Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 18. April 2023 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte hat den Klägern die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Beklagte den allein geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht in der gebotenen Weise dargelegt hat. Die Beschwerde ist daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG, § 169 SGG).
Grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung erfordert, dass eine konkrete Rechtsfrage klar formuliert wird. Weiter muss ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit im jeweiligen Rechtsstreit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) aufgezeigt werden (stRspr; vgl etwa BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Klärungsfähig ist eine Rechtsfrage dann, wenn sie für den zu entscheidenden Fall rechtserheblich ist (BSG vom 25.10.1978 - 8/3 BK 28/77 - SozR 1500 § 160a Nr 31). Über die aufgeworfene Rechtsfrage müsste das Revisionsgericht also - in Ergänzung zur abstrakten Klärungsbedürftigkeit - konkret-individuell sachlich entscheiden müssen (BSG vom 25.6.1980 - 1 BA 23/80 - SozR 1500 § 160 Nr 39 und BSG vom 25.10.1978 - 8/3 BK 28/77 - SozR 1500 § 160a Nr 31). Dies erfordert es, dass der Beschwerdeführer den nach seiner Auffassung vom Revisionsgericht einzuschlagenden Weg der Nachprüfung des angefochtenen Urteils und damit insbesondere den Schritt darlegt, der die Entscheidung der als grundsätzlich bezeichneten Rechtsfrage notwendig macht (BSG vom 25.10.1978 - 8/3 BK 28/77 - SozR 1500 § 160a Nr 31). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
Die Beteiligten streiten über die Leistungsberechtigung der Kläger nach dem SGB II, insbesondere darüber, ob diese dem Leistungsausschluss für Ausländer unterfallen. Der Beklagte formuliert in diesem Zusammenhang folgende Rechtsfragen, denen nach seiner Auffassung grundsätzliche Bedeutung zukommt:
"a) Sind Zeiten des Bezuges von Krankengeld aufgrund fortbestehender Erwerbsunfähigkeit bei der Berechnung der Tätigkeitszeiten iSd. § 2 Abs. 3, S. 1 Nr. 2, S. 2 FreizügG/EU anspruchsbegründend zu berücksichtigen?
b) Ist für den Erwerb eines Aufenthaltsrechtes aus Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 (EU) die tatsächliche Beschäftigung als Arbeitnehmer des die elterliche Sorge tatsächlich ausübenden Elternteiles und zeitlich deckungsgleich der Schulbesuch des Kindes im Aufnahmemitgliedstaat erforderlich? Oder ist für den Erwerb des o. g. Aufenthaltsrechtes lediglich die Fortwirkung der Arbeitnehmereigenschaft iSd. § 2 Abs. 3, S. 1, Nr. 2, S. 2 FreizügG/EU ausreichend? Falls Letzteres - Bestehen zeitliche Mindestanforderungen an die zurückgelegte Dauer der Ausbildungszeit im Sinne einer verfestigten Integration in das Ausbildungssystem oder ist die sog. juristische Sekunde ausreichend."
Der Senat lässt dahinstehen, ob es sich bei der erstgenannten Frage, die sich nur hinsichtlich des Klägers zu 1. stellt, um eine um aus sich heraus verständliche, abstrakt-generelle Rechtsfrage zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer konkreten revisiblen Norm des Bundesrechts mit höherrangigem Recht handelt (siehe zu diesem Maßstab BSG vom 4.1.2022 - B 11 AL 58/21 B - RdNr 3 mwN; Senatsbeschluss vom 4.10.2022 - B 4 AS 28/22 B). Insoweit bestehen Bedenken, weil unklar bleibt, ob mit dem Passus "aufgrund fortbestehender Erwerbsunfähigkeit" eine Beschränkung auf bestimmte Fallkonstellationen intendiert ist und inwieweit die Rechtsfolge der zitierten Regelungen des FreizügG/EU in der Begründung eines Anspruchs bestehen soll.
Jedenfalls ist die Klärungsbedürftigkeit der Frage a) nicht aufgezeigt. Die Beschwerdebegründung weist zwar ausdrücklich darauf hin, dass die einschlägigen Regelungen europarechtlich geprägt sind, lässt aber eine vertiefte Auseinandersetzung mit der - teilweise bereits vom LSG zitierten - Rechtsprechung des EuGH vermissen. Soweit ausgeführt wird, welche Anhaltspunkte zur Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfrage der bereits ergangenen Rechtsprechung des BSG zu entnehmen sind, erweckt die Beschwerde, die eingehend die vom LSG abweichende Rechtsansicht des Beklagten erläutert, eher den Eindruck, die Rechtslage sei - in ihrem Sinne - geklärt. Damit macht sie aber letztlich nur geltend, das LSG habe eine falsche Sachentscheidung getroffen, was nicht zur Zulassung der Revision führen kann. Letzteres gilt auch mit Blick auf die mit beachtlichen Argumenten aufgeworfene Frage des Beklagten, ob die Sichtweise des LSG nicht den eigenständigen Regelungsgehalt des § 2 Abs 3 Satz 1 Nr 1 FreizügG/EU gegenüber den Regelungen des § 2 Abs 3 Satz 1 Nr 2 und Nr 3 FreizügG/EU entfallen lasse.
Schließlich ist auch die Entscheidungserheblichkeit der Frage a) nicht hinreichend dargetan, weil die Beschwerdebegründung erkennen lässt, dass das LSG seine Entscheidung auch bezüglich des Klägers zu 1. selbständig tragend auf einen zweiten Begründungsstrang gestützt hat, für den wiederum kein Revisionszulassungsgrund ordnungsgemäß bezeichnet ist (dazu sogleich).
Bezüglich des unter b) aufgeworfenen Fragenkomplexes zu den Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts aus Art 10 VO (EG) Nr 492/2011 zeigt die Beschwerdebegründung ebenfalls die erforderliche Klärungsbedürftigkeit nicht auf. Dem wörtlichen Zitat der diesbezüglichen Entscheidungsgründe des LSG lässt sich entnehmen, dass sich dieses für seine Ansicht auf die Rechtsprechung "BSG, Urteil vom 09.03.2022, B 7/14 AS 30/21 R - juris Rn. 22 unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 06.10.2020 - C-181/19 - EU:C:2020:794, Rn. 37" berufen hat. Der Beschwerdeführer hält das genannte BSG-Urteil für auf den vorliegenden Fall "nicht übertragbar", weil "unterschiedliche Sachverhalte den jeweiligen Entscheidungen zu Grunde lagen". Auch insofern wird aber nur eine nicht zur Zulassung der Revision führende Unrichtigkeit des Berufungsurteils geltend gemacht. Der Entscheidung des EuGH hält er den Leitsatz eines anderen Urteils dieses Gerichts entgegen, der seine Auslegung stützt. Dabei übersieht er, dass es an weiterem Klärungsbedarf nicht nur fehlt, wenn exakt dieselbe Rechtsfrage bereits höchstrichterlich entschieden ist, sondern dass es genügt, wenn sich der vorhandenen Rechtsprechung ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der abstrakten Rechtsfrage entnehmen lassen (vgl zuletzt etwa BSG vom 3.5.2023 - B 8 SO 13/22 B - RdNr 5; siehe ferner Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 160 RdNr 95). Hinzu kommt - wie die Kläger in der Beschwerdeerwiderung zutreffend unter Hinweis auf die Entscheidung des BVerwG vom 11.9.2019 - 1 C 48/18 - BVerwGE 166, 251 geltend machen - der Umstand, dass in der Beschwerdebegründung nicht dargelegt wird, inwieweit sich der Rechtsprechung des BVerwG Anhaltspunkte zur Beantwortung des unter b) aufgeworfenen Fragenkomplexes entnehmen lassen (siehe zur stRspr, wonach es an der Klärungsbedürftigkeit auch wegen der Entscheidungen anderer oberster Bundesgerichte oder des BVerfG fehlen kann, etwa BSG vom 30.7.2019 - B 2 U 239/18 B - RdNr 4 mwN und dazu B. Schmidt NZS 2020, 159).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1 SGG.
Söhngen |
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Burkiczak |
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B. Schmidt |
Fundstellen
Dokument-Index HI16186802 |