Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragspsychotherapeutische Versorgung. bedarfsunabhängige Zulassung. Zeitfenster. Mindesttätigkeitsumfang. Berücksichtigung. Kinderbetreuung und -erziehung. Diskriminierungsverbot
Orientierungssatz
1. Der Charakter des § 95 Abs 10 S 1 Nr 3 SGB 5 als Bestandsschutz- und Härtefallregelung kommt auch darin zum Ausdruck, dass im Gesetz selbst keine strikte zeitliche Vorgabe für den Umfang der Teilnahme an der psychotherapeutischen Versorgung festgelegt ist; dies ermöglicht eine flexible, den Besonderheiten jedes Einzelfalles Rechnung tragende Handhabe unter Einbeziehung aller für das Vorliegen eines Härtefalles relevanten Umstände (vgl BSG vom 8.11.2000 - B 6 KA 52/00 R = BSGE 87, 158 = SozR 3-2500 § 95 Nr 25).
2. Die Verwaltungspraxis, nach der innerhalb des Zeitraumes von einem halben Jahr zumindest 250 Stunden ambulanter psychotherapeutischer Behandlungstätigkeit - oder 11,6 Stunden pro Woche - verlangt werden, ist für den Regelfall zu billigen. Unter Härtegesichtspunkten - etwa wenn für mindestens sechs Monate keine annähernd halbtägige Behandlungstätigkeit vorgewiesen werden kann, weil die Praxis erst im Frühjahr 1997 gegründet wurde - ist eine insgesamt geringere Gesamtstundenzahl ausreichend, sofern dann zumindest 15 Wochenstunden im letzten Vierteljahr des Zeitfensters nachgewiesen werden und auch sonst alle Umstände auf eine berufliche Orientierung zu einer Tätigkeit in niedergelassener Praxis hindeuten (vgl BSG vom 8.11.2000 - B 6 KA 52/00 R = aaO).
3. Der Gesetzgeber hat die besonderen Belange der Bewerber um eine bedarfsunabhängige Zulassung als Psychotherapeut, die sich als Eltern auch der Kinderbetreuung und -erziehung widmen mussten, typisierend in § 95 Abs 11b S 1 und 2 SGB 5 dahingehend geregelt, dass die Berücksichtigung dieser Umstände nur für die ersten drei Lebensjahre des Kindes möglich ist und dann auch nur zu einer Vorverlegung des Fristbeginns führt. Für eine Verlegung des Zeitfensters bis in das Jahr 1998 hinein gibt es keine Grundlage (vgl BSG vom 8.11.2000 - B 6 KA 52/00 R = aaO). Weitergehende Härte- bzw Übergangsregelungen sind verfassungsrechtlich nicht geboten (vgl BSG vom 20.10.2004 - B 6 KA 50/04 B).
4. Eine übergangsrechtliche Vorschrift, die unter Härtegesichtspunkten auf den Umfang einer zu einer bestimmten Zeit bereits vorhandenen Praxissubstanz abstellt und deshalb den bedarfsunabhängigen Zugang zu einer bestimmten beruflichen Tätigkeit von einem Mindesttätigkeitsumfang unterhalb der üblichen Halbtagstätigkeit abhängig macht, beinhaltet keine Diskriminierung wegen des Geschlechts iS der EWGRL 207/76 vom 9.2.1976 und EWGRL 613/86 vom 11.12.1986.
Normenkette
SGB 5 § 95 Abs. 10 S. 1 Nr. 3, Abs. 11b Sätze 1-2; GG Art. 6 Abs. 1; EWGRL 207/76 Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1976-02-09; EWGRL 613/86 Art. 4 Fassung: 1986-12-11
Verfahrensgang
Tatbestand
Die als Psychologische Psychotherapeutin approbierte Klägerin begehrt die bedarfsunabhängige Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung mit Praxissitz in dem wegen Überversorgung gesperrten Zulassungsbezirk Köln. Sie ist 1948 geboren, schloss ihr Psychologie-Studium 1991 ab und ist seit 1992 an einem Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie in Köln als angestellte Diplom-Psychologin beschäftigt, seit 1995 im Umfang von wöchentlich 26 Stunden. Seit März 1995 war die Klägerin in K. im angemieteten Raum einer Praxisgemeinschaft, deren Mitglied sie im März 1998 wurde, selbstständig psychotherapeutisch tätig. Im Mai 1998 absolvierte die Klägerin die Heilpraktikerprüfung; nach Abschluss ihrer Ausbildung in Verhaltenstherapie war sie zudem ab dem 27. Dezember 1998 berechtigt, gesetzlich Krankenversicherte im Delegationsverfahren zu behandeln.
Auf ihren Antrag von Ende Dezember 1998 hin ließ der Zulassungsausschuss die Klägerin in K. zur psychotherapeutischen Versorgung unter der Voraussetzung zu, dass sie ihre Arbeitszeit im Angestelltenverhältnis auf unter 19,25 Wochenstunden reduziere und eine Erklärung ihres Arbeitgebers zum Ausschluss von Interessenkollisionen vorlege. Auf Widerspruch der zu 6. und 7. beigeladenen Ersatzkassenverbände lehnte der beklagte Berufungsausschuss den Zulassungsantrag im Hinblick darauf ab, dass die Klägerin auch bei einer Arbeitszeit von 19 Wochenstunden im Krankenhaus für die psychotherapeutische Versorgung der Versicherten nicht im erforderlichen Umfang zur Verfügung stehe ( Beschluss vom 10. Februar 2000 ).
Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Der Beklagte und ebenso das Landessozialgericht (LSG) haben die Ablehnung der Zulassung allerdings nunmehr damit begründet, dass die Klägerin innerhalb des Zeitraums vom 25. Juni 1994 bis 24. Juni 1997 (sog Zeitfenster) nicht im erforderlichen Umfang an der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten teilgenommen habe. Die von der Klägerin im Zeitfenster absolvierten 659 Behandlungsstunden bzw durchschnittlich 6,81 Wochenstunden belegten auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass ihre aus selbstständiger Tätigkeit erzielten Einkünfte nur jeweils ein Viertel bis zu einem Drittel der Einkünfte aus abhängiger Beschäftigung ausmachten, keine Prägung ihrer beruflichen Tätigkeit durch selbstständige psychotherapeutische Behandlungen. Hierdurch werde die Klägerin nicht mittelbar als Frau diskriminiert. Ihre tatsächlich ausgeübte Beschäftigung als Angestellte im Umfang von 26 Stunden pro Woche bei zusätzlicher selbstständiger Tätigkeit von knapp sieben Wochenstunden belege, dass sie nicht durch die Erziehung ihrer Tochter im Zeitfenster daran gehindert gewesen sei, die Voraussetzungen für eine Teilnahme an der ambulanten Versorgung zu erfüllen ( Urteil des LSG vom 22. September 2004 ).
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil macht die Klägerin geltend, das LSG sei von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen ( Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ ).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht ist in dem von der Klägerin angegriffenen Urteil - die Zulässigkeit ihrer Beschwerde unterstellt - nicht von einem Rechtssatz, den der Senat zur Auslegung des Merkmals "Teilnahme an der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung" in § 95 Abs 10 Satz 1 Nr 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) entwickelt hat, abgewichen.
Die Klägerin hält eine Abweichung dadurch für verwirklicht, dass das LSG es alleine für entscheidend gehalten habe, ob der Psychotherapeut im Zeitfenster einen Behandlungsumfang von zumindest 11,6 Wochenstunden erbracht hat; hingegen habe das BSG deutlich gemacht, dass eine exakte Mindeststundenzahl nicht zu fordern sei, sondern die Gesamtumstände betrachtet werden müssten. Eine Divergenz in einem entscheidungserheblichen Rechtssatz liegt jedoch nicht vor.
Allerdings hat der Senat im Urteil vom 8. November 2000 ( BSGE 87, 158 = SozR 3-2500 § 95 Nr 2 5 S 104) ausgeführt, der Charakter des § 95 Abs 10 Satz 1 Nr 3 SGB V als Bestandsschutz- und Härtefallregelung komme auch darin zum Ausdruck, dass im Gesetz selbst keine strikte zeitliche Vorgabe für den Umfang der Teilnahme an der psychotherapeutischen Versorgung festgelegt sei; dies ermögliche eine flexible, den Besonderheiten jedes Einzelfalles Rechnung tragende Handhabe unter Einbeziehung aller für das Vorliegen eines Härtefalles relevanten Umstände ( BSG, aaO, S 165 f, 175 f bzw S 112 f, 123 f ). Auf dieser Grundlage hat der Senat gleichwohl nicht auf Grenzziehungen zur Beschreibung des für eine Teilnahme erforderlichen Behandlungsumfangs verzichtet. Er hat vielmehr klargestellt, sowohl die Zielsetzung der Vorschrift, dem Betroffenen die Fortsetzung einer hauptberuflich ausgeübten Behandlungstätigkeit am Ort der Niederlassung zu ermöglichen, als auch der Aspekt der Praktikabilität für die Zulassungsgremien ließen es geboten erscheinen, einen Behandlungsumfang gegenüber Versicherten der Krankenkassen zu fordern, der annähernd einer halbtägigen Tätigkeit entsprochen habe; zudem dürften die Behandlungen in eigener Praxis gegenüber anderen beruflichen Tätigkeiten nicht von nachrangiger Bedeutung gewesen sein ( BSG, aaO, S 177 bzw S 125 ). In diesem Zusammenhang hat der Senat die Verwaltungspraxis, innerhalb des Zeitraumes von einem halben Jahr zumindest 250 Stunden ambulanter psychotherapeutischer Behandlungstätigkeit - oder 11,6 Stunden pro Woche - zu verlangen, für den Regelfall gebilligt, aber darauf hingewiesen, dass unter Härtegesichtspunkten - etwa wenn für mindestens sechs Monate keine annähernd halbtägige Behandlungstätigkeit vorgewiesen werden könne, weil die Praxis erst im Frühjahr 1997 gegründet worden sei - eine insgesamt geringere Gesamtstundenzahl ausreichend sei, sofern dann zumindest 15 Wochenstunden im letzten Vierteljahr des Zeitfensters nachgewiesen würden und auch sonst alle Umstände auf eine berufliche Orientierung zu einer Tätigkeit in niedergelassener Praxis hindeuteten ( BSG, aaO, S 178 f bzw S 126 f ).
In der Folge ist der Senat in ständiger Rechtsprechung von diesen Konkretisierungen der Anforderungen an eine Teilnahme iS des § 95 Abs 10 Satz 1 Nr 3 SGB V durch Festlegung einer Mindestzahl an Behandlungsstunden pro Woche in definierten Abschnitten des Zeitfensters ausgegangen ( BSG MedR 2003, 359, 361; s dazu die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde durch BVerfG ≪Kammer≫, Beschluss vom 6. Dezember 2002 - 1 BvR 2021/02 -; BSG, Beschluss vom 25. Juli 2003 - B 6 KA 27/03 B - nicht veröffentlicht, und Nichtannahmebeschluss BVerfG ≪Kammer≫, Beschluss vom 14. Oktober 2003 - 1 BvR 1919/03 -; Beschluss vom 20. Oktober 2004 - B 6 KA 50/04 B - juris ). Das LSG befindet sich in Übereinstimmung mit diesen Anforderungen, wenn es bei durchschnittlich 6,81 Wochenstunden selbstständiger Behandlung im Zeitfenster und zugleich deutlich überwiegenden Einnahmen der Klägerin aus abhängiger Beschäftigung das Vorliegen einer annähernd halbtägigen Behandlungstätigkeit in eigener Praxis, die gegenüber anderen beruflichen Tätigkeiten nicht von nachrangiger Bedeutung gewesen ist, verneint hat. Deshalb bedarf es auch keiner Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Klägerin überhaupt im Zeitfenster berücksichtigungsfähige, dh in rechtmäßiger Weise selbstständig durchgeführte psychotherapeutische (Heil-)Behandlungen vornehmen konnte, obwohl sie nach eigenen Angaben die Heilpraktikerprüfung erst im Mai 1998 absolvierte ( vgl hierzu BVerwG MedR 2003, 640, 642: wer ohne die Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz psychotherapeutisch tätig war, handelte rechtswidrig und machte sich strafbar ).
