Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts. Besetzung mit einem abgeordneten Richter
Orientierungssatz
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG verlangen Art 92, 97 GG zur Sicherung der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit der Richter, dass die Gerichte, soweit Berufsrichter beschäftigt werden, grundsätzlich mit hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richtern besetzt sind; die Beschäftigung persönlich nicht unabhängiger "Hilfsrichter", wozu auch an das LSG abgeordnete Richter des SG gehören, setzt zwingende Gründe voraus und ihre Anzahl ist so klein wie möglich zu halten.
2. Zwingenden Gründe liegen namentlich dann vor, wenn für eine Ernennung zum Richter auf Lebenszeit in Betracht kommende Richter auf Probe eingesetzt werden, wenn Richter auf Lebenszeit unterer Gerichte an obere Gerichte abgeordnet werden, um ihre Eignung zu erproben, wenn vorübergehend ausfallende Richter auf Lebenszeit, deren Arbeit von den im Geschäftsverteilungsplan bestimmten Vertretern neben den eigenen Aufgaben nicht bewältigt werden kann, vertreten werden müssen oder wenn ein zeitweiliger außergewöhnlicher Arbeitsanfall aufzuarbeiten ist (siehe zum Ganzen zuletzt BVerfG vom 10.11.2022 - 1 BvR 1623/17 = NZS 2023, 457 = juris RdNr 11 ff mwN).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 33 Abs. 1 S. 1, § 202 S. 1; ZPO § 547 Nr. 1; GG Art. 92, 97
Verfahrensgang
SG Nordhausen (Urteil vom 01.11.2018; Aktenzeichen S 14 AS 832/16) |
Thüringer LSG (Beschluss vom 28.12.2022; Aktenzeichen L 9 AS 317/19) |
Tenor
Auf die Beschwerden der Kläger wird der Beschluss des Thüringer Landessozialgerichts vom 28. Dezember 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Kläger begehren von dem Beklagten in der Sache die Erstattung von Kosten für ein Widerspruchsverfahren.
Das SG hat ihre Klagen abgewiesen (Urteil vom 1.11.2018). Die Berufungen der Kläger sind erfolglos geblieben, die Revision ist nicht zugelassen worden (Beschluss des LSG vom 28.12.2022). An dem Beschluss hat der an das LSG abgeordnete Richter am SG S mitgewirkt.
Mit ihren Nichtzulassungsbeschwerden rügen die Kläger als Verfahrensmangel eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung des LSG durch die Mitwirkung des Richters am SG S. Ein zwingender Grund dafür, dass nicht an seiner Stelle ein Richter am LSG mitgewirkt habe, sei auch nach Einholung einer Stellungnahme der Präsidentin des LSG nicht erkennbar. Die Abordnung des Richters am SG S habe zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits fast 33 Monate angedauert und daher nicht mehr dessen Eignungserprobung gedient. Es habe sich auch nicht um einen Ausgleich für einen vorübergehenden Ausfall planmäßiger Richter oder einen zeitweiligen außergewöhnlichen Arbeitsanfall gehandelt.
Der Senat hat eine Auskunft der Präsidentin des LSG vom 28.8.2023 zu den Gründen der Abordnung des Richters am SG S eingeholt. Danach ist dessen Abordnung an das LSG zunächst zur Erprobung erfolgt (vom 1.4.2020 bis 31.3.2021, "vor dem Hintergrund pandemiebedingt geänderter Rahmenbedingungen richterlicher Tätigkeit" verlängert bis zum 30.9.2021). Schon in dieser Zeit habe der abgeordnete Richter die Vertretung des für IT-Angelegenheiten zuständigen Präsidialrichters des LSG übernommen und sei dafür zu 20 % von seinen richterlichen Tätigkeiten freigestellt worden. Wegen dessen zweijähriger Abordnung als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das BSG sei die Abordnung des Richters am SG S an das LSG sodann erst bis zum 30.9.2022 und schließlich bis zum 30.9.2023 verlängert worden. Die zunehmenden Aufgaben in der Präsidialverwaltung des LSG hätten zunächst 50 % und ab 2022 sogar 80 % der Arbeitskraft des abgeordneten Richters in Anspruch genommen. An dem Beschluss des LSG vom 28.12.2022 habe Richter am SG S nur vertretungshalber mitgewirkt, weil der Senatsvorsitzende urlaubsbedingt verhindert gewesen sei.
II. Die Beschwerden der Kläger sind zulässig. Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde unterliegen auch Verfahrensmängel, die in einem Revisionsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen wären, den allgemeinen Bezeichnungsvoraussetzungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG(stRspr; etwa BSG vom 19.6.2019 - B 14 AS 104/18 B - juris RdNr 4; BSG vom 7.5.2020 - B 9 SB 8/20 B - juris RdNr 5 mwN; BSG vom 28.11.2022 - B 11 AL 23/22 B - juris RdNr 3; ebenso B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 160a RdNr 16; Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 160a RdNr 74, 135; zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren ebenso BVerwG vom 30.1.1985 - 9 B 10679.83 - juris RdNr 12; zum arbeitsgerichtlichen Verfahren BAG vom 5.12.2011 - 5 AZN 1036/11 - juris RdNr 7 f) . Diese sind hier erfüllt.
