Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Entscheidungserheblichkeit. Liposuktion
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Frage nach den Therapiemöglichkeiten für ein einzelnes Leiden und den darauf bezogenen krankenversicherungsrechtlichen Behandlungsanspruch ist regelmäßig keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, sondern zielt nur auf die Klärung von Tatfragen ab, soweit die erfragte – generelle – Tatsache nicht ausnahmsweise selbst Tatbestandsmerkmal einer gesetzlichen oder untergesetzlichen Regelung ist.
2. Wie das Vorliegen grundsätzlicher Bedeutung insgesamt, ist die Frage der Entscheidungserheblichkeit einer formulierten Rechtsfrage auf der Tatsachengrundlage der Vorinstanz zu beurteilen.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 1, §§ 163, 169 Sätze 2-3; SGB V § 2 Abs. 1 S. 3, § 137c Abs. 3, § 137e
Verfahrensgang
SG Koblenz (Entscheidung vom 14.01.2021; Aktenzeichen S 14 KR 1410/19) |
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 19.08.2021; Aktenzeichen L 5 KR 28/21) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. August 2021 wird zurückgewiesen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die bei der beklagten KK versicherte, 1986 geborene Klägerin begehrt Kostenerstattung von insgesamt 17 985 Euro für 2019 in der Clinic M selbstbeschaffte stationäre Liposuktionen an Unterschenkeln, Oberschenkeln und Armen. Den unter Vorlage von Kostenvoranschlägen der Clinic gestellten Antrag der Klägerin auf Versorgung mit Liposuktionen bei Lipödem lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 20.11.2018; Widerspruchsbescheid vom 23.3.2019). Mit ihrer - nunmehr auf Kostenerstattung gerichteten - Klage ist die Klägerin in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, in Bezug auf die Liposuktionen im Bereich der Arme sei die Klage bereits unzulässig, da sich die angefochtenen Bescheide lediglich auf die bei Antragstellung vorgelegten Kostenvoranschläge und damit auf Unter- und Oberschenkel bezogen hätten. Im Übrigen sei die Klage unbegründet, da die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit der Klägerin - unabhängig davon, ob und unter welchen Voraussetzungen es sich bei einer Liposuktion um eine Potentialleistung handele - zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung nicht belegt sei. Auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des GBA vom 19.9.2019 habe die Klägerin keinen Behandlungsanspruch. Unabhängig davon, dass der Beschluss erst Behandlungen ab dem 1.1.2020 erfasse, habe ein Lipödem des Stadiums III bei der Klägerin nicht nachgewiesen werden können. Auch unter dem Gesichtspunkt eines Systemversagens oder nach § 2 Abs 1a SGB V habe der Klägerin kein Leistungsanspruch zugestanden (Urteil vom 19.8.2021).
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Bezeichnung des allein geltend gemachten Revisionszulassungsgrunds der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 ff mwN). Dem wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.
Die Klägerin formuliert folgende Rechtsfrage:
"Besteht ein Anspruch auf Übernahme der Kosten einer Liposuktion gegen den gesetzlichen Krankenversicherer, wenn es sich lediglich um ein Lipödem Stadium II handelt, ein gerichtlich bestellter Sachverständiger jedoch feststellt, dass die begehrte Therapie nach Ausschöpfung sämtlicher konventioneller, schulmedizinischer Methoden die einzige Behandlungsmöglichkeit ist, die das Leiden langfristig mindern oder gar vollständig beseitigen kann?"
1. Hierbei handelt es sich bereits nicht um eine der Grundsatzrevision zugängliche Rechtsfrage. Denn die Frage nach den Therapiemöglichkeiten für ein einzelnes Leiden und den darauf bezogenen krankenversicherungsrechtlichen Behandlungsanspruch ist regelmäßig keine Rechtsfrage von "grundsätzlicher" Bedeutung, sondern zielt nur auf die Klärung von Tatfragen ab, soweit die erfragte - generelle - Tatsache nicht ausnahmsweise selbst Tatbestandsmerkmal einer gesetzlichen oder untergesetzlichen Regelung ist (vgl hierzu bereits BSG vom 1.7.2021 - B 1 KR 49/20 B - juris RdNr 9; BSG vom 24.1.2017 - B 1 KR 92/16 B - juris RdNr 9 mwN). Hierzu hat die Klägerin nichts vorgetragen.
2. Sollte die Frage dahin zu verstehen sein, ob Versicherte stationär erbrachte neue Behandlungsmethoden, die nicht dem allgemeinen Qualitätsgebot entsprechen, nach § 137c Abs 3 SGB V als stationäre Behandlung außerhalb einer Richtlinie zur Erprobung (Erp-RL) iS des § 137e SGB V beanspruchen können, legt die Klägerin die Klärungsbedürftigkeit dieser Rechtsfrage nicht dar. Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn sie bereits höchstrichterlich entschieden ist. Die Beschwerdebegründung hat deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (vgl BSG vom 22.2.2017 - B 1 KR 73/16 B - juris RdNr 8 mwN; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit eines entsprechenden Maßstabs BVerfG ≪Kammer≫ vom 12.9.1991 - 1 BvR 765/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10 f = juris RdNr 4). Diesen Anforderungen entspricht die Beschwerdebegründung nicht.
