Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf rechtliches Gehör
Orientierungssatz
1. § 62 SGG konkretisiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) für das sozialgerichtliche Verfahren. Die Vorschrift soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (s § 128 Abs 2 SGG; vgl BSG vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 = SozR 3-1500 § 153 Nr 1; BVerfG vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 = BVerfGE 84, 188), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen mit einbezogen wird (vgl BVerfG vom 19.7.1967 - 2 BvR 639/66 = BVerfGE 22, 267; BVerfG vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 = BVerfGE 96, 205).
2. Das Gericht muss jedoch nicht ausdrücklich jedes Vorbringen der Beteiligten bescheiden. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen ist nur dann anzunehmen, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt (vgl BVerfG vom 19.7.1967 - 2 BvR 639/66 = BVerfGE 22, 267; BVerfG vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 = BVerfGE 96, 205), zB, wenn ein Gericht das Gegenteil des Vorgebrachten - ohne entsprechende Beweisaufnahme - annimmt, wenn es den Vortrag eines Beteiligten als nicht vorgetragen behandelt (vgl BVerfG vom19.7.1967 - 2 BvR 639/66 = BVerfGE 22, 267; BVerfG vom 5.10.1976 - 2 BvR 558/75 = BVerfGE 42, 364) oder wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, sofern der Tatsachenvortrag nach der Rechtsauffassung des Gerichts nicht unerheblich ist (vgl BVerfG vom 19.5.1992 - 1 BvR 986/91 = BVerfGE 86, 133).
Normenkette
SGG § 62; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 16.09.2008; Aktenzeichen L 13 VJ 1004/05) |
SG Frankfurt (Oder) (Entscheidung vom 31.03.2005; Aktenzeichen S 5 VJ 33/99) |
Gründe
Durch Urteil vom 16.9.2008 hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Grundrente wegen behaupteter Folgen einer Poliomyelitis-Schutzimpfung vom 1.7.1959 abgelehnt, weil ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung des Klägers und seiner Poliomyelitiserkrankung nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei. Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger form- und fristgerecht Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und begründet. Er macht als Zulassungsgründe Verfahrensfehler sowie grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Er hat keinen der gesetzlich vorgeschriebenen Zulassungsgründe ordnungsgemäß dargetan (vgl § 160 Abs 2, § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) .
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde - wie vorliegend - darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) , so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34, 36) . Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 36) . Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diesen Kriterien hat der Kläger nicht hinreichend Rechnung getragen.
Soweit der Kläger rügt, das angefochtene Urteil enthalte keine hinreichenden Entscheidungsgründe, hätte er darauf eingehen müssen, dass das LSG gemäß § 153 Abs 2 SGG weitgehend auf die Begründung des Sozialgerichts Bezug genommen hat. Er hätte demnach darlegen müssen, dass die angegriffene Entscheidung auch unter Berücksichtigung des Inhalts des sozialgerichtlichen Urteils keine Urteilsgründe enthalte (s Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, IX, RdNr 117 mwN) . Das hat er versäumt. Im Übrigen greift der Kläger mit seinen Ausführungen auf Seite 3 und 4 der Beschwerdebegründung im Kern die Beweiswürdigung des LSG an. Nach der ausdrücklichen Vorschrift des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann indes der geltend gemachte Verfahrensmangel auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nicht gestützt werden.
Auch soweit der Kläger in zweifacher Hinsicht die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt, ist ein solcher Mangel nicht schlüssig dargelegt. § 62 SGG konkretisiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) für das sozialgerichtliche Verfahren. Die Vorschrift soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (s § 128 Abs 2 SGG; vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1; BVerfGE 84, 188, 190) , und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen mit einbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f) . Das Gericht muss jedoch nicht ausdrücklich jedes Vorbringen der Beteiligten bescheiden. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen ist nur dann anzunehmen, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt (BVerfGE, aaO) , zB, wenn ein Gericht das Gegenteil des Vorgebrachten - ohne entsprechende Beweisaufnahme - annimmt, wenn es den Vortrag eines Beteiligten als nicht vorgetragen behandelt (vgl BVerfGE 22, 267, 274; 42, 364, 368) oder wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, sofern der Tatsachenvortrag nach der Rechtsauffassung des Gerichts nicht unerheblich ist (BVerfGE 86, 133, 146) .
Die erste Rüge des Klägers zielt auf die aus seiner Sicht unzutreffende Annahme des LSG, er - der Kläger - sei am 6.7.1959 mit der Diagnose Poliomyelitis in das Krankenhaus eingeliefert worden. Insofern, so behauptet der Kläger, habe er vorgetragen und unter Beweis gestellt, mit der Diagnose "Meningitis" eingeliefert worden zu sein. Der Kläger rügt damit im Kern die Verletzung des § 103 SGG, hat es indes entgegen seiner Verpflichtung aus § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG versäumt darzulegen, wann und wie er insoweit einen berücksichtigungsfähigen Beweisantrag gestellt habe (vgl dazu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22) . Der Kläger hätte darlegen müssen, welchem konkreten Beweisantrag iS der Zivilprozessordnung das LSG nicht gefolgt sein soll. Dabei hätte er diesen Beweisantrag so genau bezeichnen müssen, dass er für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbar ist (vgl BSGE 40, 40, 41 = SozR 1500 § 160a Nr 4; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 215). Dies ist unterblieben. Wollte der Kläger zu diesem Punkt eine Überraschungsentscheidung des LSG behaupten, hätte er darauf eingehen müssen, ob sich nicht aus beigezogenen Unterlagen auch eine damalige Einweisungsdiagnose "Poliomyelitis" ergab (vgl Krankenhausbericht vom 11.8.1959).
Soweit der Kläger als Verletzung des § 62 SGG weiter rügt, er habe die höhere Wahrscheinlichkeit eines Impfschadens gegenüber einem Wildvirusbefall mit seinen Krankenunterlagen und auch mit dem "Arztattest vom 11.8.1959" vorgetragen und bewiesen, gilt ähnliches. Auch hier macht der Kläger im Kern geltend, das LSG habe seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt, ohne einen übergangenen Beweisantrag zu bezeichnen. Im Übrigen zielen die entsprechenden Darlegungen in der Beschwerdebegründung (Seite 5 und 6) auf die Behauptung einer unzutreffenden Beweiswürdigung durch das LSG. Auch mit dieser Rüge ist der Kläger nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ausgeschlossen.
Grundsätzliche Bedeutung, wie sie hier vom Kläger iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG geltend gemacht wird, hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist, und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1) eine bestimmte Rechtsfrage, (2) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 59, 65) . Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.
Der Kläger hält die Frage für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, "ob die Erklärungen der Ärzte im Juli 1959 gegenüber der Zeugin P., dass die Impfung das Gegenteil von dem bewirkt habe, was sie verhindern soll, als bindendes Geständnis in Bezug auf die Ursache anzusehen sind". Damit hat er bereits eine über den Einzelfall hinausweisende Rechtsfrage nicht aufgezeigt, denn die Frage bezieht sich allein auf die Umstände des vorliegenden Falles. Sofern man der formulierten Frage einen abstrakten Kern nach den rechtlichen Auswirkungen von ärztlichen Bekundungen entnehmen will, hat der Kläger diese Problematik mit dem Rechtsbegriff des "bindenden Geständnisses" verknüpft. Hierzu hätte er indes eingehend darlegen müssen, woher der von ihm benutzte Begriff des Geständnisses stammt, welche Rechtswirkungen hier im Verhältnis zwischen behandelnden Ärzten, Leistungsträger und (vermeintlich) Impfgeschädigten in Betracht kommen und ob und welche Rechtsprechung aller obersten Bundesgerichte zum Begriff des "bindenden Geständnisses" vorliegt und wie diese für die hier vorliegende rechtliche Problematik nutzbar gemacht werden kann (vgl dazu BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2; SozR 3-1500 § 160 Nr 8) . Letztlich fehlt es also auch an der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit einer entsprechenden Rechtsfrage.
Die Beschwerde ist daher ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen