Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit der Berufung. Verfahrensmangel. Vorabentscheidung

 

Orientierungssatz

Bei der Prüfung, ob dem SG ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, ist von dessen Auffassung zum materiellen Recht auszugehen. Hat das SG keine Vorabentscheidung des EuGH eingeholt, weil es sein Urteil allein auf die Verneinung innerstaatlicher Anspruchsnormen gestützt und auch nicht im entferntesten die Anwendung von Gemeinschaftsrecht in Betracht gezogen hat, so kann hierin von vornherein kein Verfahrensfehler liegen.

 

Normenkette

SGG § 150 Nr. 2; EWGVtr Art. 177 Abs. 3

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 28.12.1993; Aktenzeichen L 8 Al 50/92)

SG Nürnberg (Entscheidung vom 18.11.1991; Aktenzeichen S 16 Al 524/89)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Kostenerstattung für ein durch zwei Instanzen erfolglos geführtes Gerichtsverfahren sowie für ein daran anschließendes, erfolgreiches, Verwaltungsverfahren nach § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X).

Der Kläger ist niederländischer Staatsangehöriger. Er war durch ein deutsches Unternehmen in den Irak entsandt worden. Seinen im Jahre 1985 gestellten Antrag auf Konkursausfallgeld (Kaug) lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, er habe weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) gehabt. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg; das Bayerische Landessozialgericht (LSG) verwarf die Berufung.

Im Rahmen eines vom Kläger angeregten Aufsichtsverfahrens der Kommission der Europäischen Gemeinschaften bewilligte die Beklagte im Jahre 1989 dem Kläger das beantragte Kaug nebst Zinsen, lehnte jedoch die Kostenerstattung für das Gerichts- und das anschließende Verwaltungsverfahren ab. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Das Sozialgericht (SG) hat in seinem Urteil die Auffassung vertreten, daß für das Begehren des Klägers eine Rechtsgrundlage fehle. Mit Beschluß vom 28. Dezember 1993 hat das LSG die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Nach dem noch anwendbaren § 144 Abs 1 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aF sei eine Berufung bei Ansprüchen auf einmalige Leistungen nicht zulässig. Hierzu gehöre der vom Kläger verfolgte Anspruch auf Kostenerstattung. Die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung des SG, die Berufung gegen das Urteil sei zulässig, sei nicht als Zulassung der Berufung nach § 150 Nr 1 SGG aF zu werten. Dem SG sei auch kein vom Kläger gerügter Verfahrensmangel iS des § 150 Nr 2 SGG aF unterlaufen. Durch die unterlassene Einholung einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) nach Art 177 Abs 3 des EWG-Vertrages habe das SG den Kläger seinem gesetzlichen Richter nicht iS des Art 101 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) entzogen. Ob die streitige Kostenerstattungspflicht bestehe, sei ausschließlich eine Frage innerstaatlichen Rechts. Unerheblich sei, daß in den vorausgegangenen Verfahren Fragen des Gemeinschaftsrechts aufgeworfen worden seien. Von einer willkürlichen Nichtzulassung der Berufung könne schon deshalb keine Rede sein, da das SG irrtümlich von der Zulässigkeit der Berufung ausgegangen sei.

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger einen Verfahrensfehler. Das LSG habe die Berufung des Klägers unter Verstoß gegen § 150 Nr 2 SGG aF als unzulässig verworfen. Das SG habe seine Vorlagepflicht nach Art 177 Abs 3 EWG-Vertrag verletzt, weil es die Berufung irrtümlich für gegeben gehalten habe. Aufgrund dieses Verfahrensfehlers hätte das LSG nach § 150 Nr 2 SGG aF entweder in der Sache selbst entscheiden und ggf eine Vorabentscheidung des EuGH einholen oder die Revision zulassen müssen oder aber das sozialgerichtliche Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverweisen müssen. Dadurch, daß es dies unterlassen und zu Unrecht einen hinreichenden gemeinschaftsrechtlichen Bezug verneint habe, habe es seinerseits gegen Art 177 EWG-Vertrag und die Garantie des gesetzlichen Richters nach Art 101 Abs 1 Satz 2 GG verstoßen. Entgegen der Auffassung des LSG sei ein gemeinschaftsrechtlicher Bezug iS des Art 177 EWG-Vertrag gegeben. Das begehrte Kaug sei unter Verstoß gegen Art 7 Abs 2 der EWG-Verordnung 1612/68 versagt worden. In einem solchen Falle stehe dem Betroffenen ein öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch zu, welcher den Verwaltungsträger eines Mitgliedstaates verpflichte, den Zustand wiederherzustellen, der bestehen würde, wenn das Gemeinschaftsrecht vorliegend beachtet worden wäre. In diesem Falle aber hätte der Rechtsstreit Erfolg haben müssen; dann wären die außergerichtlichen Aufwendungen unter Einschluß der Kosten seines Bevollmächtigten zu erstatten gewesen. Schließlich trägt der Kläger auch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache vor. Die Frage, ob ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht nach Art 177 EWG-Vertrag ein wesentlicher Verfahrensmangel iS des § 150 Nr 2 SGG aF sei, wenn das SG das Rechtsmittel der Berufung irrtümlich für gegeben halte, sei vom LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 19. März 1991 - L 13 Kg 95/90) bejaht, vom LSG in der angefochtenen Entscheidung jedoch offengelassen und - soweit ersichtlich - bislang vom Bundessozialgericht (BSG) noch nicht entschieden worden.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form entspricht. Nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG muß in der Beschwerdebegründung einer der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Revisionszulassungsgründe detailliert bezeichnet werden. Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.

