Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Zugelassener Prozessbevollmächtigter. Begründung. Grundsätzliche Bedeutung. Rechtsfrage. Klärungsbedürftigkeit. Divergenz. Königsteiner Empfehlung. Lärmschwerhörigkeit. Verfahrensmangel. Beweisantrag. Fairness. Rücksichtnahme. Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung. Willkür. Gesetzwidrigkeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Nichtzulassungsbeschwerde bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn nicht zu erkennen ist, dass ein zugelassener Prozessbevollmächtigter in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde erfolgreich zu begründen.
2. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat; die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein.
3. Divergenz (Abweichung) bedeutet Widerspruch im Rechtssatz oder – anders ausgedrückt – das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die den miteinander zu vergleichenden Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind; sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat
4. Von einer Divergenz kann selbst dann nicht ausgegangen werden, wenn das LSG von der Königsteiner Empfehlung für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit abgewichen wäre.
5. Ein Verfahrensmangel, der zur Zulassung der Revision führen könnte, kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 S. 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist, wobei für Beteiligte, die in der Berufungsinstanz nicht durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertreten waren, genügt, dass sie einen konkreten Beweisantrag zumindest sinngemäß gestellt haben.
6. Das Gericht ist nicht verpflichtet, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene bestimmte Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit ihnen zu erörtern.
7. Ein Verstoß gegen die Gebote der Fairness und der Rücksichtnahme käme in Betracht, wenn das LSG das Tatbestandsmerkmal der „Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung” willkürlich oder greifbar gesetzwidrig bejaht hätte.
Normenkette
SGG §§ 62, 73 Abs. 4, § 73a Abs. 1 S. 1, §§ 103, 109, 116 S. 2, § 118 Abs. 1 S. 1, § 128 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nrn. 1-3, § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; ZPO § 114 Abs. 1 S. 1, § 121 Abs. 1, §§ 397, 402, 411 Abs. 4, § 412 Abs. 1; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4 S. 1, Art. 103 Abs. 1; EMRK Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Februar 2017 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt Dr. E. aus K. beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe
Mit vorbezeichnetem Urteil hat es das LSG Nordrhein-Westfalen abgelehnt, die Beklagte im Zugunstenverfahren zu verpflichten, ihren Verwaltungsakt über die Rücknahme der Feststellung einer BK nach Nr 2301 der Anl 1 zur BKV (Lärmschwerhörigkeit; BK 2301) im Bescheid vom 12.12.2011 sowie den Widerspruchsbescheid vom 26.3.2012 zurückzunehmen und dem Kläger Verletztenrente sowie Hörgeräte zu gewähren. Um das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil durchzuführen, hat der Kläger beantragt, ihm Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung des Rechtsanwalts Dr. E. aus K. zu bewilligen.
Dieser Antrag auf PKH und Beiordnung eines Rechtsanwalts ist abzulehnen, weil eine Nichtzulassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 Abs 1 S 1, § 121 Abs 1 ZPO). Es ist nicht zu erkennen, dass ein nach § 73 Abs 4 SGG zugelassener Prozessbevollmächtigter in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers erfolgreich zu begründen.
1. Es ist nicht ersichtlich, dass eine Zulassung der Revision gegen das angegriffene Urteil auf § 160 Abs 2 Nr 1 SGG gestützt werden könnte. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Das ist grundsätzlich nicht der Fall, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch außer Zweifel steht oder die Frage bereits höchstrichterlich entschieden ist (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70). Rechtsfragen, die in diesem Sinne grundsätzliche Bedeutung haben könnten, sind nicht erkennbar.
2. Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) könnte ebenfalls nicht mit Erfolg geltend gemacht werden. Divergenz (Abweichung) bedeutet Widerspruch im Rechtssatz oder - anders ausgedrückt - das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die den miteinander zu vergleichenden Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 mwN). Davon kann vorliegend selbst dann nicht ausgegangen werden, wenn das LSG - wie der Kläger behauptet - von der Königsteiner Empfehlung für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit abgewichen wäre.
