Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtsverfahren. Anhörungsrüge. Beschluss über eine Nichtzulassungsbeschwerde
Orientierungssatz
Auch für einen Beschluss über eine Nichtzulassungsbeschwerde gilt, dass in dieser Entscheidung nicht auf jegliches Beteiligtenvorbringen und jeden denkbaren Gesichtspunkt eingegangen werden muss, wenn sich daraus zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen auch ohne ausdrückliche Erwähnung für unerheblich gehalten wurde (vgl BSG vom 22.3.2018 - B 12 KR 12/17 C = juris RdNr 12).
Normenkette
SGG § § 62, 160a Abs. 4 S. 2 Hs. 1, § 160a Abs. 4 S. 2 Hs. 2, § 178a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 5, Abs. 4 S. 2; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Anhörungsrüge des Klägers gegen den Beschluss des Senats vom 16. Februar 2022 wird zurückgewiesen.
Kosten des Verfahrens über die Anhörungsrüge sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Der Senat hat mit Beschluss vom 16.2.2022 (B 5 R 198/21 B) eine Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 2.6.2021 als unzulässig verworfen und den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren abgelehnt. Der Beschluss des Senats wurde dem Kläger am 3.3.2022 zugestellt. Mit einem am selben Tag eingegangenen Schriftsatz vom 17.3.2022 hat der Kläger eine Anhörungsrüge erhoben. Er macht geltend, der Senat habe in seiner Entscheidung nicht hinreichend dargelegt, warum er den von ihm vorgetragenen Tatsachenbehauptungen und/oder Rechtsauffassungen zu der Frage, ob die Beschwerde innerhalb der Monatsfrist formgerecht eingelegt worden sei, nicht folge. Auch die Ausführungen in dem Beschluss zur nicht formgerechten Begründung des Zulassungsgrunds der grundsätzlichen Bedeutung beruhten auf einer Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör, weil der Senat verkannt habe, dass die von ihm formulierte Frage sehr wohl klärungsbedürftig sei. Eine weitere Gehörsverletzung liege darin, dass der Senat erstmals die Erfüllung der Drei-Fünftel-Belegung thematisiert habe, obwohl das in den Vorinstanzen nicht angesprochen worden sei; ihm hätte Gelegenheit gegeben werden müssen, hierzu Stellung zu nehmen.
II. Die Anhörungsrüge des Klägers gegen den Beschluss vom 16.2.2022 ist - ihre Zulässigkeit unterstellt - jedenfalls unbegründet und daher nach § 178a Abs 4 Satz 2 SGG zurückzuweisen. Hierüber entscheidet der Senat durch Beschluss außerhalb der mündlichen Verhandlung ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs 1 Satz 2 iVm § 40 Satz 1, § 33 Abs 1 Satz 2, § 124 Abs 3, § 153 Abs 1 und § 165 Satz 1 SGG; s dazu BSG Beschluss vom 8.11.2006 - B 2 U 5/06 C - SozR 4-1500 § 178a Nr 6 RdNr 7 f).
Nach § 178a Abs 1 Satz 1 SGG ist auf die Anhörungsrüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten das Verfahren fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist (Nr 1) und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat (Nr 2). Die Rüge muss nach § 178a Abs 2 Satz 5 SGG ua das Vorliegen der in Abs 1 Satz 1 Nr 2 genannten Voraussetzungen darlegen. Dem Vorbringen müssen daher konkrete Umstände zu entnehmen sein, die im Falle ihres Vorliegens tatsächlich eine Verletzung des Anspruchs des Rügeführers auf rechtliches Gehör ergeben. Zugleich ist darzulegen, weshalb ohne die vermeintliche Gehörsverletzung eine für den Rügeführer günstigere Entscheidung nicht ausgeschlossen werden kann (vgl B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 178a RdNr 6b mwN). Es ist bereits zweifelhaft, ob der Kläger mit seinem Vorbringen die Möglichkeit einer Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) durch den Beschluss des Senats vom 16.2.2022 schlüssig dargetan hat. Das bedarf jedoch keiner Vertiefung; die Rüge ist jedenfalls unbegründet.
a) § 62 SGG verpflichtet ebenso wie Art 103 Abs 1 GG die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 22.3.2022 - 1 BvR 618/22 - juris RdNr 18 mwN). Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Fehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Beteiligten haben könnten. Dieses Gebot verpflichtet die Gerichte allerdings nicht, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (stRspr; vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 4.9.2008 - 2 BvR 2162/07 ua - BVerfGK 14, 238, 241 f; BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 31.3.2020 - 1 BvR 2392/19 - juris RdNr 17). Die Gerichte sind auch nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 31.3.2020 aaO). Sie müssen nur das wesentliche, der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienende Vorbringen in den Entscheidungsgründen verarbeiten (stRspr; zB BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 20.2.2008 - 1 BvR 2722/06 - BVerfGK 13, 303, 304 = juris RdNr 11; BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 9.2.2022 - 2 BvR 613/21 - juris RdNr 4). Einem Beschluss über eine Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 1 SGG muss grundsätzlich nur eine kurze Begründung beigefügt werden, soweit nicht auf eine solche ganz verzichtet werden kann (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG). Auch für einen Beschluss über eine Nichtzulassungsbeschwerde gilt daher, dass in dieser Entscheidung nicht auf jegliches Beteiligtenvorbringen und jeden denkbaren Gesichtspunkt eingegangen werden muss, wenn sich daraus zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen auch ohne ausdrückliche Erwähnung für unerheblich gehalten wurde (vgl BSG Beschluss vom 22.3.2018 - B 12 KR 12/17 C - juris RdNr 12). Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen ist somit anzunehmen, wenn sich dies aus besonderen Umständen ergibt. Das ist insbesondere der Fall, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, es sei denn, der Tatsachenvortrag ist nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 8.2.2021 - 1 BvR 242/21 - juris RdNr 6 mwN).
b) Bei Berücksichtigung dieser Maßstäbe liegt ein entscheidungserheblicher Verstoß gegen den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nicht vor. Der Senat hat sich im angegriffenen Beschluss vom 16.2.2022 mit dem wesentlichen Vorbringen des Klägers befasst und seine Entscheidung in Auseinandersetzung mit diesem Vorbringen begründet. Dass das Gericht seine Rechtsansichten übernimmt, kann der Kläger - wie bereits erwähnt - nicht verlangen.
aa) Im Beschluss vom 16.2.2022 ist ausgeführt, dass das mit einer einfachen Signatur des Rechtsanwalts S versehene elektronische Dokument vom 14.7.2021 nicht von diesem über den sicheren Übermittlungsweg des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) übermittelt und deshalb nach Maßgabe des § 65a Abs 3 Satz 1 Alt 2 SGG nicht formgerecht bei Gericht eingereicht worden sei. Das Dokument sei auch nicht mit einer einfachen Signatur des tatsächlich versendenden Rechtsanwalts H versehen gewesen, da die hinzugefügten handschriftlichen Kürzel nicht entzifferbar gewesen seien. Der Kläger meint, mit der zuletzt genannten Bewertung habe der Senat sein Vorbringen, dass es auf die Lesbarkeit der Handzeichen nicht ankommen könne, weil ausschließlich Rechtsanwalt H die bei der Nutzung des beA erforderliche PIN gekannt habe, "missachtet". Damit rügt er letztlich, der Senat sei seiner Rechtsansicht zur Entbehrlichkeit einer einfachen Signatur bei Nutzung des beA nicht gefolgt (dazu, dass bei einer Versendung über das beA eines Kollegen dieser "den Schriftsatz als verantwortende Person mit seinem Namen einfach elektronisch signieren, d.h. seinen maschinenschriftlich getippten Namen unter das Dokument setzen" und anschließend aus seinem eigenen beA eigenhändig an das Gericht senden muss, s auch Bundesrechtsanwaltskammer, Newsletter zum beA, Ausgabe 3/2022 vom 3.3.2022 - Vertretung bei fehlendem beA-Zugriff). Eine Gehörsverletzung ergibt sich daraus nicht.
bb) Der Beschluss vom 16.2.2022 legt zudem dar, dass selbst dann (dh hilfsweise und ergänzend), wenn die unlesbaren handschriftlichen Kürzel als einfache Signatur des Rechtsanwalts H anerkannt werden könnten, es an dem gesetzlichen Erfordernis fehle, dass dieser die volle Verantwortung für den Inhalt des von ihm übersandten Dokuments übernommen habe. Der Senat hat hierzu die vom Kläger beigebrachte Stellungnahme des Rechtsanwalts H gewürdigt. Dieser hatte erklärt, die Verwendung seiner eigenen Signatur sei ihm nicht opportun erschienen, zumal eine inhaltliche Befassung mit dem Verfahren durch ihn nicht erfolgt sei. Wenn der Kläger nunmehr vorträgt, die Würdigung durch den Senat sei "schlichtweg abwegig", bringt er damit zum Ausdruck, dass er mit der Argumentation des Senats nicht einverstanden ist. Eine Gehörsverletzung lässt sich damit nicht belegen.
cc) Der Senat hat seinen Beschluss vom 16.2.2022 zur Unzulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers entscheidend darauf gestützt, dass die Beschwerdebegründung innerhalb der Beschwerdefrist nicht in der vorgeschriebenen Form eingelegt worden ist (vgl RdNr 3 des Beschlusses B 5 R 198/21 B - juris). Er hat unter RdNr 13 ff des Beschlusses weitere Ausführungen auch zu inhaltlichen Aspekten gemacht, um dem Rechtsschutzbegehren des Klägers umfassend gerecht zu werden. Da diese nicht entscheidungstragend sind, kann der Vorhalt des Klägers, der Senat habe dabei die von ihm gestellte Frage von grundsätzlicher Bedeutung falsch ausgelegt, von vornherein eine Gehörsverletzung "in entscheidungserheblicher Weise" nicht in schlüssiger Weise belegen.
dd) Dasselbe gilt auch, soweit der Kläger eine Überraschungsentscheidung rügt, weil der Senat im Beschluss vom 16.2.2022 unter RdNr 19 "im Übrigen" eine unzureichende Darlegung der Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage in dem angestrebten Revisionsverfahren auch deshalb angenommen hat, weil in der Beschwerdebegründung Angaben dazu fehlten, inwiefern im Fall der Annahme von Erwerbsunfähigkeit erst am 8.12.2015 die Anspruchsvoraussetzung der sog Drei-Fünftel-Belegung (vgl § 43 Abs 1 Satz 1 Nr 2, Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI) erfüllt ist. Ungeachtet der fehlenden Entscheidungserheblichkeit dieses Umstands für den Beschluss des Senats war die Erfüllung der Drei-Fünftel-Belegung im Rechtsstreit des Klägers von Beginn an der zentrale Streitpunkt (vgl bereits die Begründung des angefochtenen Ausgangsbescheids vom 23.6.2016). Ein Abstellen darauf im Rahmen der Erörterung erforderlicher Darlegungen zur Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) konnte deshalb für einen gewissenhaften und kundigen Beteiligten (vgl zu diesem Maßstab BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 3.5.2021 - 2 BvR 1176/20 - juris RdNr 21 mwN) nicht überraschend sein.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 178a Abs 4 Satz 4 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Düring Hahn Gasser
Fundstellen
Dokument-Index HI15203419 |