Entscheidungsstichwort (Thema)
Bezeichnung des angegriffenen Urteils in der Nichtzulassungsbeschwerde. Verzicht auf mündliche Verhandlung. wesentliche Änderung der Prozesslage. rechtliches Gehör
Leitsatz (amtlich)
1. Die unzureichende Bezeichnung des mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffenen Urteils ist unschädlich, wenn sich die fehlenden Informationen aus dem übrigen Inhalt der Beschwerdeschrift zweifelsfrei ermitteln lassen.
2. Eine wesentliche Änderung der Prozesslage, die dem Verzicht auf mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG die Grundlage entzieht, kann auch darin liegen, dass das Gericht seine den Beteiligten mitgeteilte Rechtsauffassung zu einer entscheidungserheblichen Frage nicht mehr aufrechterhält.
Orientierungssatz
Die Erklärung, dass auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werde, steht regelmäßig unter dem Vorbehalt der im wesentlichen unveränderten Sach-, Beweis- und Rechtslage; sie besagt, dass der Beteiligte unter den gegenwärtigen Verhältnissen und nach dem aktuellen Erkenntnisstand eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, weil aus seiner Sicht der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt ist und die notwendigen rechtlichen Argumente ausgetauscht sind. Ändert sich die Prozesslage wesentlich, so entzieht das dem bisherigen Verzicht die Grundlage; die Einverständniserklärung ist dann verbraucht und muss neu eingeholt werden, wenn das Gericht weiterhin ohne mündliche Verhandlung entscheiden will (vgl BSG vom 6.10.1999 - B 1 KR 17/99 R = SozR 3-1500 § 124 Nr 4 mwN).
Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 GG).
Normenkette
SGG §§ 62, 124 Abs. 1-2, § 160a Abs. 1 S. 3
Verfahrensgang
SG Kiel (Entscheidung vom 15.05.2002; Aktenzeichen S 5 U 187/99) |
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 26.11.2003; Aktenzeichen L 8 U 97/02) |
Tatbestand
Die Klägerin, ein Bewachungsunternehmen, wendet sich gegen die Höhe der von der beklagten Berufsgenossenschaft für das Jahr 1998 geforderten Unfallversicherungsbeiträge. Sie begehrt eine Herabsetzung der Gefahrklasse wegen einer von der üblichen erheblich abweichenden Betriebsweise. Die Klage war in beiden Vorinstanzen erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt, ein Qualitätsmanagementsystem mit integriertem Arbeitsschutz begründe keine besondere Betriebsweise und sei im übrigen auch nicht als unüblich zu qualifizieren. Es handele sich vielmehr um Präventionsstandards, die von "normalen" Unternehmen des jeweiligen Gewerbezweiges ohne weiteres zu erwarten seien und deshalb keine Beitragsnachlässe rechtfertigen könnten. Selbst wenn nur eine Minderheit der zur Gefahrtarifstelle gehörenden Unternehmen einen gleichwertigen Präventionsstand erfüllen sollte, seien dies jedenfalls keine "Einzelfälle" im Sinne der einschlägigen Bestimmung des Gefahrtarifs, da es hierfür nicht auf die Zahl der Unternehmen, sondern auf die Zahl der durch die Arbeitsschutzmaßnahmen begünstigten Versicherten ankomme. Die Klägerin könne sich schließlich nicht auf Vertrauensschutz berufen. Zwar habe sie aufgrund der Ausführungen im "Sicherheitsreport 3/97" der Beklagten die Erwartung hegen können, dass die von ihr getroffenen Maßnahmen wie in der Vergangenheit auch in der kommenden Gefahrtarif-Periode zu einer Herabsetzung führen würden. Es habe aber weder eine rechtsverbindliche Zusage gegeben, noch habe die Klägerin angesichts der Verbesserungen bei anderen Unternehmen davon ausgehen können, dass ihre bisherige Vorreiterrolle bei der Erfüllung von Sicherheitsstandards auch in Zukunft erhalten bleiben werde.
Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin geltend, der Rechtsstreit habe grundsätzliche Bedeutung. Des weiteren rügt sie Verfahrensmängel: Das LSG habe ohne ihr Einverständnis im schriftlichen Verfahren entschieden; inhaltlich handele es sich um eine Überraschungsentscheidung, mit der sie nach dem Verfahrensverlauf nicht habe rechnen müssen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig erhoben. Wird der Beschwerdeschrift wie im vorliegenden Fall entgegen § 160a Abs 1 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) keine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des angegriffenen Urteils beigefügt, muss der Beschwerdeführer dieses Urteil durch Angabe des Gerichts, des Urteilsdatums und des Aktenzeichens so genau bezeichnen, dass es vom Bundessozialgericht (BSG) zweifelsfrei identifiziert werden kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 16). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdeschrift, obwohl die Klägerin versehentlich nicht angegeben hat, welches LSG das mit Datum und Aktenzeichen bezeichnete Urteil erlassen hat.
Fehlende Angaben oder Ungenauigkeiten bei der Bezeichnung des Urteils sind unschädlich, wenn sich aus dem sonstigen Inhalt der Beschwerdeschrift oder aus weiteren Umständen ergibt, welche Entscheidung gemeint ist. Der verfassungsrechtlich verankerte Anspruch auf ein faires Verfahren gebietet, dass das Gericht die vorhandenen Möglichkeiten der Auslegung der Beschwerdeschrift und sonstiger bis zum Ablauf der Beschwerdefrist vorliegender Unterlagen nutzt, um sich die notwendige Klarheit zu verschaffen, da andernfalls der Zugang zu der durch die Prozessordnung eröffneten Beschwerdeinstanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert würde (vgl BVerfG NJW 1991, 3140; BAG NZA 1997, 456; BGH NJW 1993, 1719; BGH VersR 1993, 1549; BGH NJW 2001, 1070, jeweils mwN). Ob das gegebenenfalls auch die Verpflichtung einschließt, fehlende Informationen durch Rückfrage beim Beschwerdeführer oder beim LSG selbst zu ermitteln, kann dahingestellt bleiben, weil im konkreten Fall bereits die Angaben in der Beschwerdeschrift eine eindeutige Bestimmung des angefochtenen Urteils ermöglicht haben. Aus der Bezeichnung der Klägerin mit Firmensitz und genauer Anschrift ließ sich in Verbindung mit den Regelungen der §§ 57 und 59 SGG das örtlich zuständige Sozialgericht (SG) und damit auch das für die Berufung zuständige LSG präzise ermitteln, so dass über die Urheberschaft des ansonsten korrekt und vollständig bezeichneten Urteils kein Zweifel bestehen konnte.
Die Beschwerde ist auch begründet. Das angefochtene Urteil ist unter Verstoß gegen den in § 124 Abs 1 SGG festgelegten Grundsatz der mündlichen Verhandlung ergangen. Dieser von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel führt gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Aufhebung der Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Wie sich aus den Akten ergibt, hat das Berufungsgericht am 27. August 2003 eine mündliche Verhandlung durchgeführt und die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten erörtert. Nach Zwischenberatung und Wiedereintritt in die Verhandlung hat es seine Rechtsauffassung wie folgt mitgeteilt:
"Das Gericht leitet aus der Veröffentlichung auf Seite 44 des Sicherheitsreports 3/97 ab, dass bei der Klägerin ein gewisses Vertrauen dahingehend geschützt worden ist, dass auch nach dem GFT 1998 ein Qualitätsmanagementsystem mit integriertem Arbeitsschutz zur Annahme einer erheblich abweichenden Betriebsweise führen würde und deshalb von der Beklagten weiterhin im Sinne einer Herabsetzung der Gefahrklasse berücksichtigt werden würde. Dieser Vertrauensschutz könnte aber maximal bis zum Erlass des Ablehnungsbescheides vom 24. Juni 1999 bestanden haben."
Dieser rechtliche Hinweis wurde in die Sitzungsniederschrift aufgenommen. Anschließend hat das LSG zur Erledigung des Rechtsstreits einen Vergleichsvorschlag unterbreitet, demzufolge die Beklagte der Klägerin einen Teil der in den Jahren 1998 und 1999 nach der Gefahrtarifstelle 14 berechneten Beiträge erstatten sollte. Der Vergleich wurde mit Widerrufsvorbehalt abgeschlossen; für den Fall des Widerrufs haben sich beide Seiten mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Vergleich wurde später von beiden Seiten widerrufen. In dem ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteil, mit dem es die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen hat, hat das LSG wie dargelegt die Auffassung vertreten, dass auch aus den Ausführungen der Beklagten im Sicherheitsreport kein Vertrauensschutz herzuleiten sei.
