Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Sachverhaltsdarstellung. Beschwerdebegründung. Streitgegenstand. Beweiswürdigung. Allgemeine Überprüfung des Rechtsstreits

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei einer Nichtzulassungsbeschwerde muss die Sachverhaltsdarstellung in der Beschwerdebegründung das BSG in die Lage versetzen, sich ohne Studium der Gerichts- und Verwaltungsakten allein aufgrund des Beschwerdevortrags ein Bild über den Streitgegenstand sowie seine tatsächlichen und rechtlichen Streitpunkte zu machen.

2. Die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts kann mit der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar angegriffen werden.

3. Das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde erlaubt keine allgemeine Überprüfung des Rechtsstreits in dem Sinne, ob das LSG in der Sache richtig entschieden hat.

 

Normenkette

SGG §§ 62, 73a Abs. 1 S. 1, §§ 123, 160 Abs. 2 Nrn. 2, 4, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 2, § 169 Sätze 2-3; ZPO §§ 114, 121; GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 30.06.2022; Aktenzeichen L 10 VE 58/18)

SG Bremen (Entscheidung vom 16.10.2018; Aktenzeichen S 50 VE 20/1)

 

Tenor

Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 30. Juni 2022 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt D aus B zu bewilligen, wird abgelehnt.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im vorbezeichneten Urteil wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin begehrt Leistungen nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG).

Das LSG hat den geltend gemachten Anspruch verneint. Selbst nach dem abgesenkten Beweismaßstab des § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung sei ein sexueller Missbrauch der Klägerin durch ihren Schwager nicht glaubhaft gemacht. Ebenso wenig stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt sei (Urteil vom 30.6.2022).

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt und Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten Rechtsanwalt D beantragt. Das LSG sei von der Rechtsprechung des BSG abgewichen und habe Verfahrensrecht verletzt.

II

1. Der Antrag der Klägerin auf PKH ist abzulehnen.

Gemäß § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1 ZPO kann einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Daran fehlt es hier (dazu unter 2.). Schon aus diesem Grund kommt die Beiordnung von Rechtsanwalt D nicht in Betracht (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil weder die behaupteten Verfahrensmängel noch eine Divergenz ordnungsgemäß bezeichnet worden sind (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

a) Die Beschwerde lässt bereits die geordnete und aus sich heraus verständliche Wiedergabe des Sachverhalts als unverzichtbare Grundlage für die rechtliche Beurteilung des Vorliegens der geltend gemachten Zulassungsgründe durch das BSG als Beschwerdegericht vermissen (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 15.6.2022 - B 9 SB 10/22 B - juris RdNr 5 mwN). Die Sachverhaltsdarstellung in der Beschwerdebegründung muss das BSG in die Lage versetzen, sich ohne Studium der Gerichts- und Verwaltungsakten allein aufgrund des Beschwerdevortrags ein Bild über den Streitgegenstand sowie seine tatsächlichen und rechtlichen Streitpunkte zu machen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 30.11.2017 - B 9 V 36/17 B - juris RdNr 10 mwN). Es ist nicht Aufgabe des BSG, sich im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren selbst die maßgeblichen Tatsachen aus dem angegriffenen Urteil oder den Akten herauszusuchen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 6.8.2019 - B 9 V 14/19 B - juris RdNr 4 f mwN). Das gilt umso mehr, wenn der Nichtzulassungsbeschwerde - wie vorliegend - ein umfangreicher Lebenssachverhalt zugrunde liegt.

Eine solche als alleinige Beurteilungsgrundlage für den Senat geeignete Wiedergabe des Sachverhalts fehlt in der Beschwerdebegründung. Sie verweist stattdessen pauschal auf das angefochtene Berufungsurteil. Dies reicht aber nach den vorgenannten Maßstäben nicht aus (vgl BSG Beschluss vom 14.2.2020 - B 9 V 41/19 B - juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 29.5.2019 - B 9 V 15/19 B - juris RdNr 10). Ansonsten beschränkt die Klägerin sich auf die bruchstückhafte und erkennbar selektive Wiedergabe des Sachverhalts im Zusammenhang mit ihren Rechtsausführungen. Damit verfehlt sie die genannte Mindestanforderung an die Bezeichnung der von ihr geltend gemachten Zulassungsgründe.