Die Beschwerden der Kläger sind auch begründet und führen zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG. Der Entscheidung liegt ein Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) zugrunde, denn sie ist unter Verletzung der Vorschriften über die Besetzung des LSG ergangen.
Das LSG besteht nach § 30 Abs 1 SGG aus dem Präsidenten, den Vorsitzenden Richtern, weiteren Berufsrichtern und den ehrenamtlichen Richtern, und jeder Senat des LSG wird nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGG in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern tätig. Die Verletzung der Vorschriften über die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts ist ein absoluter Revisionsgrund (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO).
Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG verlangen Art 92, 97 GG zur Sicherung der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit der Richter, dass die Gerichte, soweit Berufsrichter beschäftigt werden, grundsätzlich mit hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richtern besetzt sind; die Beschäftigung persönlich nicht unabhängiger "Hilfsrichter", wozu auch an das LSG abgeordnete Richter des SG gehören, setzt zwingende Gründe voraus und ihre Anzahl ist so klein wie möglich zu halten. Solche zwingenden Gründe liegen namentlich dann vor, wenn für eine Ernennung zum Richter auf Lebenszeit in Betracht kommende Richter auf Probe eingesetzt werden (vgl § 10 Abs 1 DRiG), wenn Richter auf Lebenszeit unterer Gerichte an obere Gerichte abgeordnet werden, um ihre Eignung zu erproben, wenn vorübergehend ausfallende Richter auf Lebenszeit, deren Arbeit von den im Geschäftsverteilungsplan bestimmten Vertretern neben den eigenen Aufgaben nicht bewältigt werden kann, vertreten werden müssen oder wenn ein zeitweiliger außergewöhnlicher Arbeitsanfall aufzuarbeiten ist (siehe zum Ganzen zuletzt BVerfG [Kammer] vom 10.11.2022 - 1 BvR 1623/17 - NZS 2023, 457 RdNr 11 ff mwN und dazu Keller jurisPR-SozR 3/2023 Anm 6; vgl auch Burkiczak in Roos/Wahrendorf/Müller, BeckOGK SGG, § 33 RdNr 11 mwN, Stand 1.11.2023).
Ausgehend von diesen Maßstäben war der Senat des LSG bei seiner Entscheidung vom 28.12.2022 wegen der Mitwirkung des Richters am SG S nicht ordnungsgemäß besetzt. Ein zwingender Grund, der den verfassungsrechtlichen Anforderungen für das Tätigwerden dieses Richters statt eines Richters am LSG genügen würde, lag nach der eingeholten Auskunft der Präsidentin des LSG nicht vor. Die Abordnung des Richters am SG zur Erprobung, also um seine Eignung für eine Tätigkeit in der Berufungsinstanz festzustellen, war bereits abgeschlossen, ohne dass hier zu entscheiden wäre, ob deren Verlängerung auf 18 Monate durch zwingende Gründe gerechtfertigt war. Auch die Voraussetzungen der beiden weiteren vom BVerfG angeführten Ausnahmen - vorübergehender Ausfall planmäßig endgültig angestellter Richter, deren Arbeit von den im Geschäftsverteilungsplan bestimmten Vertretern neben den eigenen Aufgaben nicht bewältigt werden kann, oder zeitweiliger außergewöhnlicher Arbeitsanfall - waren nach der Auskunft der Präsidentin des LSG nicht erfüllt. Dass die Abordnung eines Richters am LSG (hier als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das BSG) als gezielte Personalmaßnahme keinen Ausfall eines planmäßig endgültig angestellten Richters im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG darstellt, hat das BSG bereits entschieden (BSG vom 25.4.2018 - B 14 AS 157/17 B - NZS 2019, 66 RdNr 10 mit Anm Bienert). Ein zeitweiliger außergewöhnlicher Arbeitsanfall ist der Auskunft vom 28.8.2023 ebenfalls nicht zu entnehmen. Die weitere Ausübung berufungsrichterlicher Tätigkeit am LSG über eine (zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des LSG währende) Dauer von 33 Monaten war schließlich nicht zwingend geboten, nur weil der abgeordnete Richter am SG daneben in gleichem oder sogar überwiegendem Umfang Verwaltungsaufgaben des LSG wahrgenommen hat (ebenso für eine mit der Wahrnehmung von Rechtsprechungsaufgaben verbundene Verwaltungserprobung über einen Zeitraum von zusätzlichen 27 Monaten bereits BSG vom 23.10.2018 - B 11 AL 43/18 B - juris RdNr 8 mwN; dazu Burkiczak NZS 2019, 160; ebenso bei 29 Monaten BSG vom 12.12.2019 - B 14 AS 33/18 B - juris RdNr 9).
Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.
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Die Entscheidung über die Kosten der Beschwerdeverfahren bleibt dem LSG vorbehalten. |
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Estelmann |
Burkiczak |
B. Schmidt |
Fundstellen
NZS 2024, 237 |
AiSR 2024, 33 |