Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterbliebenenrente. vorsätzliche Tötung auf Verlangen des Versicherten durch die Witwe. Anspruchsausschluss
Leitsatz (amtlich)
Anspruch auf Hinterbliebenenrente hat nicht, wer den Tod des Versicherten durch eine vorsätzliche Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) herbeigeführt hat.
Normenkette
SGB 6 § 46; SGB 6 § 105; StGB § 216
Verfahrensgang
Tenor
Der Klägerin wird für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. September 2010 ab dem 14. Februar 2011 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin S., Bad A., beigeordnet. Monatsraten aus dem Einkommen sowie Beträge aus dem Vermögen sind nicht zu leisten.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im vorstehend bezeichneten Beschluss wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Streitig ist, ob ein Anspruch der Klägerin auf Witwenrente aufgrund der Regelung in § 105 SGB VI ausgeschlossen ist.
Die 1961 geborene Klägerin ist die Witwe des am 4.7.2006 im Rahmen eines teilweise fehlgeschlagenen Doppelsuizids verstorbenen Versicherten. Das Landgericht M. hat sie in einem sofort rechtskräftig gewordenen Urteil vom 27.10.2006 wegen der in diesem Zusammenhang begangenen Handlungen (nach dem gemeinsam gefassten Entschluss, aus dem Leben zu scheiden, schnitt sie zuerst dem Versicherten die Pulsadern auf, während sich dieser danach nicht mehr willens und in der Lage sah, dasselbe auch bei ihr zu tun) einer im Zustand eingeschränkter Schuldfähigkeit begangenen Tötung auf Verlangen (§ 216 iVm § 21 StGB) schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Witwenrente unter Hinweis auf § 105 SGB VI ab, da sie den Tod des Versicherten vorsätzlich herbeigeführt habe. Dass dabei nach § 21 StGB die Schuldfähigkeit eingeschränkt gewesen sei, stehe der Anwendung dieser Ausschlussbestimmung nicht entgegen (Bescheid vom 25.1.2007; Widerspruchsbescheid vom 28.8.2007).
Klage und Berufung der Klägerin, die zwischenzeitlich in einer Behindertenwerkstatt beschäftigt ist und von der Beklagten Rente wegen Erwerbsminderung bezieht, sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des SG Kassel vom 4.3.2010; Beschluss des Hessischen LSG vom 24.9.2010). Das LSG hat ausgeführt, nach der Rechtsprechung des BSG erfülle auch eine im Zustand lediglich verminderter Schuldfähigkeit oder unter Vorliegen mildernder Umstände begangene Tötungshandlung den Tatbestand des § 105 SGB VI (Hinweis auf BSG SozR 2200 § 1277 Nr 3 und 5). Dass die genannte Vorschrift allein auf den Vorsatz und nicht auf den Grad der Schuldfähigkeit abstelle, sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wie das BVerfG bereits entschieden habe (BVerfG ≪Dreier-Ausschuss≫ SozR 2200 § 1277 Nr 4).
Die Klägerin macht mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem genannten LSG-Beschluss ausschließlich die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens beantragt sie zudem Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten.
II. Der Klägerin ist PKH zu bewilligen. Zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife über ihren Antrag war von einer noch hinreichenden Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung auszugehen; nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen hat sie weder Ratenzahlungen aus ihrem Einkommen noch Teilbeträge aus dem Vermögen zu leisten (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 S 1, § 115 ZPO).
III. Die Beschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Die von ihr geltend gemachten Gründe vermögen eine Zulassung der Revision nicht zu rechtfertigen.
Die Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl Senatsbeschluss vom 19.4.2011 - SozR 4-5050 § 22 Nr 12 RdNr 7 mwN). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, falls sich die Antwort auf die Rechtsfrage ohne Weiteres aus den Rechtsvorschriften oder aus bereits vorliegender höchstrichterlicher Rechtsprechung ergibt (zur Verneinung der Klärungsbedürftigkeit im Falle klarer Antwort s zB BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 7 RdNr 8). Diese Anforderungen sind verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl BVerfG ≪Kammer≫ SozR 4-1500 § 160a Nr 12 RdNr 3 f, Nr 16 RdNr 4 f, Nr 24 RdNr 5 f).