Nach der Rspr des Senats dürfen nach § 137c Abs 3 SGB V idF des Gesetzes zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 16.7.2015 (GKV-Versorgungsstärkungsgesetz - GKV-VSG; BGBl I 1211) Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, zu denen der GBA bisher keine Entscheidung nach § 137c Abs 1 SGB V getroffen hat, im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden, wenn sie das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, die Behandlungsalternative also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist. Dies gilt für Methoden, für die noch kein Antrag nach Abs 1 Satz 1 gestellt worden ist. Im Anwendungsbereich des § 137c SGB V ist das allgemeine Qualitätsgebot des § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V durch § 137c Abs 3 SGB V partiell eingeschränkt und erweitert den Anspruch Versicherter auf Krankenhausbehandlung. An die Stelle des allgemeinen Qualitätsgebots tritt der Potentialmaßstab. Dies hat der erkennende Senat mit Urteil vom 25.3.2021 unter Aufgabe seiner bisherigen stRspr entschieden (ausführlich dazu BSG vom 25.3.2021 - B 1 KR 25/20 R - BSGE 132, 67 = SozR 4-2500 § 137c Nr 15, RdNr 22 ff). Der Senat hat darauf abgestellt, dass der Anwendungsbereich von Potentialleistungen zur Gewährleistung eines ausreichenden Patientenschutzes für den Fall einer noch nicht existierenden Erp-RL wegen des transitorischen, auf eine abschließende Klärung ausgerichteten Methodenbewertungsverfahrens eng auszulegen ist. Der Potentialmaßstab des § 137c Abs 3 SGB V geht unter den nachfolgend dargestellten Einschränkungen als lex specialis dem allgemeinen Qualitätsgebot vor. Versicherte haben außerhalb eines auf einer Erp-RL beruhenden Erprobungsverfahrens vor dessen inhaltlicher Konkretisierung Anspruch auf neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nur im Rahmen eines individuellen Heilversuchs, wenn es 1. um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Standardbehandlung verfügbar ist und wenn 3. die Leistung das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet (vgl ausführlich dazu BSG vom 25.3.2021 - B 1 KR 25/20 R - BSGE 132, 67 = SozR 4-2500 § 137c Nr 15, RdNr 30 ff). Mit dieser Rspr setzt sich die Klägerin nicht auseinander.
Die Klägerin geht in ihrer Beschwerdebegründung vom 25.10.2021 auch nicht der Frage nach, ob dies auch für Methoden gilt, deren Bewertung nach § 137c Abs 1 SGB V - wie hier bei Durchführung der Liposuktionen 2019 - noch nicht abgeschlossen ist, die aber Gegenstand einer bereits in Kraft getretenen Erp-RL sind (vgl nunmehr BSG vom 26.4.2022 - B 1 KR 20/21 R - juris RdNr 17 f).
3. Unabhängig davon legt die Klägerin auch die Klärungsfähigkeit der formulierten Rechtsfrage nicht dar. Klärungsfähig ist eine Rechtsfrage nur dann, wenn das BSG im angestrebten Revisionsverfahren überhaupt hierüber entscheiden müsste, die Frage also entscheidungserheblich ist (vgl BSG vom 13.1.2017 - B 12 R 23/16 B - juris RdNr 20; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 18.12.1991 - 1 BvR 1411/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14 = juris RdNr 8).
Wie das Vorliegen grundsätzlicher Bedeutung insgesamt, ist dies auf der Tatsachengrundlage der Vorinstanz zu beurteilen. Auch Darlegungen zur Klärungsfähigkeit müssen sich also auf die Tatsachen beziehen, die das LSG im angegriffenen Urteil mit Bindungswirkung für das BSG (§ 163 SGG) festgestellt hat (vgl BSG vom 12.8.2020 - B 1 KR 46/19 B - juris RdNr 10 mwN). Auch dem wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht. Das LSG hat seine Entscheidung hinsichtlich der Liposuktion der Beine maßgeblich darauf gestützt, dass der geltend gemachte Anspruch auf Kostenerstattung bereits deswegen ausscheide, weil es an der stationären Behandlungsbedürftigkeit der Klägerin gefehlt habe. Wieso es trotzdem auf die weiteren, von der Klägerin thematisierten Anspruchsvoraussetzungen ankommen soll, legt sie nicht dar.
Hinsichtlich der Liposuktion der Arme hat das LSG festgestellt, dass es schon an einem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren fehle. Die Klage auf Kostenerstattung sei insoweit unzulässig. Hierauf geht die Klägerin nicht ein.
4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Schlegel Estelmann Scholz
Fundstellen
Dokument-Index HI15471134 |