Wegen der lückenhaften Darlegung des für die Entscheidung des LSG maßgeblichen Sachverhalts kann der Senat nicht - wie es erforderlich wäre - allein anhand der Beschwerdebegründung beurteilen, auf Grundlage welches Streitgegenstands und Verfahrensablaufs die von der Klägerin geltend gemachte und vom LSG angeblich verkannte Wirkung eines vermeintlichen "Anerkenntnisses" des Beklagten für die Entscheidung erheblich sein sollte. Denn für die Bezeichnung eines Verfahrensmangels müssen vom Beschwerdeführer die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert aufgezeigt werden (vgl BSG Beschluss vom 19.8.2021 - B 9 SB 30/21 B - juris RdNr 5 mwN).

Dasselbe gilt für die Behauptung der Klägerin, das LSG habe die Berufung des Beklagten zurückweisen müssen, weil diese allein auf die Behauptung der Unzulässigkeit des erstinstanzlichen Feststellungsurteils beschränkt gewesen sei, welche das Berufungsgericht aber bejaht habe. Zur Substantiierung der damit in der Sache erhobenen Rüge einer Verletzung von § 123 SGG hätte es insbesondere der genauen Wiedergabe der Berufungsschrift und des maßgeblichen Berufungsantrags des Beklagten am Ende der mündlichen Verhandlung beim LSG bedurft (vgl BSG Beschluss vom 2.9.2021 - B 4 AS 158/21 B - juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 30.3.2020 - B 9 SB 59/19 B - juris RdNr 8). Solche Ausführungen enthält die Beschwerdebegründung aber nicht.

Indem die Klägerin darüber hinaus - ebenfalls wiederum ohne die erforderliche Einbettung in eine ausreichende Schilderung des Verfahrens - die Behandlung und Bewertung gegenläufiger Gutachten durch das LSG kritisiert, wendet sie sich gegen die Beweiswürdigung des LSG. Diese ist jedoch gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG der Beurteilung durch das Revisionsgericht vollständig entzogen. Kraft der darin enthaltenen ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung kann die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts mit der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar angegriffen werden (stRspr; zB BSG Beschluss vom 1.7.2020 - B 9 SB 5/20 B - juris RdNr 10 mwN).

Soweit die Klägerin mit ihrem Vorwurf, das Berufungsgericht setze sich mit ihrem Vortrag insbesondere in der Anschlussberufung nicht ernsthaft auseinander, eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) rügen möchte (vgl BSG Beschluss vom 18.11.2021 - B 9 SB 34/21 B - juris RdNr 16 mwN), fehlt es wiederum an einer ausreichenden Wiedergabe des entscheidungserheblichen Sachverhalts und Verfahrensgangs insbesondere im Zusammenhang mit ihrem Vortrag im Berufungsverfahren.

Ohnehin erlaubt das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde aber auch keine allgemeine Überprüfung des Rechtsstreits in dem Sinne, ob das LSG in der Sache richtig entschieden hat (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 27.8.2018 - B 9 SB 24/18 B - juris RdNr 7 mwN).

b) Bereits aus dem genannten Grund der fehlenden Schilderung des für die Entscheidung des LSG erheblichen Sachverhalts hat die Klägerin auch die von ihr gerügte Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) zu dem Urteil des BSG vom 16.12.2014 (B 9 V 1/13 R - BSGE 118, 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr 21) nicht hinreichend bezeichnet (vgl allgemein zu den Darlegungsanforderungen an eine Divergenzrüge zB BSG Beschluss vom 25.10.2018 - B 9 V 27/18 B - juris RdNr 8 mwN). Denn ohne die notwendige umfassende Sachverhaltswiedergabe kann der Senat von vornherein schon nicht beurteilen, ob die von der Klägerin gerügte Argumentation des LSG zur Zulässigkeit des erstinstanzlichen Feststellungsurteils überhaupt entscheidungserheblich iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG von dem zitierten Urteil des BSG abgewichen sein könnte. Unabhängig davon, dass die Klägerin insoweit auch keine divergierenden Rechtssätze bezeichnet hat, räumt sie selbst sogar ein, dass sie durch die von ihr angenommene Divergenz des LSG vom vorgenannten BSG-Urteil nicht beschwert sei.

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

3. Die nicht formgerecht begründete Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG).

4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Kaltenstein

Othmer

Röhl

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15581725

Dieser Inhalt ist unter anderem im TVöD Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge