Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Vertragspsychotherapeutische Versorgung. Bedarfsunabhängige Zulassung. Teilnahme. Annähernd halbtätige Tätigkeit. Beweismittel. Behandlungsstunden
Leitsatz (redaktionell)
1. Für den Nachweis der Voraussetzungen der „Teilnahme” i. S. von § 95 Abs. 10 S. 1 Nr. 3 SGB V ist von der Geltung der allgemein im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zum Nachweis der Anspruchsvoraussetzungen einer gesetzlichen Vorschrift vorgesehenen Regelungen und Grundsätze – insbesondere von § 21 SGB X, §§ 103, 128 SGG, § 118 SGG i. V. m §§ 415ff. ZPO auszugehen.
2. Im sozialgerichtlichen Verfahren können auch die Äußerungen eines Beteiligten geeignet sein, Nachweis zu führen, wenn sie glaubhaft sind, der Lebenserfahrung entsprechen und nicht zu anderen festgestellten Tatsachen in Widerspruch stehen.
3. Die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung geforderten „250 Behandlungsstunden innerhalb eines 6- bis 12-Monats-Zeitraums” halten sich dann im Rahmen der Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals „teilgenommen haben” (= „annähernd halbtätige Tätigkeit”), wenn diese Stundenzahl – ausgehend von 43 Arbeitswochen jährlich – innerhalb eines Halbjahreszeitraums erbracht worden ist und sich so durchschnittlich mindestens 11,6 Behandlungsstunden wöchentlich ergeben.
Normenkette
SGB V § 95 Abs. 10 S. 1 Nr. 3; SGB X § 21 Abs. 1; SGG §§ 103, 128, 118, 160 Abs. 2; ZPO § 415
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. März 2002 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darum, ob der Beigeladene zu 5., ein 1957 geborener, 1984 diplomierter Psychologe, bedarfsunabhängig als Psychologischer Psychotherapeut zuzulassen ist. Der Beigeladene führt seit 1985 ambulante psychotherapeutische Behandlungen durch, ua bei Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Bis Juni 1997 betrieb er eine Gemeinschaftspraxis mit einem anderen Psychologen und erbrachte in der Zeit vom 25. Juni 1994 bis 24. Juni 1997 (sog Zeitfenster) ca 1.090 Behandlungsstunden an Versicherte im sog Kostenerstattungsverfahren; aus selbstständiger Tätigkeit erzielte er 1994 bis 1997 Jahreseinnahmen zwischen ca 42.000 und 60.000 DM.
Nachdem der Zulassungsausschuss den Beigeladenen zu 5. antragsgemäß zur vertragspsychotherapeutischen Versorgung in Euskirchen – einem wegen Überversorgung gesperrten Planungsbereich – bedarfsunabhängig zugelassen hatte, erhob die klagende Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) dagegen „wegen fehlenden Fachkundenachweises”) Widerspruch, den der beklagte Berufungsausschuss zurückwies. Das von der KÄV angerufene Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin – nun auch begründet mit unzureichender Vortätigkeit des Beigeladenen zu 5. – hat der Beklagte die Zulassung in eine Ermächtigung zur Nachqualifikation umgewandelt. Das Landessozialgericht (LSG) hat sodann nach zwei Terminen zur mündlichen Verhandlungen und nach Auswertung von persönlichen Kalendern des Beigeladenen zu 5. die Berufung zurückgewiesen: Er habe Anspruch auf bedarfsunabhängige Zulassung, weil er auf der Grundlage der vom Bundesverfassungsgericht bestätigten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Zeitfenster an der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung der Versicherten der GKV „teilgenommen” habe. „Zumindest für den Zeitraum der letzten 12 Monate des Zeitfensters” sei er im erforderlichen Mindestumfang tätig gewesen; er habe sich nach der gebotenen Gesamtschau in eigener Praxis eine berufliche Existenz mit einem für eine Berufstätigkeit typischen Ausmaß geschaffen. Er weise im 2. Halbjahr 1996 225 Therapiestunden und im 1. Halbjahr 1997 349 Therapiestunden bei einem Anteil seiner GKV-Patienten von 90 % auf. Daraus errechneten sich für die „letzten Monate des Zeitfensters” durchschnittlich 12 Behandlungsstunden und „für die letzten sechs Monate” 14,5 Behandlungsstunden wöchentlich. Diese Feststellungen seien nach dem Akteninhalt, den im Rahmen der mündlichen Verhandlung gefertigten Aufstellungen des Beigeladenen zu 5. und seinem persönlichen Kalender getroffen worden. Der Beigeladene habe die sich aus den Kalendern für 1996/97 ergebende Verteilung von ca 780 Stunden nachvollziehbar erläutern können (Urteil vom 20. März 2002).