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Nach diesen Maßstäben kommt der von der Klägerin sinngemäß aufgeworfenen Rechtsfrage, |
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ob der Anwendungsbereich von § 105 SGB VI über die Ausscheidung gerechtfertigter oder im Zustand der Schuldunfähigkeit begangener Taten hinaus im Wege der teleologischen Reduktion weitergehend einzuschränken ist, sodass auch eine Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift ausscheidet, |
keine grundsätzliche Bedeutung zu. Soweit diese Frage im vorliegenden Verfahren entscheidungserheblich sein kann - also in Bezug auf eine im Zustand verminderter Schuldfähigkeit begangene Tötung auf Verlangen im Rahmen eines teilweise fehlgeschlagenen Doppelsuizids -, mag bereits zweifelhaft sein, ob ihr eine über die konkreten Umstände des Einzelfalles hinausgehende Breitenwirkung zukommen kann, die für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung erforderlich ist. Unabhängig davon ist die aufgeworfene Frage jedoch insbesondere aufgrund der Entstehungsgeschichte des § 105 SGB VI vor dem Hintergrund der zu den inhaltsgleichen Vorgängervorschriften (§ 1277 Abs 1 S 2 RVO bzw § 54 Abs 1 S 2 AVG) ergangenen oberstgerichtlichen Rechtsprechung ohne Weiteres klar mit "nein" zu beantworten. Der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf es daher nicht. |
Dass der Wortlaut des § 105 SGB VI allein auf eine "vorsätzliche" Herbeiführung des Todes als Voraussetzung für einen ausnahmsweisen Ausschluss eines Anspruchs auf Rente wegen Todes (§ 33 Abs 4 iVm §§ 46 ff SGB VI) abstellt und eine solche in ihrem Fall vorliegt, räumt die Klägerin selbst ein. Sie trägt jedoch vor, dass der Gesetzgeber den bei einer (vorsätzlichen) Tötung auf Verlangen vorliegenden besonderen Umständen in § 216 StGB mit einem erheblich reduzierten Strafmaß Rechnung getragen habe. Dies müsse auch im Rentenrecht zu einer entsprechenden Privilegierung führen. Eine unterschiedslose Gleichbehandlung der Taten nach § 216 StGB mit anderen Tötungsdelikten im Rahmen des § 105 SGB VI sei weder gerechtfertigt noch zur Erreichung des Zwecks jener Vorschrift erforderlich. Daraus ergebe sich, dass der Anwendungsbereich von § 105 SGB VI planwidrig zu weit geraten und deshalb im Wege einer teleologischen Reduktion Abhilfe zu schaffen sei.
Dem ist jedoch nicht zu folgen. Denn es deutet nichts darauf hin, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 105 SGB VI planwidrig zu weit gefasst hätte, wie es für eine teleologische Reduktion des nach ihrem klaren Wortlaut eröffneten Anwendungsbereichs einer Norm unter Beachtung der Bindung von Verwaltung und Gerichten an Recht und Gesetz (Art 20 Abs 3 GG) erforderlich ist (vgl BVerfG ≪Kammer≫ vom 26.9.2011 - 2 BvR 2216/06 ua - NJW 2012, 669 RdNr 56 ff).
Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen des SGB VI wurde die genannte Regelung weder im Einzelnen erläutert noch diskutiert. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Rentenreformgesetz 1992 ist ebenso wie im textgleichen Entwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP zu der - dort noch als § 104 SGB VI geführten, später in § 105 SGB VI unverändert Gesetz gewordenen - Vorschrift ("Anspruch auf Rente wegen Todes besteht nicht für die Personen, die den Tod vorsätzlich herbeigeführt haben" - zum 1.8.2004 durch das RV-Nachhaltigkeitsgesetz um einen hier nicht relevanten weiteren Sachverhalt ergänzt) lediglich ausgeführt, dass sie "dem bisherigen Recht" entspreche (BR-Drucks 120/89 ≪Bundesregierung≫ bzw BT-Drucks 11/4124 ≪Fraktionen≫, jeweils S 177). Seit Einführung der Hinterbliebenenrenten in der gesetzlichen Rentenversicherung im Jahr 1911 enthielten sowohl die RVO als auch das AVG stets inhaltsgleiche Regelungen (§ 1267 RVO idF des Gesetzes vom 19.7.1911, RGBl 509: "Hinterbliebene haben keinen Anspruch auf die Fürsorge, wenn sie den Tod des Versicherten vorsätzlich herbeigeführt haben"; § 35 AVG idF des Gesetzes vom 20.12.1911, RGBl 989: "Hinterbliebene haben keinen Anspruch auf die Versicherungsleistungen, falls sie den Tod des Versicherten vorsätzlich herbeigeführt haben"; § 1277 Abs 1 S 2 RVO bzw § 54 Abs 1 S 2 AVG in der am 31.12.1991 geltenden Fassung: "Hinterbliebene haben keinen Anspruch auf die Rente, wenn sie den Tod des Versicherten vorsätzlich herbeigeführt haben"), die jeweils nur auf die vorsätzliche Herbeiführung des Todes als Ausschlusskriterium für einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente abgestellt haben.
