Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 13.06.1995; Aktenzeichen L 15 U 74/94)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. Juni 1995 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin ist mit ihrem Begehren, ihr wegen der anerkannten Berufskrankheit (BK) im Sinne von Nr 2101 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) eine Verletztenrente in Höhe von 20 vH der Vollrente zu gewähren, ohne Erfolg geblieben (Bescheid vom 14. Januar 1988 und Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 1988, Urteile des Sozialgerichts vom 8. Februar 1990 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 13. Juni 1995). Das LSG ist zu der Auffassung gelangt, daß die Folgen der BK die Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht in rentenberechtigendem Grade mindern.

Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin geltend, das angefochtene Urteil weiche vom Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 14. November 1984 (9b RU 38/94 – SozR 2200 § 581 Nr 22) ab. In diesem Urteil habe das BSG den Rechtssatz aufgestellt, daß ungeachtet der Beachtung des vereinfachten praktizierten Verfahrens zur Bewertung der unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in der gesetzlichen Unfallversicherung für jede BK in einem dreistufigen System eigentlich ermittelt werden müsse, welche tatsächlichen Voraussetzungen für eine MdE-Bewertung nach empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen gegeben seien. Demgegenüber stelle das angefochtene Urteil den Rechtssatz auf, daß arbeitsmarkt- und arbeitswissenschaftliche Sachverständigengutachten zu den Fragen, in welchem Umfang festgestellte Funktionseinbußen den Leistungsanforderungen im gesamten Erwerbsleben nicht gerecht würden und welchen Anteil diese Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hätten, kein sichereres Bild von den Auswirkungen der Funktionseinbußen vermittelten als die Richtwerte des vereinfachten Verfahrens. Ferner stelle es den Rechtssatz auf, daß arbeitsmarkt- und arbeitswissenschaftliche Gutachten, sowie die konkrete Klärung der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes aufgrund festgestellter Funktionseinbußen zu niedrigeren Renten für die Versicherten führten und deshalb entbehrlich seien.

Die Beschwerde ist unbegründet. Eine Divergenz im Sinne des § 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegt nicht vor.

Das LSG ist nicht von der Entscheidung des – nicht mehr für Streitigkeiten aus dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung zuständigen – 9b-Senats des BSG vom 14. November 1984 (SozR 2200 § 581 Nr 22) abgewichen. Das BSG ist auch in dieser Entscheidung, wie die Beschwerdeführerin zunächst nicht verkennt, davon ausgegangen, daß sich für die Bewertung der unfallbedingten MdE im Laufe von Jahrzehnten eine vereinfachte Beurteilung nach § 581 Abs 1 Reichsversicherungsordnung in Form eines „Gerüstes” von MdE-Werten herausgebildet hat. Leistungsträger und Gerichte begnügen sich, wie der 9b-Senat weiter ausführt, im allgemeinen mit veröffentlichten MdE-Zahlen für einzelne Gesundheitsstörungen als Richtwerte. Dieses vereinfachte Verfahren wird von der herrschenden Meinung um des allgemeinen Gleichheitssatzes willen gebilligt und kann als ständige Übung Beachtung beanspruchen, soweit die verwerteten Erfahrungssätze allgemein anerkannt werden. Auch dies hat der 9b-Senat in seinem Urteil vom 14. November 1984 bestätigt. Danach hat dieser Senat zwar ausgeführt, entsprechend der eingangs dargelegten Bedeutung der unfallbedingten MdE „müßte eigentlich” für jede einzelne Arbeitsunfallfolge und BK in einem dreistufigen Verfahren ermittelt werden, welche tatsächlichen Voraussetzungen für eine MdE-Bewertung nach empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen gegeben sind. Der 9b-Senat hat jedoch in demselben Absatz seiner Urteilsbegründung weiter ausgeführt, es müsse nicht in allen Fällen zu jeder genannten Frage ein besonderer Sachverständiger aus einem eigenständigen Fachgebiet gehört werden; manche Fachleute würden über genügende Erfahrungen für die zureichende Behandlung verschiedener Fragen verfügen. Zunächst sei medizinisch festzustellen, welche Funktionen, die für die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben bedeutsam sein könnten, durch die anerkannte Arbeitsunfallfolge oder BK beeinträchtigt werden und in welchem Ausmaß das eingetreten sei. Die abschließende Entscheidung müsse regelmäßig einer Untersuchung im angemessenen zeitlichen Abstand vorausgegangen sein. Maßgebend seien die individuellen Funktionseinbußen beim einzelnen Versicherten.

Von diesen Grundsätzen ist das LSG nicht abgewichen. Es ist nach eingehender Beweisaufnahme und unter Berücksichtigung sowohl der Besonderheiten des Einzelfalles als auch der „Richtwerte” zu der Bewertung der durch die BK bedingten MdE der Klägerin gelangt. Weder der 9b-Senat hat in seiner weiteren Rechtsprechung, solange er noch für Rechtsstreitigkeiten aus dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung zuständig war, noch vor allem der nunmehr auch anstelle des früheren 9b-Senats für Streitigkeiten aus der gesetzlichen Unfallversicherung zuständige 2. Senat des BSG hat auch bei der Bewertung der durch eine BK bedingten MdE gefordert, daß stets ein dreistufiges Verfahren, wie in der Entscheidung vom 14. November 1984 angedeutet, der durch die BK bedingten MdE vorausgehen müsse. Erst recht wird dies nicht für die Folgen von Arbeitsunfällen angenommen.

Der 9b-Senat hat dann in seiner die Entscheidung vom 14. November 1984 prägenden Besonderheiten eines beruflich bedingten Hautleidens ausgeführt, in diesem Aufklärungsabschnitt gebe es eine „Besonderheit für Hautkrankheiten ohne akute Hauterscheinungen”. Es kann hier dahinstehen, inwieweit der 9b-Senat für alle diese Hauterkrankungen ein von ihm kurz aufgeführtes, von der „vereinfachten Beurteilung” abweichendes Verfahren gefordert hat. Der erkennende Senat hat diese Auffassung in seiner ständigen Rechtsprechung nicht vertreten. Entscheidend ist im vorliegenden Fall jedoch, daß es sich bei der Berufserkrankung der Klägerin eben nicht um eine Hauterkrankung, sondern vielmehr um eine BK handelt, deren Folgen für die Erwerbsfähigkeit in den entsprechenden Richtwerten so weitgehend abgeklärt sind, daß eine Beurteilung durch medizinische Sachverständige im Einzelfall hinsichtlich der Anwendung dieser Richtwerte, der Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles sowie der Prüfung, ob wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, daß diese Richtwerte einer erneuten Überprüfung bedürfen, ausreicht. Der vorliegende Fall bietet demnach keinen Anlaß, eine noch nicht – ausreichend – geklärte Frage von grundsätzlicher Bedeutung zu beantworten.

Die Beschwerdeführerin stützt ihre Nichtzulassungsbeschwerde darüber hinaus auf § 160 Abs 2 Nr 3 SGG und rügt als Verfahrensmangel eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das LSG habe ihr zu keinem Zeitpunkt mitgeteilt, daß es von der Rechtsauffassung ausgehen wolle, daß die Einholung arbeitswissenschaftlicher Gutachten und Arbeitsmarktgutachten sowie die Befragung von Sachverständigen zu der konkreten Auswirkung der festgestellten Funktionseinbußen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bzw zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes insoweit obsolet seien, als sie allenfalls zu für die Versicherten ungünstigeren Ergebnissen führen würden. Diese Rüge ist ebenfalls unbegründet. Das LSG hat unter Berufung auf Ricke (BG 1989, 288 ff) die Auffassung vertreten, daß das von der Klägerin favorisierte Konzept eher niedrigere Renten bzw ein gänzliches Entfallen von nach der jetzigen Handhabung noch zu gewährenden Rentenansprüche zur Folge hätte. Diese Ausführungen sind Teil der Auseinandersetzung des LSG mit den verschiedenen Auffassungen zur Ermittlung der unfallbedingten bzw der durch die BK bedingten MdE. Auch das besondere, von der Beschwerdeführerin erwähnte Argument war – wie aufgezeigt – darüber hinaus auch schon in der Literatur vorgebracht. Das Gericht ist nicht verpflichtet, die Beteiligten auf jedes einzelne Argument, das es – nach Beratung im Kollegium – für seine Entscheidung verwenden wird, vorab hinzuweisen.

Schließlich rügt die Beschwerdeführerin als weiteren Verfahrensmangel eine Verletzung des § 103 SGG, weil das LSG ihren Beweisanträgen, ein arbeitsmarkt-und arbeitswissenschaftliches Sachverständigengutachten einzuholen und die Gutachter Dr. G. … und Prof. Dr. B. … zu bitten, ihre Gutachten zu vervollständigen im Hinblick auf die Frage der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes, für sie – die Klägerin – aufgrund ihrer Funktionseinschränkungen, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei. Nach der vorstehend aufgezeigten Auffassung des LSG zur Feststellung der unfallbedingten bzw durch die BK bedingten MdE folgt schlüssig, daß für das Berufungsgericht die von der Klägerin beantragten Beweisaufnahmen nicht erforderlich waren. Eine Durchführung der beantragten Beweisaufnahme hätte vielmehr der dem Urteil zugrundeliegenden Rechtsauffassung widersprochen. Deshalb ist das LSG nicht ohne hinreichende Begründung den Beweisanträgen der Klägerin nicht gefolgt.

Die Beschwerde war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173412

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