Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Fehlen von Entscheidungsgründen. Überschreiten der Fünf-Monats-Frist zur Urteilsabsetzung. Verfahrensmangel. Zurückverweisung
Orientierungssatz
1. Das Fehlen von Entscheidungsgründen liegt vor , wenn ein Urteil nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den beteiligten Berufsrichtern unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden ist (vgl GmS-OGB vom 27.04.1993 - GmS-OGB 1/92 = BVerwGE 92, 367 = SozR 3-1750 § 551 Nr 4 und BSG vom 20.11.2003 - B 13 RJ 41/03 R = BSGE 91, 283 = SozR 4-1500 § 120 Nr 1).
2. Die Überschreitung der Fünf-Monats-Frist ist als Verfahrensmangel dann hinreichend bezeichnet, wenn das Datum der Niederlegung konkret benannt und dargelegt wird, dass diese Datumsangabe sich auf eigene Nachforschungen stützt (vgl BSG vom 20.11.2003 - B 13 RJ 41/03 R aaO).
Normenkette
SGG § 136 Abs. 1 Nr. 6, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5, § 202; ZPO § 547 Nr. 6
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27. November 2013 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die 1999 geborene Klägerin leidet an insulinpflichtigem Diabetes mellitus Typ I. Seit dem 1.7.2004 bezog sie Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I. Mit Wirkung zum 1.7.2009 hob die beklagte Pflegekasse die Leistungsbewilligung nach § 48 SGB X auf, weil der Grundpflegebedarf der Klägerin entwicklungsbedingt nicht mehr den für die Pflegestufe I erforderlichen Mindestwert von "mehr als 45 Minuten" (§ 15 Abs 2 und Abs 3 S 1 Nr 1 SGB XI) erreiche (Bescheid vom 2.6.2009, Widerspruchsbescheid vom 24.3.2010). Sie berief sich dazu auf zwei Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 6.5.2009 und 21.9.2009. Das SG hat die Klage nach Beweisaufnahme abgewiesen (Urteil vom 20.10.2011). Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 27.11.2013). Das nach der mündlichen Verhandlung am 27.11.2013 ergangene Urteil ist nach Unterzeichnung durch die beteiligten Richter am 29.4.2014 zur Geschäftsstelle des Landessozialgerichts (LSG) gelangt und der Klägerin am 5.5.2014 zugestellt worden.
Die Klägerin wendet sich gegen die Nichtzulassung der Revision mit der Rüge eines Verfahrensfehlers (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das Berufungsurteil sei nicht innerhalb der am 27.4.2014 endenden Fünf-Monats-Frist in unterschriebener Form zur Geschäftsstelle gelangt und verfüge damit - fiktiv - nicht über die erforderlichen Entscheidungsgründe, was einen Verstoß gegen § 136 Abs 1 Nr 6 SGG sowie § 202 SGG iVm § 547 Nr 6 ZPO darstelle.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Beschwerde schon am 28.4.2014, also eine Woche vor der Zustellung des Berufungsurteils, eingelegt worden ist, weil die Nichtzulassung der Revision als Bestandteil des am 27.11.2013 verkündeten Urteilstenors seit diesem Zeitpunkt feststand (vgl Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 160a RdNr 7). Das angefochtene Urteil des LSG vom 27.11.2013 beruht auf einem Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Daher ist die Entscheidung aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 SGG).
Nach § 547 Nr 6 ZPO, der über § 202 SGG auch in sozialgerichtlichen Verfahren gilt, iVm § 136 Abs 1 Nr 6 SGG ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, wenn sie nicht mit Gründen versehen ist. Das Fehlen von Entscheidungsgründen liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn ein Urteil nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den beteiligten Berufsrichtern unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden ist (GmSOGB Beschluss vom 27.4.1993 - GmS-OGB 1/92 - SozR 3-1750 § 551 Nr 4; BSG SozR 4-1500 § 120 Nr 1 RdNr 4 mwN).
Die Überschreitung der Fünf-Monats-Frist hat die Klägerin ordnungsgemäß gerügt. Ein solcher Verfahrensmangel ist dann hinreichend bezeichnet, wenn das Datum der Niederlegung konkret benannt und dargelegt wird, dass diese Datumsangabe sich auf eigene Nachforschungen stützt (BSG, aaO, RdNr 6 mwN). Die Klägerin hat in ihrer Beschwerdebegründung ausgeführt, dass die Fünf-Monats-Frist am 27.4.2014 geendet habe und die Übergabe der angefochtenen Entscheidung zu einem späteren Zeitpunkt außerhalb der Frist liege. Eine telefonische Nachfrage bei der zuständigen Geschäftsstelle am 28.4.2014 habe ergeben, dass das Urteil noch nicht vorliege. Damit ist den Darlegungserfordernissen Genüge getan.
Das LSG hat die Fünf-Monats-Frist nicht eingehalten. Das angefochtene Urteil ist am 27.11.2013 verkündet und erst am 29.4.2014 der Geschäftsstelle übergeben worden. Die Fünf-Monats-Frist endete hingegen am 27.4.2014. Dieser Tag war ein Sonntag. Ob dies in Analogie zu § 64 Abs 3 SGG, § 222 Abs 2 ZPO oder § 222 Abs 1 ZPO iVm § 193 BGB zu einer Fristverlängerung bis zum 28.4.2014 (Montag) führt (ablehnend der 2. Senat des BSG, Beschluss vom 17.2.2009 - B 2 U 189/08 B - SozR 4-1750 § 547 Nr 2, ebenso BAGE 93, 360), kann im vorliegenden Fall offenbleiben, weil das Urteil ohnehin erst am 29.4.2014 (Dienstag) zur Geschäftsstelle gelangt ist.
Der Senat macht von der Möglichkeit des § 160a Abs 5 SGG Gebrauch, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Der Ausgang des Verfahrens hängt unter anderem von einer Beweiswürdigung ab, die dem LSG obliegt.
Über die Frage der Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren wird das LSG im Rahmen der erneuten Berufungsentscheidung zu befinden haben.
Fundstellen