Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Kostenerstattung. Behandlung durch Nichtvertragsarzt. Einholung einer Vorabentscheidung durch EuGH. Freizügigkeit. Unionsbürger. nichtgrenzüberschreitender Sachverhalt
Orientierungssatz
1. Bei der Bestimmung des Art 234 EG handelt es sich um eine Kann-Vorschrift, nach der jedes Gericht berechtigt, nicht aber verpflichtet ist, den EuGH anzurufen, wenn es sich entscheidungserheblich auf EU-Recht stützt, an dessen Auslegung Zweifel bestehen.
2. Auf die im EG-Vertrag gewährleisteten Freiheiten eines Unionsbürgers kann sich nur berufen, wer auch einen entsprechenden grenzüberschreitenden Sachverhalt aufweist; hat sich der entscheidungserhebliche Vorgang demgegenüber ausschließlich im Inland vollzogen, kann ein Verstoß gegen die im EGV verbürgten Freiheitsrechte von vornherein nicht vorliegen (vgl zuletzt EuGH vom 16.1.1997 - C-134/95 = EUGHE I 1997, 195 = SozR 3-6030 Art 48 Nr 12)
3. Weder der EG-Vertrag noch andere Regelungen des primären und sekundären Europarechts gebieten, wonach § 13 Abs 2 SGB 5 bei einem rein deutschen Sachverhalt so zu fassen ist, dass freiwillig Versicherten und ihren familienversicherten Angehörigen auch die Kosten der Behandlung durch einen Nichtvertragsarzt erstattet werden müssten.
Normenkette
EG Art. 234; EGVtr Art. 48; EG Art. 39; SGB 5 § 13 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin ist seit 1971 bei der beklagten Ersatzkasse als Ehefrau ihres dort freiwillig versicherten Ehemannes familienversichert. Sie wendet sich dagegen, dass diese nicht mehr bereit ist, ihr die Kosten für die Behandlung durch ihren langjährig behandelnden Arzt, den in L. ansässigen, nicht vertragsärztlich tätigen Internisten Dr. S., zu erstatten. Der Widerspruch gegen einen entsprechenden Bescheid der Beklagten von 1999 und der anschließende gerichtliche Rechtsschutz sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat in seinem die Berufung zurückweisenden Urteil ua ausgeführt, obwohl der Ehemann der Klägerin als freiwilliges Mitglied Kostenerstattung nach § 13 Abs 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) gewählt habe, könne sie keine Erstattung bzw künftige Übernahme der Kosten des Dr. S. verlangen. Auch freiwillig Versicherte dürften nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur noch Vertragsärzte in Anspruch nehmen. Aus der Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) folge nichts anderes, weil dieser den grundsätzlichen Vorrang des nationalen Rechts im Bereich der sozialen Sicherheit anerkenne und Einschränkungen des Dienstleistungsverkehrs zur Erhaltung der medizinischen Versorgung akzeptiere. Ein Bezug zum Recht der Europäischen Union (EU) fehle hier im Übrigen. Ein Systemmangel der deutschen Krankenversicherung bestehe nicht (Urteil vom 24. Januar 2002).
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil. Sie rügt einen Verfahrensfehler und macht geltend, § 13 SGB V verstoße gegen EU-Recht.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde der Klägerin ist teilweise unzulässig, im Übrigen unbegründet.
Soweit die Klägerin vorträgt, dem LSG sei eine "Verletzung der Amtsermittlungspflicht" anzulasten, weil es die Rechtssache nicht dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt habe, ist die Beschwerde unzulässig. Es fehlt bereits an der gebotenen Darlegung eines Verfahrensmangels (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG entspricht die Rüge eines Verfahrensmangels nur dann, wenn der Mangel "bezeichnet" wird. Zwar kann der Vortrag, das Verfahren sei entgegen Art 234 EG-Vertrag (EGV, idF des Vertrages von Amsterdam vom 2. Oktober 1997, BGBl II 1998, 387) nicht zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH ausgesetzt worden, Gegenstand einer Verfahrensrüge sein (vgl etwa BVerfG NJW 1992, 678). Allerdings handelt es sich bei dieser Bestimmung um eine Kann-Vorschrift, nach der jedes Gericht berechtigt, nicht aber verpflichtet ist, den EuGH anzurufen, wenn es sich entscheidungserheblich auf EU-Recht stützt, an dessen Auslegung Zweifel bestehen (vgl zB Hakenberg DRiZ 2000, 345, 346 und MedR 2001, 507, 510; Loytved SGb 2001, 1, 5 f); eine diesbezügliche Verpflichtung, die einen Verfahrensfehler begründen könnte, besteht nach Art 234 Satz 3 EGV nur im Rahmen der letztinstanzlichen Entscheidung eines nationalen Gerichts. Die Vorlagepflicht entfällt zudem dann, wenn die Auslegung entscheidungserheblicher Normen durch schon ergangene Rechtsprechung des EuGH geklärt ist bzw die streitbefangene Rechtsanwendung offensichtlich zutreffend ist (zum Ganzen: EuGHE 1982, 3415, 3430 - Srl CILFIT/Lanificio di Gavardo SpA; BSG SozR 3-4100 § 4 Nr 3 mwN; SozR 3-6050 Art 71 Nr 8 S 48). Diese qualifizierten Anforderungen an die Vorlagepflicht nimmt die Beschwerde nicht hinreichend in den Blick; sie legt nicht dar, weshalb das LSG-Urteil trotz der beschriebenen Einschränkungen und des noch möglichen Rechtsmittels einer Nichtzulassungsbeschwerde gleichwohl verfahrensfehlerhaft iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG sein sollte.