Die Beschwerde macht mit Recht geltend, dass bei diesem Sachverhalt im Zeitpunkt der Beschlussfassung über das Urteil kein wirksames Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (mehr) vorlag und deshalb die Voraussetzungen des § 124 Abs 2 SGG nicht erfüllt waren. Die Erklärung, dass auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werde, steht regelmäßig unter dem Vorbehalt der im wesentlichen unveränderten Sach-, Beweis- und Rechtslage; sie besagt, dass der Beteiligte unter den gegenwärtigen Verhältnissen und nach dem aktuellen Erkenntnisstand eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, weil aus seiner Sicht der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt ist und die notwendigen rechtlichen Argumente ausgetauscht sind. Ändert sich die Prozesslage wesentlich, so entzieht das dem bisherigen Verzicht die Grundlage; die Einverständniserklärung ist dann verbraucht und muss neu eingeholt werden, wenn das Gericht weiterhin ohne mündliche Verhandlung entscheiden will (BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 4 mwN).
Zu den für den Verzicht auf mündliche Verhandlung bedeutsamen Umständen kann auch das Vertrauen in die Maßgeblichkeit einer vom Gericht den Beteiligten gegenüber vorgenommenen rechtlichen Bewertung des Prozessstoffs gehören. Freilich ist nicht jeder im Laufe des Verfahrens vom Vorsitzenden oder einem Mitglied des Spruchkörpers gegebene rechtliche Hinweis dazu angetan, ein solches Vertrauen zu begründen. Wird im Zuge der Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses (§ 112 Abs 2 Satz 2 und Abs 4 SGG) mit den Beteiligten ein Rechtsgespräch geführt, sind die dort geäußerten Rechtsansichten erkennbar unverbindlich und enthalten keine Festlegungen, auf die sich die Beteiligten bei ihrer weiteren Prozessführung einstellen können. Anders ist es jedoch, wenn wie hier das Gericht nach Durchführung einer förmlichen Beratung seine Rechtsauffassung zu einer entscheidungserheblichen Frage zu Protokoll gibt und hieran Vorschläge für eine sachgerechte Lösung und prozessuale Behandlung des Falles knüpft. Wenn aus einem solchen Vorgehen auch keine Bindung für eine spätere Entscheidung erwächst, beinhaltet es doch eine zumindest vorläufige rechtliche Festlegung, die den Beteiligten als Grundlage für ihre weiteren Dispositionen dienen soll. Deckt sich die vom Gericht verlautbarte Rechtsauffassung mit der eigenen, kann der Betroffene davon ausgehen, dass die Rechtsfrage in seinem Sinne beantwortet werden wird. Wenn er in dieser Situation einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zustimmt, geschieht das in der Erwartung, dass es bei der eingenommenen Rechtsposition verbleibt und eine vertiefte Erörterung der damit zusammenhängenden Fragen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung nicht mehr erforderlich ist. Will das Gericht an der geäußerten Rechtsauffassung nicht festhalten, ändert dies die für den Verzicht auf eine mündliche Verhandlung maßgebend gewesene Prozesslage und führt dazu, dass die Einverständniserklärung ihre Wirksamkeit verliert.
Hier kommt hinzu, dass die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 8. September 2003 zugleich mit dem Widerruf des Vergleichs neue, durch Zahlen untermauerte Argumente für ihre Auffassung vorgetragen hatte, dass Maßnahmen der besonderen Arbeitsschutzorganisation bereits Ende 1997 branchenüblich gewesen seien und sich deshalb ein Vertrauenstatbestand bezüglich zukünftiger Herabsetzungsentscheidungen gar nicht habe bilden können. Auch solches erhebliches neues Vorbringen der Gegenseite in Bezug auf den Streitgegenstand führt in der Regel zu einem Verbrauch der Einverständniserklärung, weil es den bisherigen Streitstand verändert und das Gericht und die übrigen Beteiligten zu einer Neubewertung zwingt.
Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 Grundgesetz). Ob sich das angegriffene Urteil, wie die Beschwerde meint, wegen des nicht angekündigten Wechsels der rechtlichen Argumentation darüber hinaus als unzulässige Überraschungsentscheidung darstellt und auch unter diesem Gesichtspunkt das Prozessgrundrecht der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, kann dahingestellt bleiben.
Auf dem festgestellten Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn die Klägerin Veranlassung und Gelegenheit gehabt hätte, sich in einer mündlichen Verhandlung zu den rechtlichen und tatsächlichen Aspekten eines möglichen Vertrauensschutzes in der in der Beschwerdebegründung dargestellten Weise zu äußern und die dort formulierten Beweisanträge zu stellen.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn wie hier die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1383936 |
NZS 2006, 223 |
SozR 4-1500 § 124, Nr. 1 |