(1) Die Beschwerde macht als Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend, das LSG habe nicht in der Sache entschieden, dies aber hätte es tun müssen, da dem SG ein im Berufungsverfahren vom Kläger gerügter wesentlicher Verfahrensmangel iS des § 150 Nr 2 SGG aF unterlaufen sei. Das SG hätte nämlich wegen des in Wahrheit gegebenen gemeinschaftsrechtlichen Bezugs eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshof nach Art 177 Abs 3 EWG-Vertrag einholen müssen, wenn es erkannt hätte, daß seine Entscheidung nicht mehr mit innerstaatlichen Rechtsmitteln angefochten werden könne. Mit diesem Vorbringen aber ist ein Verfahrensmangel nicht schlüssig dargetan (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nrn 12, 14). Der Kläger rügt ein Verhalten des LSG, das unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Verfahrensmangel sein kann. Bei der Beurteilung eines Verfahrensmangels des SG kommt es nicht darauf an, ob dieses Gericht, hätte es die materielle Rechtslage richtig beurteilt, eine Vorabentscheidung des EuGH hätte einholen müssen. Im Gegenteil ist bei der Prüfung, ob ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, von der Auffassung des SG zum materiellen Recht auszugehen (BSG SozR 1500 § 60 Nr 33 mwN). Das SG aber hat sein Urteil allein auf die Verneinung innerstaatlicher Anspruchsnormen (§ 44 SGB X, § 63 Abs 1 SGB X, sozialrechtlicher Herstellungsanspruch) gestützt und auch nicht im entferntesten die Anwendung von Gemeinschaftsrecht in Betracht gezogen. Wenn es bei dieser Ausgangslage keinen Anlaß sah, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen, so kann hierin von vornherein kein Verfahrensfehler liegen.

Ebensowenig kann in dem Verhalten des SG ein willkürliche

Nichtzulassung der Berufung liegen. Denn wenn das SG - ausweislich

seiner Rechtsmittelbelehrung - irrtümlicherweise von einer

Zulässigkeit der Berufung ausgeht, kann das Unterlassen einer

ausdrücklichen Zulassung nicht willkürlich sein.

(2) Schließlich hat der Kläger auch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGG) nicht hinreichend dargelegt (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Der Kläger führt insoweit die Rechtsfrage an, ob ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht nach § 177 EWG-Vertrag ein wesentlicher Verfahrensmangel iS des § 150 Nr 2 SGG aF sei, wenn das SG das Rechtsmittel der Berufung irrtümlich für gegeben halte.

Zur Zulässigkeit einer sich auf § 160 Abs 2 Nr 1 SGG stützenden

Beschwerde gehört, daß der Beschwerdeführer im einzelnen darlegt, daß

die Rechtsfrage klärungsbedürftig ist, dh ihre Entscheidung in einer

die Interessen der Allgemeinheit berührenden Weise das Recht oder die

Rechtsanwendung fortentwickeln oder vereinheitlichen wird (ständige

Rechtsprechung, vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 53 mwN). Dabei sind

grundsätzlich nur Rechtsfragen klärungsbedürftig, die sich aus dem

geltenden Recht ergeben. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn noch über

mehrere gleichartige Streitfälle zu entscheiden ist oder die zu

klärende Rechtsfrage nachwirkt und dies von allgemeiner Bedeutung ist.

Dies aber muß vom Beschwerdeführer im einzelnen dargelegt werden, um

die Beschwerde zulässig zu machen (BSG SozR 1500 § 160a Nr 19).

Hieran fehlt es im vorliegenden Fall. Die Beschwerdebegründung führt

aus, daß § 150 Nr 2 SGG, zu dem der Kläger die Rechtsfrage gestellt

hat, nicht mehr gilt. Es fehlt jedoch an jeglichem Vorbringen dazu,

inwieweit trotz des Außerkrafttretens dieser Vorschrift die hiermit

verbundenen Rechtsfragen - ausnahmsweise - klärungsbedürftig blieben.

Darüber hinaus fehlt es an Darlegungen zur Klärungsfähigkeit, also

dazu, daß das BSG im Revisionsverfahren die aufgezeigte Rechtsfrage

notwendigerweise zu entscheiden hat (hierzu BSG SozR 1500 § 160 Nr 39,

§ 160a Nrn 31, 54). Dies liegt schon deshalb nicht auf der Hand, da,

wie oben (unter 1) näher ausgeführt, zur Beurteilung der Frage, ob ein

Verfahrensfehler vorliegt, auf die Rechtsauffassung des SG abzustellen

ist.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654554

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