Wenn man zu Gunsten der Klägerin annimmt, dass ihre Beschwerdebegründung hinsichtlich der daneben erhobenen Grundsatzrüge (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG noch genügt (vgl insoweit zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 19 S 34 f; Nr 30 S 57 f mwN; BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14), ist die Beschwerde insoweit jedenfalls unbegründet. Der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu.
Die grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist nur zu bejahen, wenn eine konkrete, in klarer Formulierung bezeichnete Rechtsfrage in dem mit der Beschwerde angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist. Die Klärungsbedürftigkeit fehlt dagegen, wenn die zutreffende Beantwortung der Frage nach dem Inhalt der maßgeblichen Rechtsvorschriften bzw dazu vorliegender höchstrichterlicher Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegen kann (vgl zB BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6 und § 160a Nr 21 S 38). So verhält es sich hier. Die von der Klägerin aufgeworfene Frage geht sinngemäß dahin, ob die Anwendung von § 13 Abs 2 SGB V auf den vom LSG festgestellten Sachverhalt gegen den EGV verstößt. Ihre Beantwortung ergibt sich ohne Weiteres, nämlich auch ohne dass es eines Revisionsverfahrens oder der Vorlage an den EuGH bedürfte, aus den bereits vom LSG herangezogenen Rechtsgrundlagen und einschlägiger Rechtsprechung des EuGH, weil hier ein "rein deutscher" Sachverhalt ohne staatenübergreifenden Bezug vorliegt. Auf die im EGV gewährleisteten Freiheiten eines Unionsbürgers kann sich nur berufen, wer auch einen entsprechenden grenzüberschreitenden Sachverhalt aufweist; hat sich der entscheidungserhebliche Vorgang demgegenüber ausschließlich im Inland vollzogen, kann ein Verstoß gegen die im EGV verbürgten Freiheitsrechte von vornherein nicht vorliegen (stRspr, vgl zB: EuGHE 1991, I-1979 = SozR 3-6030 Art 86 Nr 1 S 8 - Höfner/Elser; EuGHE 1992, I-341 - Steen; EuGHE 1995, I-301 - Aubertin, ua; EuGHE 1997, I-195 = SozR 3-6030 Art 48 Nr 12 S 39 - USSL). Der zu beurteilende Sachverhalt unterscheidet sich insoweit in wesentlicher Hinsicht von demjenigen, der dem Vorlagebeschluss des Senats vom 30. Oktober 2002 - B 1 KR 28/01 R - (SGb 2003, 160) zugrunde lag und die in Deutschland begonnene und beim selben Arzt in Ö. fortgesetzte ambulante Behandlung eines Versicherten betrifft. Europarechtliche Vorgaben, das nationale Krankenversicherungsrecht für deutsche Versicherte, die sich in Deutschland in ärztliche Behandlung begeben, in bestimmter Weise auszugestalten, bestehen demgegenüber nach der bereits vorliegenden Rechtsprechung des EuGH nicht, weil das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt (stRspr, vgl zB EuGHE 2001, I-5473 RdNr 44 f = SozR 3-6030 Art 59 Nr 6 S 6 mwN - Smits/Peerbooms). Demzufolge gebieten der EGV und andere Regelungen des primären und sekundären Europarechts auch nicht, den hier allein entscheidungserheblichen § 13 Abs 2 SGB V bei einem rein deutschen Sachverhalt so zu fassen, dass freiwillig Versicherten und ihren familienversicherten Angehörigen auch die Kosten der Behandlung durch einen Nichtvertragsarzt erstattet werden müssten. Inwieweit die Klägerin durch die Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit des EGV als Inländerin gegenüber der Behandlung gemeinschaftsangehöriger Ausländer in Deutschland ungerechtfertigt schlechter gestellt sein sollte, ist nicht ersichtlich; die Rechtmäßigkeit des Phänomens der sog Inländerdiskriminierung wäre im Übrigen nicht nach Europarecht, sondern allein nach nationalem Recht zu beurteilen (vgl schon Vorlagebeschluss des Senats vom 30. Oktober 2002, aaO, S 9 des Umdrucks; ferner zB: Nicolaysen, Europarecht I, 2. Aufl 2002, S 134 f; Streinz, EUV/EGV, 2003, Art 12 EGV RdNr 6, 58 ff mwN).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen