginn seiner Behandlung im April 1988 eine "100prozentige Arbeitsunfähigkeit" angenommen. Der Beurteilung des Hausarztes ist das LSG nicht gefolgt. Es hat ausgeführt, entgegen dem Attest von Dr. H         bestehe bei der Klägerin kein seelisches Leiden, das ihre Leistungsfähigkeit wesentlich einschränken könnte. Insoweit hat sich das LSG auf das am 16. August 1988 von Dr. E       erstattete Gutachten berufen. In der Beschwerdebegründung ist bei dieser Sachlage nicht schlüssig dargelegt worden, daß sich das LSG von seinem Standpunkt aus hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben.

Als weiteren Mangel des Berufungsverfahrens rügt die Klägerin, das LSG habe ihr nicht in der gebotenen Weise rechtliches Gehör iS von Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) und § 62 SGG gewährt (§ 160 Abs 2 Satz 3 SGG). Das LSG sei ohne Hinweis von dem Gutachten des Sachverständigen Dr. E       abgewichen. Formgerecht gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet ist der Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs nur dann, wenn angegeben wird, welches Vorbringen verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (vgl BSG in SozR 1500 § 160a Nr 36). Daran fehlt es in der Beschwerdebegründung der Klägerin.

Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist der Grundsatz des rechtlichen Gehörs auch verletzt, wenn die Beteiligten mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, für die bisher keine Hinweise vorhanden waren (vgl SozR 1500 § 62 Nr 20). Dr. E       hat in seinem Gutachten ausgeführt, bezüglich des Arbeitsweges bestünden bei der Klägerin keine Einschränkungen, wenn der Weg zur und von der Arbeitsstelle jeweils nicht mehr als etwa 15 bis 20 Minuten in Anspruch nehme. Das LSG ist in diesem Punkte dem Sachverständigen nicht gefolgt. Die Klägerin sei in der Lage, Gehstrecken von ein bis zwei Kilometern zurückzulegen, wozu sie nicht mehr als 15 bis 20 Minuten benötige. Sie könne auch im Anschluß an einen Fußweg öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Die medizinischen Gutachten enthielten keine Anhaltspunkte dafür, daß die Klägerin nicht in der Lage wäre, auf dem Weg zur oder von der Arbeit jeweils eine halbe Stunde oder auch bis zu einer Stunde in einem öffentlichen Verkehrsmittel zu sitzen. Damit hält sich das LSG im Rahmen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Die Klägerin konnte damit rechnen, daß das Gericht möglicherweise der Beurteilung des Sachverständigen Dr. G      folgen würde, wonach keine Beschränkungen bezüglich des Anmarschweges zur Arbeit bestehen. Die allgemein gehaltenen Ausführungen in der Beschwerdebegründung sind nicht geeignet, den gerügten Verfahrensmangel formgerecht zu bezeichnen.

Wenn die Klägerin meint, welche Wege sie zurücklegen könne, habe das LSG auf Grund eigener Sachkunde entschieden, so ist auch damit eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht formgerecht gerügt worden. Vielmehr hätte dargetan werden müssen, wieso das Gericht sich nicht in den Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung gehalten und ggf auf allgemeinkundige Tatsachen gestützt hat (vgl BSG in SozR 1500 § 128 Nr 15). Zeitliche Beschränkungen der Gehfähigkeit, so trägt die Klägerin vor, seien in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bislang noch nicht behandelt worden. Es liege auf der Hand, daß es sich hierbei um Grundsatzfragen handele. Den oben wiedergegebenen Anforderungen an die Begründung der mit der Beschwerde erstrebten Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung werden diese wenigen Hinweise nicht gerecht. Soweit die Klägerin zu diesem Komplex ein weiteres Sachverständigengutachten für erforderlich hält, fehlt es schon an der Bezeichnung des in § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geforderten Beweisantrags.

Schließlich macht die Klägerin noch geltend, im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde sei zu prüfen, "inwieweit die Klägerin als Hausfrau, Mutter und Angehörige einer intakten Familie mit Haus und Grundbesitz in D          tatsächlich auf den Arbeitsmarkt der gesamten Bundesrepublik Deutschland verwiesen werden kann". Offenbar nimmt die Klägerin auch insoweit eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG an. Hier jedoch fehlt wiederum die Auseinandersetzung mit den zu dieser Frage bereits in großer Zahl ergangenen Entscheidungen des BSG. Der Senat verweist nur auf die einschlägige Rechtsprechung des Großen Senats, nach dessen Beschluß vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167) Versicherte sich grundsätzlich auf das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes verweisen lassen müssen. Eine Ausnahme davon gilt für Versicherte, die nur auf Teilzeitarbeiten verwiesen werden können (vgl BSGE 43, 75, 85; 44, 39). Eine Klärungsbedürftigkeit trotz der umfangreichen Rechtsprechung ist von der Klägerin nicht dargetan worden. Das aber wäre erforderlich gewesen. Der Hinweis auf eine "Sonderstellung der versicherten Hausfrau und Mutter" sowie auf den verfassungsrechtlich garantierten Schutz von Ehe und Familie und auf persönliche Freiheitsrechte macht das Eingehen in der Beschwerdebegründung auf die vorhandene höchstrichterliche Rechtsprechung nicht überflüssig.

Die nach alledem nicht formgerecht begründete Beschwerde mußte als unzulässig verworfen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661501

Dieser Inhalt ist unter anderem im TVöD Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge