Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin. Der Große Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 19. Februar 1992 beschlossen: Die Verletzung der Anhörungspflicht im Verwaltungsverfahren führt zur.. |
Tatbestand
I.
Durch Beschluß vom 22. Februar 1989 hat der 8. Senat dem Großen Senat (GS) die Frage vorgelegt, ob ein angefochtener Verwaltungsakt wegen unterlassener Anhörung jederzeit von Amts wegen aufzuheben ist.
Der 8. Senat will das in dem Ausgangsverfahren angefochtene Urteil des Landessozialgerichts (LSG) aufheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückverweisen. Er will dieses Urteil damit begründen, die Verletzung der Anhörungspflicht im Verwaltungsverfahren (§ 24 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - SGB X) sei entgegen der Meinung des LSG nur zu berücksichtigen, wenn der Kläger dies so bald wie möglich rüge. Da der Kläger dies in den Vorinstanzen nicht getan habe, habe er sein Rügerecht entsprechend § 295 der Zivilprozeßordnung (ZPO), § 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) inzwischen verloren. An dieser Begründung sieht sich der 8. Senat durch das Urteil des 4. Senats vom 1. Dezember 1982 - 4 RJ 45/82 - gehindert. Der 4. Senat hat in diesem Fall eine nicht vorschriftsmäßig durchgeführte Anhörung ohne Rüge aufgegriffen und den angefochtenen Verwaltungsakt ohne Sachprüfung aufgehoben. Auf Anfrage des 8. Senats hat der 4. Senat an seiner Rechtsauffassung festgehalten. Der GS hat auch bei den Senaten angefragt, die unter Geltung des durch § 24 SGB X ersetzten § 34 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) ebenso wie der 4. Senat entschieden haben (vgl. Urteile des 2. Senats vom 28. Juli 1977, 2 RU 31/77, SozR 1200 § 34 Nr. 2 = BSGE 44, 207 und vom 31. Oktober 1978, 2 RU 39/78, SozR 1200 § 34 Nr. 4; Urteil des 5. Senats vom 27. Januar 1981, 5b/5 RJ 56/80, SozR 1200 § 34 Nr. 14; Urteil des 7. Senats vom 18. Februar 1982, 7 RAr 92/80). Auch diese Senate haben beschlossen, an ihrer bisherigen Rechtsauffassung festzuhalten.
Entscheidungsgründe
II.
Die Vorlage ist zulässig.
Der GS entscheidet in der Besetzung, die sich aus § 41 Abs. 5 SGG in der seit 1. Januar 1992 geltenden Fassung (Art 4 Nr. 1 und Art 11 Abs. 1 des Rechtspflege-Vereinfachungsgesetzes vom 17. Dezember 1990 - BGBl. I 2847 -) ergibt. Dem steht nicht entgegen, daß das Verfahren vor dem GS bereits unter Geltung des alten Rechts begonnen hat und der GS schon in der Besetzung tätig geworden ist, wie sie sich aus § 41 SGG a.F. ergab. Es ist der intertemporale Rechtssatz zu beachten, daß noch nicht abgeschlossene Verfahren nach neuem Verfahrensrecht weiterzuführen sind, wenn Übergangsvorschriften fehlen und die Beteiligten nach bisherigem Verfahrensrecht noch keine schutzwürdige Position erlangt haben, die es nach dem neuen Verfahrensrecht nicht mehr gibt (z.B. Wegfall der Berufungsmöglichkeit nach Einlegung der Berufung - vgl. BSGE 8, 135; BSG Nr. 3 zu § 143 SGG; SozR Nr. 9 zu § 149 SGG). - Eine § 41 SGG betreffende Übergangsvorschrift fehlt im Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz. Ob durch die Beteiligung weiterer Senate, die der GS in der Besetzung nach altem Recht beschlossen hat, eine schützenswerte Position erlangt worden ist, kann unentschieden bleiben, denn diese Senate sind nunmehr schon kraft Gesetzes (§ 41 Abs. 5 SGG) beteiligt.
Der GS hat nach § 41 Abs. 7 Satz 2 SGG beschlossen, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Ob er das auch ohne Zustimmung der Beteiligten könnte, kann unentschieden bleiben; die Beteiligten haben ausdrücklich zugestimmt.
Das nach § 41 Abs. 3 SGG n.F. vorgeschriebene und von der Rechtsprechung schon bisher für erforderlich gehaltene Anfrageverfahren ist durchgeführt worden.
Die dem GS gestellte Rechtsfrage war für die Entscheidungen der angefragten Senate erheblich und ist für die vom 8. Senat beabsichtigte Entscheidung ebenfalls erheblich.
Die Erheblichkeit für die Entscheidung des 8. Senats kann nicht deshalb verneint werden, weil dieser Senat in jedem Fall die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen will. Denn der Inhalt der Entscheidung ergibt sich im Falle der Zurückverweisung aus den tragenden und das LSG bindenden Gründen des Urteils (§ 170 Abs. 5 SGG). Diese Gründe hängen von der Entscheidung der dem GS gestellten Rechtsfrage ab. Bei Verneinung der Vorlagefrage durch den GS würde der vorlegende Senat - wie er in seinem Vorlagebeschluß angekündigt hat - die Zurückverweisung damit begründen, daß das LSG ohne Rücksicht auf die Anhörung prüfen müsse, ob die sachlich-rechtlichen, d.h. hier vor allem die medizinischen, Voraussetzungen für die Ablehnung der Dauerrente und die Entziehung der vorläufigen Rente vorliegen. Bei Bejahung will der 8. Senat - wie er ebenfalls angekündigt hat - die Zurückverweisung damit begründen, daß nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des LSG noch nicht gesagt werden könne, daß die Anhörungsvorschrift des § 24 SGB X verletzt sei. Es könne nicht, wie es das LSG getan habe, einfach allgemein verlangt werden, daß die Anhörungsfrist bei Anhörung im Ausland einen Monat betrage. Es müsse vielmehr im Einzelfall geprüft werden, ob der Kläger genügend Zeit hatte, sich fristgerecht zu äußern.
Einer Sachentscheidung des GS steht auch nicht entgegen, daß zur Zeit noch nicht feststeht, daß das Endurteil im Ausgangsverfahren von der Entscheidung des GS abhängt. Das Endurteil hinge dann nicht davon ab, wenn es darauf gestützt würde, die hier gewährte Anhörungsfrist von zwei Wochen sei ausreichend gewesen. Der 8. Senat ist aber vor der Entscheidung zur Vorlagefrage nicht gehalten, die Zurückverweisung mit der von ihm abgelehnten Rechtsauffassung zu begründen, es müsse auch ohne rechtzeitige Rüge geprüft werden, ob der Kläger nach den Umständen des Einzelfalles ausreichend angehört worden ist.
In der Sache sieht der GS keinen überzeugenden Grund, von der Rechtsauffassung der Senate abzuweichen, die bisher über die Folgen der Verletzung des Anhörungsgebots des § 34 SGB I oder des § 24 SGB X übereinstimmend entschieden und auf Anfrage an ihrer Entscheidung festgehalten haben. Auch der frühere 8a Senat hat 1979 im Anschluß an die schon damals einhellige Rechtsprechung zu § 34 SGB I entschieden, daß in jedem Stand des Verfahrens auch ohne Rüge zu prüfen ist, ob die Behörde dem Anhörungsgebot entsprochen hat, und daß ein Verstoß gegen dieses Gebot nicht mehr im sozialgerichtlichen Verfahren geheilt werden kann (nicht veröffentliches Urteil vom 30. April 1979, 8a RU 64/78).
Diese Rechtsprechung beruht auf der nach dem SGG (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1) und auch nach den anderen öffentlich-rechtlichen Gerichtsverfahrensordnungen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO) übereinstimmend geltenden Rechtslage, daß die Gerichte auf eine zulässige Anfechtungsklage hin rechtswidrige Verwaltungsakte aufzuheben haben. Diese Aufhebungsverpflichtung beschränkt sich weder auf die Rechtswidrigkeitsgründe, die der Kläger vorträgt, noch auf die Rechtswidrigkeitsgründe, die den materiellen Inhalt des Verwaltungsakts betreffen.
Welche Rechtsvorschriften und welche Tatsachen für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich sind, bestimmt sich nach dem mit der Klage erhobenen Anspruch (§ 123 SGG, § 88 VwGO, § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO). Nicht maßgebend ist die Meinung des Klägers, mit der er seine Klage begründet. Das gilt schon nach allgemeinem Prozeßrecht. Für Prozesse in Verwaltungssachen gilt darüber hinaus, daß das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen erforscht, ohne an das Vorbringen der Beteiligten gebunden zu sein (§ 103 SGG, § 86 Abs. 1 VwGO, § 76 Abs. 1 FGO). Ob der mit der Klage geltend gemachte Anspruch begründet ist, muß hiernach unter allen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten geprüft werden, die in Betracht kommen, nicht nur unter Berücksichtigung solcher, auf die der Kläger seine Klage gestützt hat. Der Kläger soll zwar die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben (§ 92 SGG, § 82 Abs. 1 VwGO, § 65 Abs. 1 FGO); indessen befreit selbst eine vollständige Außerachtlassung dieser prozessualen Mitwirkungspflicht das Gericht nicht davon, für den geltend gemachten Anspruch nach Maßgabe des Prozeßrechts alle erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte, bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen.
Die Aufhebungsverpflichtung beschränkt sich nicht auf die Rechtswidrigkeitsgründe, die sich aus der Verletzung des Rechts ergeben, das zu dem belastenden Verwaltungsakt ermächtigt oder das den Inhalt des Verwaltungsakts bestimmt. Dem steht außer der uneingeschränkten Pflicht zur Aufhebung die Erkenntnis entgegen, daß nicht nur Rechtsverstöße bezüglich der Sachentscheidung eines Verwaltungsakts, sondern auch Rechtsverstöße bei der Form und vor allem bei dem Zustandekommen eines Verwaltungsakts so gewichtig sein können, daß sie nicht folgenlos bleiben dürfen. Gerade Rechtsverstöße auf dem Weg zu einem Verwaltungsakt können größeres Gewicht haben als Verstöße gegen Vorschriften, die den Inhalt eines Verwaltungsakts bestimmen.
Die Aufhebungspflicht besteht allerdings dann nicht, wenn das Gesetz selbst sagt, daß ein Gesetzesverstoß unter bestimmten Voraussetzungen nicht zur Aufhebung des Verwaltungsakts führen soll. Das ist in § 42 Satz 1 SGB X für eine Reihe von Verstößen gegen Verwaltungsverfahrensvorschriften geschehen. Bei weniger gewichtigen Verfahrensfehlern kann die Aufhebung des Verwaltungsakts "nicht beansprucht werden", wenn "keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können". § 42 Satz 2 SGB X bestimmt jedoch ausdrücklich, daß Satz 1 nicht gilt, wenn die erforderliche Anhörung unterblieben oder nicht wirksam nachgeholt ist. Damit ist geregelt, daß der allgemeine Aufhebungsanspruch des Bürgers wegen der Verletzung von Verwaltungsverfahrensvorschriften und die dementsprechende Aufhebungspflicht für diesen Fall bestehen bleiben. Ob diese Regelung, die in dem für die allgemeine Verwaltung geltenden Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfg) fehlt, sinnvoll und zweckmäßig ist, braucht nicht erörtert zu werden. Jedenfalls hat der Gesetzgeber des für die Sozialverwaltung geltenden Verfahrensgesetzes im Anschluß an den sozialpolitischen Ausschuß, der auf der Abweichung vom VwVfg mit Erfolg bestanden hat, die schon damals insoweit einhellige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für überzeugend und bestätigungswürdig gehalten (BT-Drucks 8/4022 zu § 40 - jetzt § 42 - SGB X). Damit begründet ein bis zur Klageerhebung nicht geheilter Verstoß gegen die Anhörungsvorschrift des § 24 SGB X einen Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsakts, den das Gericht zu erfüllen hat.
