Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Inhalt der Darlegungspflicht. Darlegung der Verfassungswidrigkeit einer entscheidungserheblichen Norm

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Um seiner Darlegungspflicht zur Begründung der Zulässigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde zu genügen, muss ein Beschwerdeführer eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (= Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog. Breitenwirkung) darlegen, letzteres jedoch nur, soweit sich nicht bereits aus der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit die behauptete Breitenwirkung ergibt.

2. Die Frage, ob eine der Entscheidung zu Grunde liegende Gesetzesnorm verfassungswidrig ist, hat zwar regelmäßig grundsätzliche Bedeutung. Auch dies ist jedoch darzulegen. Hierzu gehört nicht nur, dass herausgestellt wird, aus welchen Gründen die beanstandete Norm verfassungswidrig sein könnte, sondern auch dass es sich um eine verfassungsrechtliche Frage handelt, die umstritten geblieben ist und über die auch vom Bundesverfassungsgericht noch nicht abschließend entschieden ist (vgl. BVerfGE 91, 93 ff.).

 

Normenkette

SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 04.12.2003)

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 13.12.2004; Aktenzeichen 1 BvR 1487/04)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Dezember 2003 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt Arbeitslosengeld (Alg), hilfsweise Arbeitslosenhilfe (Alhi) ab 22. Januar 2002.

Sie war April 1973 bis April 1993 versicherungspflichtig beschäftigt. Ab 24. Juli 1993 bezog sie bis 29. April 1994 Alg; Anschluss-Alhi wurde mangels Bedürftigkeit abgelehnt. In der Zeit vom 30. April 1994 bis 1. Februar 2000 pflegte die Klägerin ihre Mutter und ihre Schwiegermutter; die Mutter bezog in der Zeit vom 1. April 1995 bis 19. Mai 1998 Pflegegeld nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs – Soziale Pflegeversicherung – (SGB XI).

Am 22. Januar 2002 beantragte die Klägerin erneut die Bewilligung von Alg. Dies lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 25. März 2002; Widerspruchsbescheid vom 3. September 2002), weil die Klägerin nicht die Anwartschaftszeit erfüllt habe. Die anschließende Klage auf Zahlung von Alg, hilfsweise Alhi hatte weder beim Sozialgericht (Urteil vom 17. Januar 2003) noch beim Landessozialgericht (LSG) Erfolg. Zur Begründung seiner Entscheidung (Beschluss vom 4. Dezember 2003) hat das LSG ausgeführt, die Klägerin habe die Voraussetzungen der Anwartschaftszeit für den Erwerb eines neuen Alg-Anspruchs (§§ 117, 123, 124 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – ≪SGB III≫) nicht erfüllt. Die Zeiten der Pflege seien keine Zeiten im Rahmen eines Versicherungspflichtverhältnisses nach §§ 24, 25, 26 SGB III. Die Voraussetzungen für den Bezug von Alhi lägen deshalb nicht vor, weil die Klägerin nicht innerhalb der wegen der Pflegetätigkeit um zwei Jahre zu verlängernden Vorfrist von einem Jahr (§ 192 SGB III) Alg bezogen habe.

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Sie trägt vor, der Rechtsstreit werfe folgende zu klärende Rechtsfrage auf:

“Ist es verfassungsrechtlich geboten, diejenige, die als Pflegeperson im Sinne der §§ 19, 44 SGB XI tätig ist und für die Rentenversicherungsbeiträge nach den Vorschriften der §§ 3 S. 1 Nr. 1a, 141 Abs. 1 S. 1 Nr. 8, 166 Abs. 2 und 170 Abs. 1 Nr. 6 SGB VI entrichtet werden, einer in einem Versicherungspflichtverhältnis nach § 24 Abs. 1 SGB III Stehenden gleichzusetzen mit der Folge, dass auch ein Anspruch auf Einbeziehung dieser Pflegezeiten in die Bewertung der Anwartschaftszeit für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld besteht!”

Diese Rechtsfrage sei klärungsbedürftig, da es hierzu keine höchstrichterliche Rechtsprechung gebe. Die Beantwortung sei auch nicht unmittelbar aus dem Gesetz herleitbar. Dadurch, dass die Pflegezeiten nicht einem Versicherungspflichtverhältnis gleichgestellt sei und somit nicht als Anwartschaftszeiten zählten, erfahre sie (die Klägerin) eine Ungleichbehandlung gegenüber in einem Versicherungspflichtverhältnis stehenden Personen. Ein Verstoß gegen Art 3 Grundgesetz (GG) liege auch deshalb vor, weil sie (die Klägerin) als Frau benachteiligt sei. Die Zahl derjenigen Frauen, die nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit als Pflegeperson Angehörige pflegten und sich nach Beendigung der Pflege mit dem Ziel arbeitssuchend meldeten, Alg zu erhalten, sei angesichts der insgesamt schlechten wirtschaftlichen Lage sehr hoch.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) nicht in der erforderlichen Weise dargelegt ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Beschwerde war damit gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 2. Halbsatz SGG iVm § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen.

Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die – über den Einzelfall hinaus – aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, ggf sogar des Schrifttums, angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese Rechtsfragen noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59 und 65). Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss ein Beschwerdeführer mithin eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (= Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen, letzteres jedoch nur, soweit sich nicht bereits aus der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit die behauptete Breitenwirkung ergibt.

Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die Frage, ob eine der Entscheidung zu Grunde liegende Gesetzesnorm verfassungswidrig ist, hat zwar regelmäßig grundsätzliche Bedeutung. Aber auch dies ist darzulegen (Senatsbeschluss vom 28. Juni 2002 – B 7 AL 242/01 B). Hierzu gehört nicht nur, dass herausgestellt wird, aus welchen Gründen die beanstandete Norm verfassungswidrig sein könnte, sondern auch dass es sich um eine verfassungsrechtliche Frage handelt, die umstritten geblieben ist und über die uU auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) noch nicht abschließend entschieden ist (s BVerfGE 91, 93, 106 f). Ein diesen Anforderungen genügendes Vorbringen enthält die Beschwerdebegründung nicht. Sie lässt zwar erkennen, dass der Nichterwerb einer Anwartschaft durch Pflegezeiten nach Ansicht der Klägerin gegen den Gleichheitssatz (Art 3 GG) verstößt; es fehlt jedoch in jeglicher Hinsicht eine Auseinandersetzung mit den Inhalten, die die Rechtsprechung des BVerfG dieser Verfassungsnorm entnommen hat. Die reine Behauptung, die von der Beschwerde als klärungsbedürftig angesehene Rechtsfrage sei “höchstrichterlich noch nicht entschieden”, kann hierüber nicht hinweghelfen. Nur angemerkt sei, dass der Senat mit Urteil vom 21. Oktober 2003 (SozR 4-4300 § 147 Nr 1) einen Verstoß der arbeitsförderungsrechtlichen Regelungen über die Berücksichtung von Pflegezeiten gegen das Verfassungsrecht verneint hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1576221

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