Mit ihrem weiteren Vorbringen, das LSG habe es unberücksichtigt gelassen, dass sie nach Trennung von ihrem Mann im Jahr 1986 und Ehescheidung im Jahr 1993 als alleinlebende und alleinerziehende Mutter sich zusätzlich um ihre im August 1984 geborene und seit 1996 an einer Essstörung leidende Tochter habe kümmern müssen, benennt die Klägerin keinen der drei Zulassungsgründe des § 160 Abs 2 SGG. Insoweit ist die Beschwerde unzulässig, da mit diesem Vortrag lediglich einzelfallbezogene Umstände, aber weder eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, eine Rechtsprechungsabweichung oder ein dem Berufungsgericht unterlaufener Verfahrensmangel in der erforderlichen Form dargetan sind ( § 160a Abs 2 Satz 3 SGG ). Im Übrigen hat der Senat bereits entschieden, dass der Gesetzgeber die besonderen Belange der Bewerber um eine bedarfsunabhängige Zulassung als Psychotherapeut, die sich als Eltern auch der Kinderbetreuung und -erziehung widmen mussten, typisierend in § 95 Abs 11b Satz 1 und 2 SGB V dahingehend geregelt hat, dass die Berücksichtigung dieser Umstände nur für die ersten drei Lebensjahre des Kindes möglich ist und dann auch nur zu einer Vorverlegung des Fristbeginns führt. Für eine - hier allein als entscheidungserheblich denkbare - Verlegung des Zeitfensters bis in das Jahr 1998 hinein gibt es keine Grundlage ( vgl BSGE 87, 158, 181 f = SozR 3-2500 § 95 Nr 25 S 130 ). Weitergehende Härte- bzw Übergangsregelungen sind verfassungsrechtlich nicht geboten ( Senatsbeschluss vom 20. Oktober 2004 - B 6 KA 50/04 B - juris, mwN auch zur Rspr des BVerfG ). Auch bei der Klägerin sind bei wertender Betrachtung offenkundig andere Umstände aus ihrer individuellen Lebensplanung als die geltend gemachte Kinderbetreuung wesentlich ursächlich dafür gewesen, dass sie nicht schon während des Zeitfensters ab Juni 1994 an der psychotherapeutischen Versorgung der Versicherten in einem rechtlich bedeutsamen Umfang teilnahm, sondern sich neben der Betreuung ihrer damals fast zehn Jahre alten Tochter auf ihre abhängige Beschäftigung im Umfang von 26 Wochenstunden konzentrierte.
Soweit die Klägerin schließlich geltend macht, die Handhabung des Teilnahmeerfordernisses in § 95 Abs 10 Satz 1 Nr 3 SGB V durch das LSG beinhalte eine europarechtswidrige Diskriminierung wegen des Geschlechts, kann dies ebenfalls nicht zu einer Zulassung der Revision führen. Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich keine in einem Revisionsverfahren klärungsbedürftige Rechtsfrage von grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG. Denn es ist offenkundig, dass eine übergangsrechtliche Vorschrift, die unter Härtegesichtspunkten auf den Umfang einer zu einer bestimmten Zeit bereits vorhandenen Praxissubstanz abstellt und deshalb den bedarfsunabhängigen Zugang zu einer bestimmten beruflichen Tätigkeit von einem Mindesttätigkeitsumfang unterhalb der üblichen Halbtagstätigkeit abhängig macht, keine Diskriminierung wegen des Geschlechts iS der Richtlinien 76/207/EWG vom 9. Februar 1976 und 86/613/EWG vom 11. Dezember 1986 beinhaltet. Die Bestimmung des Art 4 der Richtlinie von 1986 iVm Art 3 Abs 1 der Richtlinie von 1976 untersagen die geschlechtsbezogene Benachteiligung bei den Bedingungen des Zugangs zu Beschäftigung und Arbeitsplätzen sowie bei der Aufnahme oder Ausweitung sonstiger selbstständiger Erwerbstätigkeiten. Eine solche enthält die Forderung nach einer zumindest annähernd halbtags auszuübenden Behandlungstätigkeit gegenüber einer Frau, deren Kind zu Beginn des fraglichen Zeitraums fast zehn Jahre alt gewesen ist, nicht ( vgl Senatsbeschluss vom 28. September 2005 - B 6 KA 19/05 B - juris ).
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 160a Abs 4 Satz 3 Halbsatz 2 SGG abgesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG (in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung).
Fundstellen