Das BSG hat in seinem Urteil vom 26.11.1981 hierzu ausgeführt, dass die genannte Vorschrift den Anspruch "bewusst bei jeder Art des Vorsatzes" und ohne Rücksicht auf den Grad der Schuldfähigkeit ausschließe. Eine am GG orientierte Auslegung führe zu keinem anderen Ergebnis. Auch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit oder der Sozialstaatlichkeit rechtfertigten es nicht, § 1277 Abs 1 RVO entgegen dem zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers dahin zu interpretieren, dass je nach dem Grad des Vorsatzes oder der Schuldfähigkeit die Rente nur teilweise oder für eine begrenzte Zeit zu versagen sei (BSG SozR 2200 § 1277 Nr 3 S 4 f). In seinem Beschluss über die Verfassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung hat das BVerfG festgestellt, dass die dort vorgenommene Auslegung den verfassungsrechtlichen Anforderungen genüge, und hat in diesem Zusammenhang betont: "Wenn der Gesetzgeber sich dazu entschlossen hat, dabei allein auf das Kriterium des Vorsatzes abzustellen, dagegen nicht auf den Grad der Schuldfähigkeit, so kann dies schon angesichts der Zielsetzung der Norm verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden" (BVerfG ≪Dreier-Ausschuss≫ SozR 2200 § 1277 Nr 4 S 6).
Überdies hat der 1. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 30.9.1969 (BSGE 30, 99, 100 = SozR Nr 10 zu § 1744 RVO) - wenn auch außerhalb der tragenden Gründe - bereits angenommen, dass auch eine Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB zur Anwendung des § 54 Abs 1 S 2 AVG führen kann.
Bei dieser Entstehungsgeschichte des § 105 SGB VI liegt der Wille des Gesetzgebers klar auf der Hand, dass jede Art einer vorsätzlichen Herbeiführung des Todes des Versicherten - unabhängig vom Grad der Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) und dem für das konkrete Strafmaß bedeutsamen Umfang der persönlichen Schuld des Täters (§ 46 Abs 1 S 1 StGB) - zu einem Ausschluss der Hinterbliebenenleistungen führen soll. Die von der Klägerin geforderte Rechtsfortbildung im Wege teleologischer Reduktion, wie sie auch von Teilen der Literatur wegen des angeblich stets geringen Verschuldens bei einer Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) befürwortet wird (vgl Köbl in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 3 - Rentenversicherungsrecht, 1999, § 28 RdNr 28; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, Teil II - SGB VI, 3. Aufl Stand September 2011, § 105 RdNr 6; Fichte in Hauck/Noftz, SGB VI, Stand Dezember 2011, K § 105 RdNr 8; Jörg in Kreikebohm, SGB VI, 3. Aufl 2008, § 105 RdNr 5 - dort ohne Begründung), ist der Rechtsprechung damit bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen verwehrt. Denn gegen den erkennbaren Willen des Gesetzgebers wäre die Einschränkung des Anwendungsbereichs einer Norm im Wege teleologischer Reduktion mit Art 20 Abs 3 GG nicht vereinbar (vgl BVerfG ≪Kammer≫ vom 26.9.2011 - 2 BvR 2216/06 ua - NJW 2012, 669 RdNr 56; BSG Urteil vom 18.8.2011 - B 10 EG 7/10 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-7837 § 2 Nr 10 vorgesehen, RdNr 27 f); sie muss daher dem Gesetzgeber selbst vorbehalten bleiben.
Das gilt umso mehr, als der Ausschluss von Leistungen an Hinterbliebene wegen vorsätzlicher Herbeiführung des Todes nicht nur in der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern auch in der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl § 101 SGB VII) und im Recht der Beamtenversorgung (vgl § 61 Abs 1 S 1 Nr 4 BeamtVG) von Bedeutung ist. Ebenso ordnet § 162 Abs 1 VVG (in der ab 1.1.2008 geltenden Fassung) für das private Versicherungsrecht eine Befreiung des Versicherers von der Leistungsverpflichtung an, "wenn der Versicherungsnehmer vorsätzlich durch eine widerrechtliche Handlung den Tod des anderen herbeiführt". Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs erforderte daher ein umfassendes Regelungskonzept, bei der auch weitere vergleichbare Vorschriften zB des Krankenversicherungsrechts (vgl § 52 Abs 1 SGB V), des Unterhaltsrechts (vgl § 1579 Nr 3 bzw § 1611 Abs 1 BGB) oder auch des Erbrechts (vgl § 2339 Abs 1 Nr 1 bzw § 2343 BGB) mit in den Blick zu nehmen wären. Auch dies spricht gegen eine Korrektur durch die Rechtsprechung.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen
SGb 2013, 214 |
SGb 2013, 307 |
Breith. 2012, 942 |