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG macht die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend und rügt die Abweichung des LSG von der Rechtsprechung des BSG.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde der Klägerin ist unbegründet. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (Zulassungsgrund des § 160 Abs 1 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), noch trifft es zu, dass das LSG von der Rechtsprechung des BSG abgewichen ist (Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG).
Für die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung iS von § 160 Abs 1 Nr 1 SGG bedarf es einer klar formulierten, konkreten Rechtsfrage, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist. An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es, wenn sich die Antwort bereits ohne Weiteres aus dem Gesetz oder der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung entnehmen lässt. So verhält es sich hier.
Die Würdigung der Beschwerdebegründung ergibt, dass der Senat die entscheidungserhebliche rechtliche Problematik zum notwendigen Umfang der Vortätigkeit eines psychologisch-psychotherapeutischen Zulassungsbewerbers im Zeitfenster iS von § 95 Abs 10 Satz 1 Nr 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) bereits in seinen Urteilen vom 8. November 2000 (zB BSGE 87, 158 ff = SozR 3-2500 § 95 Nr 25) in ausreichendem Umfang behandelt hat. Ein in einem Revisionsverfahren nachzugehender Bedarf nach erneuter bzw weiter gehender Klärung der von der Klägerin aufgeworfenen Frage, „ob der persönliche Kalender des Beigeladenen zu 5. geeignet ist, den entsprechenden Nachweis (gemeint: für ca 780 Behandlungsstunden in der zweiten Hälfte des Zeitfensters) zu erbringen”, besteht nicht. Die vom Senat abstrakt – dh nicht nur einzelfallbezogen auf die persönlichen Verhältnisse des Beigeladenen zu 5. – verstandene Frage beantwortet sich ohne Weiteres aus den Entscheidungsgründen der genannten Urteile. Der Senat hat darin keine Aussagen getroffen, aus denen sich entnehmen oder folgern ließe, dass die Voraussetzungen der „Teilnahme” nur mit bestimmten Beweismitteln nachgewiesen werden können. Sonstige Anhaltspunkte, die eine solche rechtliche Beurteilung gebieten könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Daher kann nur von der Geltung der allgemein im Verwaltungs- und Gerichtsverfahrensrechts zum Nachweis der Anspruchsvoraussetzungen einer gesetzlichen Vorschrift vorgesehenen Regelungen und Grundsätze – insbesondere von § 21 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch, §§ 103, 128 SGG, § 118 SGG iVm §§ 415 ff Zivilprozessordnung – ausgegangen werden. Es ist im Übrigen bereits in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt, dass im sozialgerichtlichen Verfahren auch die Äußerungen eines Beteiligten geeignet sind, Nachweis zu führen, wenn sie glaubhaft sind, der Lebenserfahrung entsprechen und nicht zu anderen festgestellten Tatsachen in Widerspruch stehen (vgl BSG SozR Nr 20 und Nr 56 zu § 128 SGG; Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 103 RdNr 7a mwN, § 128 RdNr 4; Martin in Wenner/Terdenge/Martin, Grundzüge der Sozialgerichtsbarkeit, 2. Aufl 1999, RdNr 435; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, § 128 SGG RdNr 33). Auf die nur den vorliegenden Einzelfall betreffenden Bedenken der Klägerin gegen die konkrete Beweisführung des Beigeladenen zu 5. und die Beweiswürdigung des LSG – die der Beklagte teilt – kann eine Grundsatzrüge dagegen nicht gestützt werden. Verfahrensfehler iS von § 160 Abs 1 Nr 3 SGG sind nicht als Revisionszulassungsgründe gerügt worden.
