Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde: Rüge eines Verstoßes gegen die Begründungspflicht sowie einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
Orientierungssatz
1. Das Gericht verletzt selbst dann nicht die Begründungspflicht, wenn seine Ausführungen zu den rechtlichen Voraussetzungen und tatsächlichen Gegebenheiten falsch, oberflächlich oder wenig überzeugend sein sollten (BSG, 26. Mai 2011, B 11 AL 145/10 B, BSG, 24. Februar 2010, B 13 R 547/09 B).
2. Das Gericht muss nicht ausdrücklich jedes Vorbringen der Beteiligten bescheiden. Vielmehr verpflichtet das Gebot des rechtlichen Gehörs nur, deren Darlegungen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es ist erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (BVerfG, 25. März 2010, 1 BvR 2446/09, BVerfG, 8. Juli 1997, 1 BvR 1621/94).
Normenkette
GG § 103; SGG §§ 62, 128 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, § 136 Abs. 1 Nr. 6
Verfahrensgang
LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 07.04.2016; Aktenzeichen L 9 KR 163/14) |
SG Berlin (Aktenzeichen S 111 KR 903/12) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 7. April 2016 wird als unzulässig verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2891,79 Euro festgesetzt.
Gründe
I
Der Kläger, Rechtsanwalt, beschäftigte vom 20.4.2009 an Herrn S. als Rechtsanwaltsfachangestellten (Monatsgehalt 1500 Euro). Als es zum Streit über die Arbeitsleistungen des S. kam, vereinbarten beide am 1.10.2010, das Arbeitsverhältnis zum 30.9.2010 zu beenden und für die Zeit vom 1.1. bis zum 30.9.2010 rückwirkend als halbtägiges Arbeitsverhältnis zu behandeln. Sodann veranlasste der Kläger eine rückwirkende Korrektur der Lohn- und Beitragsabrechnungen mit einem monatlichen Arbeitsentgelt von nur noch 750 Euro. Die Beklagte stellte dies bei einer Betriebsprüfung fest und forderte 2891,79 Euro Gesamtsozialversicherungsbeiträge nach, weil ein rückwirkender Verzicht auf Entgeltansprüche keine Minderung der Beitragsbemessungsgrundlage zur Folge habe. Widerspruch, Klage und Berufung hiergegen sind ohne Erfolg geblieben. Der Kläger hat gegen die Nichtzulassung der Revision Beschwerde eingelegt und ua vorgetragen, wegen nicht erbrachter Arbeitsleistungen habe lediglich ein "halbtägliches Arbeitsverhältnis" bestanden. Damit sei auch nur insoweit eine Beitragsschuld entstanden.
II
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der angefochtenen Entscheidung des LSG ist als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG). Der Kläger hat entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht hinreichend dargelegt oder bezeichnet.
1. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine abstrakt-generelle Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - allgemeine Bedeutung hat und aus Gründen der Rechtseinheit oder der Rechtsfortbildung einer Klärung durch das Revisionsgericht bedarf (Klärungsbedürftigkeit) und fähig (Klärungsfähigkeit) ist. Mit der Beschwerdebegründung ist daher zunächst aufzuzeigen, welche rechtliche Frage sich zu einer bestimmten Norm des Bundesrechts iS des § 162 SGG stellt. Sodann ist anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums darzutun, weshalb deren Klärung erforderlich und im angestrebten Revisionsverfahren zu erwarten ist. Schließlich ist aufzuzeigen, dass der angestrebten Entscheidung eine über den Einzelfall hinausgehende Breitenwirkung zukommt (BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
Der Kläger misst folgender Frage eine grundsätzliche Bedeutung bei:
"Kann eine im Wege der Vertragsfreiheit zwischen den Vertragsparteien geschlossen Vereinbarung, die eine Tatsachenfeststellung betreffend des Umfanges der Nichterfüllung arbeitsvertraglicher Verpflichtungen des Arbeitnehmers und damit Tatsachenfeststellungen betreffend des Umfanges der Entstehung von Lohnansprüchen des Arbeitnehmers und Sozialversicherungsbeiträgen enthält, gerichtlich aufgehoben und als für die Entstehung von Sozialversicherungsbeiträgen für unbeachtlich erklärt werden?
oder allgemeiner:
Kann eine im Wege der Vertragsfreiheit zwischen den Vertragsparteien geschlossen Vereinbarung, die eine Tatsachenfeststellung betreffend der Erfüllung und Entstehung arbeitsvertraglicher Verpflichtungen, richterlich im Wege der Missachtung der allgemeinen Vertragsfreiheit als für die Entstehung von Sozialversicherungsbeiträgen für unbeachtlich erklärt werden?"
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger damit schon keine Rechtsfrage zur Auslegung oder zum Anwendungsbereich einer revisiblen Norm des Bundesrechts bezeichnet hat, sondern vielmehr die Auslegung von Willenserklärungen und damit die Tatsachenfeststellung (vgl hierzu BSG vom 31.10.1996 - 11 RAr 85/95 - Juris RdNr 25) und dessen Würdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) durch das LSG im Einzelfall betroffen ist. Jedenfalls hat er nicht angegeben, welche Vorschrift des Bundesrechts überhaupt betroffen sein soll, aus welcher bundesrechtlichen Norm, die allein Gegenstand des angestrebten Revisionsverfahrens sein kann (§ 162 SGG), er die aufgeworfene Frage herleiten will. Es ist aber die Aufgabe des Klägers, diejenige Vorschrift des Bundesrechts genau zu bezeichnen, die nach seiner Ansicht zu klären ist (BSG vom 18.11.2014 - B 13 R 180/14 B - Juris RdNr 8; BSG vom 19.4.2012 - B 2 U 348/11 B - Juris RdNr 25).
Darüber hinaus ist versäumt worden, die über den Einzelfall hinausgehende allgemeine Bedeutung der aufgeworfenen Frage aufzuzeigen. Die erforderliche übergreifende Relevanz liegt dann vor, wenn die Rechtsfrage auch für weitere Fälle maßgeblich und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt ist (BSG vom 26.1.2012 - B 5 R 334/11 B - Juris RdNr 8; BSG vom 19.1.1981 - 7 BAr 69/80 - SozR 1500 § 160a Nr 39 S 58). Dass sich die aufgeworfene Rechtsfrage als solche in der Rechtspraxis in einer Vielzahl von Fällen stellt und damit "Breitenwirkung" entfaltet, hat der Kläger indes nicht dargetan.
Der Kläger hat auch die Klärungsbedürftigkeit der von ihm aufgeworfenen Frage nicht dargelegt. Um die Klärungsbedürftigkeit darzutun, genügt es nicht, vorhandene höchstrichterliche Rechtsprechung zu einer bestimmten Norm auf ihre unmittelbar in der Fragestellung zum Ausdruck kommende thematische Einschlägigkeit hin zu untersuchen. Eine Rechtsfrage ist auch dann als höchstrichterlich geklärt anzusehen, wenn das BSG diese zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, jedoch schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (BSG vom 30.8.2016 - B 2 U 40/16 B - SozR 4-1500 § 183 Nr 12 RdNr 7 mwN). Der Kläger hätte daher unter Auswertung der höchstrichterlichen Rechtsprechung vortragen müssen, weshalb das BSG noch keine einschlägigen Entscheidungen getroffen hat oder durch schon vorliegende Urteile die für klärungsbedürftig erachtete Frage nicht oder nicht umfassend beantwortet sein soll (BSG vom 19.4.2012 - B 2 U 348/11 B - Juris RdNr 29). Unabhängig davon, dass er selbst eine Divergenz zur Rechtsprechung des BSG rügt, weist er zwar auf Entscheidungen des BSG zum "Entstehungsprinzip" hin, jedoch zeigt er nicht auf, weshalb sich die aufgeworfene Frage nicht anhand der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung beantworten lassen soll. Es genügt nicht darauf hinzuweisen, dass eine bestimmte Frage höchstrichterlich noch nicht entschieden worden sei.
Zudem wird die Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Frage behauptet, aber nicht dargetan (vgl hierzu BSG vom 19.4.2012, aaO, RdNr 33 ff). In der Beschwerdebegründung wird nicht dargelegt, ob der Kläger zunächst Gesamtsozialversicherungsbeiträge aus 1500 Euro Arbeitsentgelt gemeldet und gezahlt und nach Stornierung im November 2010 eine Beitragserstattung erhalten hat oder eine Verrechnung vorgenommen worden ist oder bis zu diesem Zeitpunkt Beiträge nur aus einem Arbeitsentgelt von 750 Euro oder weniger gezahlt worden sind.
2. Der Zulassungsgrund der Divergenz setzt voraus, dass das angefochtene Urteil des LSG von einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine solche Abweichung ist nur dann hinreichend bezeichnet, wenn aufgezeigt wird, mit welcher genau bestimmten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage zum Bundesrecht die angegriffene Entscheidung des LSG von welcher ebenfalls genau bezeichneten rechtlichen Aussage des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht. Insoweit genügt es nicht darauf hinzuweisen, dass das LSG seiner Entscheidung nicht die höchstrichterliche Rechtsprechung zugrunde gelegt hätte. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Divergenz. Sie liegt daher nicht schon dann vor, wenn das angefochtene Urteil nicht den Kriterien entsprechen sollte, die das BSG, der GmSOGB oder das BVerfG entwickelt hat, sondern erst dann, wenn das LSG diesen Kriterien auch widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe bei seiner Entscheidung herangezogen hat (vgl BSG vom 12.5.2005 - B 3 P 13/04 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 6 RdNr 5 und vom 16.7.2004 - B 2 U 41/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 4 RdNr 6, jeweils mwN).
Der Kläger legt hingegen nicht dar, dass das LSG die Rechtsprechung des BSG nicht nur nicht beachtet oder unzutreffend angewandt, sondern auch in Frage gestellt hätte. Er rügt im Kern vielmehr - unzulässig - die Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung. Darüber hinaus kann eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nicht auf eine Abweichung von der Rechtsprechung des BAG gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG).
3. Der vom Kläger gerügte Verstoß gegen die sich aus § 128 Abs 1 S 2 iVm § 136 Abs 1 Nr 6 SGG ergebende Begründungspflicht ist ebenfalls nicht ausreichend dargetan. Nach § 128 Abs 1 S 2 SGG sind in dem Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Aus den Entscheidungsgründen muss daher ersichtlich sein, auf welchen Erwägungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht die Entscheidung beruht. Dass das angegriffene Urteil überhaupt keine Begründung enthalte oder aus den Entscheidungsgründen die maßgeblichen Gesichtspunkte nicht hervorgingen, behauptet der Kläger aber nicht. Entgegen seiner Auffassung verletzt das Gericht selbst dann nicht die Begründungspflicht, wenn seine Ausführungen zu den rechtlichen Voraussetzungen und tatsächlichen Gegebenheiten falsch, oberflächlich oder wenig überzeugend sein sollten (BSG vom 26.5.2011 - B 11 AL 145/10 B - Juris RdNr 3; BSG vom 24.2.2010 - B 13 R 547/09 B - Juris RdNr 10 mwN).
4. Auch die Rüge des Klägers, das LSG habe sein Vorbringen nicht berücksichtigt und damit den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 GG, §§ 62, 128 Abs 2 SGG) verletzt, ist nicht hinreichend aufgezeigt worden. Dieser Anspruch soll zwar ua sicherstellen, dass die Ausführungen der Beteiligten vom Gericht in seine Erwägungen miteinbezogen werden. Das Gericht muss jedoch nicht ausdrücklich jedes Vorbringen der Beteiligten bescheiden. Vielmehr verpflichtet das Gebot des rechtlichen Gehörs nur, deren Darlegungen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es ist erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 25.3.2010 - 1 BvR 2446/09 - Juris RdNr 11 mwN; BVerfG vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205, 216). Solche Umstände sind der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen.
5. Auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) kann ein Verfahrensmangel nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). "Ohne hinreichende Begründung" ist indes nicht formell, sondern materiell im Sinne von "ohne hinreichenden Grund" zu verstehen (BSG vom 31.7.1975 - 5 BJ 28/75 - SozR 1500 § 160 Nr 5 S 6). Da sich das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (BSG vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9), ist darzulegen, inwiefern nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen Sachverhalt aus der rechtlichen Sicht des LSG erkennbar offengeblieben sind, damit zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts zwingende Veranlassung bestanden hat und die so zu ermittelnden Tatsachen nach der Rechtsauffassung des LSG entscheidungserheblich sind (BSG vom 28.9.2015 - B 9 SB 41/15 B - Juris RdNr 6; BSG vom 19.6.2008 - B 2 U 76/08 B - mwN). Daran fehlt es hier. Der Kläger behauptet, hat aber nicht dargelegt, weshalb sich das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus konkret hätte gedrängt fühlen müssen, weiteren Beweis zu erheben.
Im Übrigen sieht der Senat von einer weiteren Begründung ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 154 Abs 2, § 162 Abs 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 52 Abs 1 und 3 S 1, § 47 Abs 1 S 1 und Abs 3 sowie § 63 Abs 2 S 1 GKG.
Fundstellen
Dokument-Index HI10448790 |