Dieser Anspruch kann nicht durch rügelose Einlassung auf eine mündliche Verhandlung entsprechend § 295 ZPO verloren gehen. Diese Vorschrift sieht einen Verlust des Rügerechts nur gegenüber Verfahrensverstößen im Gerichtsverfahren, nicht gegenüber Verfahrensverstößen im Verwaltungsverfahren vor. Da sich der im Verwaltungsverfahren unterlaufene Anhörungsfehler dahin auswirkt, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, würde dem Bürger nicht wie sonst nach § 295 ZPO eine verfahrensrechtliche Möglichkeit, sondern ein absolut wirkender Aufhebungsgrund abgeschnitten und der darauf zu stützende Aufhebungsanspruch verloren gehen. Ein geltend gemachter Anspruch kann aber nur durch Verzicht (§ 306 ZPO) aufgegeben werden. Die Gleichstellung des Verschweigens mit dem Verzicht in § 295 ZPO gilt nicht für den Klageanspruch.
Ob für die Wirksamkeit eines Verzichts auf Folgen mangelnder Anhörung auch der Rechtsgedanke des § 295 ZPO herangezogen werden sollte, wie das der 5. Senat des BSG (SozR 1200 § 34 Nr. 17 S. 68) zum Ausdruck gebracht hat, braucht nicht entschieden zu werden. Denn von einem Verzicht kann im vorliegenden Fall nicht die Rede sein.
Ob es außer dem Verzicht auf die Folgen mangelnder Anhörung auch Fälle gibt, in denen der Kläger so behandelt werden muß, als habe er ausdrücklich verzichtet, braucht ebenfalls nicht entschieden zu werden. Zu denken ist etwa an die Verwirkung, der auch Ansprüche unterliegen können, die sich aus dem Verwaltungsverfahrensrecht ergeben (vgl. Ule/Laubinger Verwaltungsverfahrensrecht, 3. Aufl § 54 V, S. 383). Die Voraussetzungen einer Verwirkung - Verstoß gegen Treu und Glauben durch den Kläger und Vertrauensposition der Beklagten - liegen hier offenkundig nicht vor.
Nicht zu entscheiden ist schließlich über die Frage, ob die Sozialgerichte dem Interesse eines Klägers entsprechen können, daß der angefochtene Verwaltungsakt nicht allein wegen eines Anhörungsmangels, sondern wegen Verstoßes gegen das sachliche Recht aufgehoben wird. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat ein solches Interesse nicht bekundet. Es erscheint jedoch der Hinweis angebracht, daß die Verpflichtung der Gerichte, einen Anhörungsmangel jederzeit von Amts wegen zu beachten, nicht dazu führt, daß Verwaltungsakte, bei denen ein Anhörungsmangel festgestellt wird, immer nur wegen dieses Mangels aufgehoben werden dürften und andere Aufhebungsgründe unberücksichtigt bleiben müßten. Die in diese Richtung gehende Befürchtung des 8. Senats beruht auf der Vorstellung, daß sachlich-rechtliche Fehler eines Verwaltungsakts erst beachtlich seien, wenn Verwaltungsverfahrensfehler nicht vorliegen. Das ist aber nicht der Fall. Verwaltungsverfahrensfehler, auf die ein Aufhebungsbeehrungs gestützt werden darf, stehen sachlich-rechtlichen Fehlern gleich, und den Gerichten ist eine zwingende Reihenfolge bei Beachtung sachlich-rechtlicher Fehler nicht vorgeschrieben. Die Reihenfolge der Prüfung liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Gerichte. Wird etwa erst nach der Beweiserhebung über sachlich-rechtliche Voraussetzungen eines belastenden Verwaltungsakts ein Anhörungsmangel erkannt, entspricht es nicht nur dem Interesse des Klägers, sondern auch dem allgemeinen Interesse an der endgültigen Herstellung des Rechtsfriedens, die Aufhebung auch damit zu begründen, daß die sachlich-rechtlichen Voraussetzungen nicht vorlagen, wenn das Beweisergebnis diese Aussage ermöglicht. Der Umfang der Rechtskraft einer so begründeten Aufhebung würde die Wiederholung eines inhaltlich gleichen Verwaltungsakts im Anschluß an die Nachholung der Anhörung ausschließen und einem weiteren Rechtsstreit vorbeugen.
Die Vorlagefrage konnte somit nicht verneint werden. Die vom Wortlaut der Vorlagefrage abweichende Entscheidung entspricht den tragenden Entscheidungsgründen.
Fundstellen