Die Rüge, das LSG sei von der Rechtsprechung des BSG abgewichen (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 2 SGG), da es den Begriff der „Teilnahme” iS von § 95 Abs 10 Satz 1 Nr 3 SGB V anders ausgelegt habe als das BSG in seinen Urteilen vom 8. November 2000, ist ebenfalls unbegründet. Selbst wenn man im Beschwerdevortrag die ausreichende Darlegung zweier einander widersprechender Rechtssätze in den Urteilen des LSG und des BSG sieht, liegt jedenfalls die behauptete Divergenz mangels Auswirkung der Abweichung auf das Ergebnis der LSG-Urteils nicht vor. Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass sich das LSG hier „wie in anderen Verfahren” ausdrücklich an die Rechtsprechung des Senats vom 8. November 2000 angeschlossen hat (Seite 5 unten, Seite 6 unten und Seite 8 1. Absatz am Ende des LSG-Urteils), und eine bloße fehlerhafte Subsumtion unter diese Rechtsprechungsgrundsätze für sich genommen nicht zur Abweichung davon und zur Revisionszulassung führt. Entscheidend ist darüber hinaus, dass das LSG zu seinem Urteilsausspruch ausgehend von der Feststellung gelangt ist, dass der Beigeladene im 2. Halbjahr 1996 225 Therapiestunden und im 1. Halbjahr 1997 349 Therapiestunden aufweist; angesichts des 90 %-Anteils an GKV-Patienten hat es für die letzten 12 Monate des Zeitfensters durchschnittlich 12 Behandlungsstunden wöchentlich und für die letzten sechs Monate zu 14,5 Behandlungsstunden wöchentlich errechnet. Mit diesen Daten, gegen deren Ermittlung Verfahrensrügen nicht erhoben worden sind, lassen sich die Anspruchsvoraussetzungen auf der Grundlage der Rechtsprechung des Senats ohne Weiteres erfüllen. Der Senat hat nämlich entschieden, dass die ursprünglich von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung geforderten „250 Behandlungsstunden innerhalb eines 6- bis 12-Monats-Zeitraums” sich dann im Rahmen der Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals „teilgenommen haben” (= „annähernd halbtätige Tätigkeit”) halten, wenn diese Stundenzahl – ausgehend von 43 Arbeitswochen jährlich – innerhalb eines Halbjahreszeitraums erbracht worden ist und sich so durchschnittlich mindestens 11,6 Behandlungsstunden wöchentlich ergeben (so BSGE 87, 158, 178 = SozR 3-2500 § 95 Nr 25 S 126). Wenn der Beigeladene zu 5. durchschnittlich 12 Behandlungsstunden wöchentlich sogar in den letzten 12 Monaten des Zeitfensters und 14,5 Behandlungsstunden wöchentlich für die letzten sechs Monate aufweist, liegt er offensichtlich jeweils über der vom Senat gezogenen Grenze, sodass mit Blick darauf keine Rechtsprechungsabweichung vorliegt.
Ob die vom Senat weiter entwickelte Mindestgrenze von durchschnittlich 15 wöchentlichen Behandlungsstunden in den letzten drei Monaten des Zeitfensters nur für psychotherapeutisch tätige Psychologen gilt, die weniger als sechs Monate Praxistätigkeit aufweisen, weil sie erst zu Beginn oder im Frühjahr 1997 mit ihrer selbstständigen Behandlungstätigkeit begannen (so der Senat aaO S 179 = SozR aaO S 127), oder auch für Zulassungsbewerber, deren Praxis schon seit längerer Zeit bestand (wovon das LSG auf Seite 10 f seines Urteils auszugehen scheint), kann bei alledem dahinstehen; denn dieser Gesichtspunkt ist angesichts der für die letzten zwölf bzw sechs Monate des Zeitfensters zu Gunsten des Beigeladenen zu 5. getroffenen Feststellungen für das LSG-Urteil nicht tragend und entscheidungserheblich gewesen, sondern stellt bei verständiger Würdigung lediglich eine ergänzende Begründung iS eines obiter dictum dar.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG in der bis zum Inkrafttreten des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17. August 2001 (BGBl I 2144) am 2. Januar 2002 geltenden und hier noch anzuwendenden alten Fassung. Eine Kostenerstattung kam danach nach billigem Ermessen nicht in Betracht, weil der Beklagte sich der Auffassung der Klägerin angeschlossen und der Beigeladene zu 5. sich nicht aktiv am Beschwerdeverfahren beteiligt hat.
Fundstellen