Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsfrage. Grundsätzliche Bedeutung. Klärungsbedürftigkeit. Rückwirkende Zuerkennung eines höheren Pflegegrades. Abrechnungsverhältnis zwischen Krankenhaus und Krankenkasse
Leitsatz (redaktionell)
1. Tatbestandsmerkmale einer Einzelvergütungsvorschrift mit einer normativ vorgegebenen kurzen Geltungsdauer und einer rechtstatsächlich stattfindenden fortlaufenden Überprüfung und eventuellen Anpassung haben nur bei Hinzutreten besonderer Umstände grundsätzliche Bedeutung.
2. Im Streit über die Anwendbarkeit einer bestimmten DRG muss der Beschwerdeführer daher darlegen, dass 1. die betroffene Einzelvorschrift (bzw. das dort betroffene Tatbestandsmerkmal) im konkreten Fall auf die zur Ermittlung der DRG durchzuführende Groupierung Einfluss hat, 2. die in der kalenderjahresbezogen anzuwendenden Fallpauschalenvereinbarung (FPV) mitgeregelte betroffene Einzelvorschrift in späteren FPV im Wortlaut unverändert erlöswirksam für die Groupierung fortgilt und 3. ein sich daraus in einer Vielzahl von Behandlungsfällen bereits ergebender und zukünftig zu erwartender Streit von den am Abschluss des FPV mitwirkenden Vertragsparteien bislang nicht einvernehmlich gelöst werden konnte oder alternativ, dass 4. der Auslegungsstreit über eine Einzelvorschrift eine strukturelle Frage des Vergütungssystems betrifft, deren Beantwortung - ungeachtet der Fortgeltung der konkret betroffenen Vorschrift - über die inhaltliche Bestimmung der Einzelvorschrift hinaus für das Vergütungssystem als Ganzes oder für einzelne Teile zukünftig von struktureller Bedeutung ist.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 1, § 169 Sätze 2-3; KHG § 17b Abs. 2 S. 1, § 19
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. November 2021 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 228,59 Euro festgesetzt.
Gründe
I
Die Klägerin ist Trägerin eines nach § 108 Nr 2 SGB V zur Versorgung zugelassenen Krankenhauses (im Folgenden: Krankenhaus). In diesem behandelte sie einen Versicherten der beklagten Krankenkasse (im Folgenden: KK) vom 15.2. bis 1.3.2019 stationär, der seit 2017 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegegrad 1 bezog. Mit Bescheid vom 4.4.2019 bewilligte die Pflegekasse dem Versicherten rückwirkend ab dem 12.2.2019 (Datum der Antragstellung) Kombinationsleistungen nach Pflegegrad 4. Das Krankenhaus rechnete den Behandlungsfall nach der DRG F65A ab und stellte der KK auch das Zusatzentgelt ZE 163 (erhöhter Pflegeaufwand bei pflegebedürftigen Patienten) iHv 228,59 Euro in Rechnung. Dabei berücksichtigte sie den OPS 9-984.9 (Pflegebedürftigkeit: Pflegebedürftig nach Pflegegrad 4). Die KK beglich - nach Überprüfung des Behandlungsfalls durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) - die Rechnung bis auf das Zusatzentgelt ZE 163. Dieses habe das Krankenhaus nicht in Rechnung stellen dürfen, weil der Pflegegrad 4 erst nach dem Ende des stationären Aufenthalts festgestellt worden sei. Das SG hat die hierauf gerichtete Klage des Krankenhauses abgewiesen (Urteil vom 4.3.2021). Auf die Berufung des Krankenhauses hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die KK zur Zahlung von 228,59 Euro nebst Zinsen verurteilt. Das Krankenhaus habe zu Recht die OPS-Prozedur 9-948.9 kodiert und dementsprechend das Zusatzentgelt ZE 163 berechnet. Hinsichtlich der Zuordnung zu einem Pflegebedarf sei auf den entsprechenden Bescheid der Pflegekasse abzustellen. Dabei komme es nicht auf das Datum des Bescheides an, sondern auf dessen Regelungsinhalt. Ein Wechsel des Pflegegrades während der stationären Behandlung sei nicht erfolgt (Urteil vom 30.11.2021).
Die Beklagte wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht ungeachtet der von der Klägerin aufgeworfenen Frage der Formwirksamkeit (vgl dazu im Übrigen Müller in jurisPK-ERV, § 65a SGG RdNr 184.1, Stand 3.3.2022; BR-Drucks 645/17 S 20) nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des allein geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung.
1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 ff mwN). Dem wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.
a) Die Beklagte formuliert als Rechtsfrage:
"Wirkt sich die rückwirkende Zuerkennung eines höheren Pflegegrades für einen Versicherten nach Beendigung einer stationären Krankenhausbehandlung rückwirkend auf das Abrechnungsverhältnis zwischen Krankenhaus und Krankenkasse durch Kodierung des OPS 9-984 für den höheren Pflegegrad bzw. des Zusatzentgelts ZE163 aus?"
b) Die Beklagte erfüllt nicht die für das als DRG-basiertes Vergütungssystem der Krankenhausfinanzierung geltenden besonderen Darlegungsanforderungen (vgl hierzu ausführlich BSG vom 19.7.2012 - B 1 KR 65/11 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 10 ff mwN; BSG vom 12.8.2020 - B 1 KR 46/19 B - juris RdNr 7 f). Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage erwächst daraus, dass ihre Klärung nicht nur für den Einzelfall, sondern im Interesse der Fortbildung des Rechts oder seiner einheitlichen Auslegung erforderlich ist. Bei auslaufendem Recht (vgl hierzu zB BSG vom 21.6.2011 - B 4 AS 14/11 B - juris RdNr 5; BSG vom 26.4.2007 - B 12 R 15/06 B - juris RdNr 9; BSG vom 28.11.1975 - 12 BJ 150/75 - SozR 1500 § 160a Nr 19) setzt dies grundsätzlich voraus, dass entweder noch eine erhebliche Zahl von Fällen auf der Grundlage des ausgelaufenen Rechts zu entscheiden ist, oder sich die fortwirkende allgemeine Bedeutung aus anderen besonderen Umständen ergibt, etwa, dass an die Stelle der bisherigen Regelung eine inhaltsgleiche getreten ist (vgl etwa BSG vom 17.3.2010 - B 6 KA 23/09 B - juris RdNr 32; BSG vom 11.5.1993 - 12 BK 1/93 - juris RdNr 2).
Im Falle des DRG-basierten Vergütungssystems kommt hinzu, dass es vom Gesetzgeber als jährlich weiter zu entwickelndes (§ 17b Abs 2 Satz 1 Krankenhausfinanzierungsgesetz - KHG) und damit als ein "lernendes" System angelegt ist und deswegen bei zutage tretenden Unrichtigkeiten oder Fehlsteuerungen in erster Linie die Vertragsparteien berufen sind, diese mit Wirkung für die Zukunft zu beseitigen (vgl BSG vom 19.7.2012 - B 1 KR 65/11 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 11 mwN; vgl für die Zeit ab dem 1.1.2020 auch die Regelungen des § 19 KHG über den Schlichtungsausschuss auf Bundesebene, dessen Aufgabe nach Abs 2 der Vorschrift die verbindliche Klärung von Kodier- und Abrechnungsfragen von grundsätzlicher Bedeutung ist). Tatbestandsmerkmale einer Einzelvergütungsvorschrift mit einer normativ vorgegebenen kurzen Geltungsdauer und einer rechtstatsächlich stattfindenden fortlaufenden Überprüfung und eventuellen Anpassung haben daher nur bei Hinzutreten besonderer Umstände grundsätzliche Bedeutung. Im Streit über die Anwendbarkeit einer bestimmten DRG muss der Beschwerdeführer daher darlegen, dass 1. die betroffene Einzelvorschrift (bzw das dort betroffene Tatbestandsmerkmal) im konkreten Fall auf die zur Ermittlung der DRG durchzuführende Groupierung Einfluss hat, 2. die in der kalenderjahresbezogen anzuwendenden Fallpauschalenvereinbarung (FPV) mitgeregelte betroffene Einzelvorschrift in späteren FPV im Wortlaut unverändert erlöswirksam für die Groupierung fortgilt und 3. ein sich daraus in einer Vielzahl von Behandlungsfällen bereits ergebender und zukünftig zu erwartender Streit von den am Abschluss des FPV mitwirkenden Vertragsparteien bislang nicht einvernehmlich gelöst werden konnte. Alternativ kann sich eine grundsätzliche Bedeutung auch daraus ergeben, dass 4. der Auslegungsstreit über eine Einzelvorschrift eine strukturelle Frage des Vergütungssystems betrifft, deren Beantwortung - ungeachtet der Fortgeltung der konkret betroffenen Vorschrift - über die inhaltliche Bestimmung der Einzelvorschrift hinaus für das Vergütungssystem als Ganzes oder für einzelne Teile zukünftig von struktureller Bedeutung ist.
Hieran richtet die Beklagte ihr Vorbringen nicht aus. Sie legt nicht dar, dass sich in einer Vielzahl von Behandlungsfällen ein von den Vertragsparteien bislang nicht einvernehmlich gelöster Streit ergeben hat, oder, dass eine über die Auslegung der Einzelvorschrift hinausgehende strukturelle Frage des Vergütungssystems betroffen ist. Die pauschale und lediglich mit zwei weiteren erstinstanzlichen Verfahren unterlegte Behauptung der Beklagten, die aufgeworfene Rechtsfrage habe Bedeutung für eine unbestimmte Anzahl weiterer Behandlungsfälle sowie die bloße Mutmaßung, die vorliegende Konstellation dürfte nicht selten auftreten, genügen hierfür nicht.
2. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO, diejenige über den Streitwert auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG.
Schlegel Estelmann Bockholdt
Fundstellen
Dokument-Index HI15148886 |