3. Schließlich lässt sich auch kein Verfahrensmangel feststellen, der gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Zulassung der Revision führen könnte. Nach Halbs 2 dieser Bestimmung kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Für Beteiligte, die in der Berufungsinstanz - wie hier der Kläger - nicht durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertreten waren, genügt es indessen, dass sie einen konkreten Beweisantrag zumindest sinngemäß gestellt haben.
Zwar hat der Kläger am Schluss der mündlichen Verhandlung sinngemäß beantragt, zum Vorliegen der naturwissenschaftlich-philosophischen Kausalität zwischen den beruflichen Lärmeinwirkungen und seiner Schwerhörigkeit sowie dem Tinnitusleiden von Amts wegen ein Sachverständigengutachten eines HNO-Arztes einzuholen. Hierzu musste sich das LSG aber nicht gedrängt fühlen, weil es das Fehlen des Ursachenzusammenhangs aufgrund des im Vorprozess (L 4 U 480/13) erstatteten Sachverständigengutachtens des HNO-Arztes Prof. Dr. B. vom 28.1.2014, seiner ergänzenden Stellungnahme vom 15.4.2014 und seiner Vernehmung im Termin am 7.11.2014 für erwiesen halten durfte. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die Ausführungen von Prof. Dr. B. im Vorprozess "ungenügend" iS des § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO gewesen sein könnten, sodass die Anordnung einer neuen Begutachtung notwendig geworden wäre. Soweit die Verletzung des Fragerechts (§§ 116 S 2, 118 Abs 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO) und damit zugleich des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) geltend gemacht wird, ist nicht ersichtlich, welche Punkte noch erläuterungsbedürftig und welche Fragen noch offengeblieben sein könnten, obwohl der Sachverständige Prof. Dr. B. im Vorprozess ein schriftliches Gutachten erstattet, zu Einwänden des Klägers ergänzend Stellung genommen und dessen Fragen im Termin beantwortet hat. Darüber hinaus irrt der Kläger, wenn er meint, das Gericht sei verpflichtet, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene bestimmte Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit ihnen zu erörtern (vgl BVerfGK 10, 330, 334; BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3 und § 153 Nr 1 S 3; BSG Beschlüsse vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B - Juris RdNr 9 und vom 5.3.2007 - B 4 RS 58/06 B - Juris RdNr 9). Soweit der Kläger rügt, die Gerichte hätten ihm in Kenntnis seiner finanziellen Situation "Angst gemacht", gedroht und "Kosten aufgelegt", liegt darin keine Verletzung des allgemeinen verfassungsrechtlichen Prozessgrundrechts (Art 1 Abs 1, Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG und Art 19 Abs 4 S 1 GG) auf ein faires Verfahren (Art 6 Abs 1 EMRK), das das Gericht allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Beteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfGE 38, 105, 111 ff; BVerfG Beschlüsse vom 10.6.1975 - 2 BvR 1074/74 - BVerfGE 40, 95, 98 f und vom 19.10.1977 - 2 BvR 462/77 - BVerfGE 46, 202, 210). Ein Verstoß gegen die Gebote der Fairness und der Rücksichtnahme käme allenfalls dann in Betracht, wenn das LSG das Tatbestandsmerkmal der "Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung" (§ 192 Abs 1 S 1 Nr 2 SGG) willkürlich oder greifbar gesetzwidrig bejaht hätte (BSG Beschluss vom 18.2.2015 - B 5 R 421/14 B - BeckRS 2015, 66838 RdNr 6). Dafür bestehen indes keine Anhaltspunkte. Soweit sich der Kläger schließlich mehrfach gegen die Beweiswürdigung des LSG wendet, lässt er unberücksichtigt, dass derartige Rügen im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ausdrücklich ausgeschlossen sind (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG) und die Gewährung von PKH für ein solches Beschwerdeverfahren daher nicht rechtfertigen können.
Da dem Kläger somit keine PKH zu bewilligen ist, hat er nach § 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO auch keinen Anspruch auf Beiordnung des Rechtsanwalts Dr. E. aus K.
Fundstellen
Dokument-Index HI11141407 |