Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Sachverhaltsdarstellung. Darlegungsanforderunge. Posttraumatische Belastungsstörung. Fragerecht an den Sachverständigen
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Sachverhaltsdarstellung in der Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde muss das BSG in die Lage versetzen, sich ohne Studium der Gerichts- und Verwaltungsakten allein aufgrund des Beschwerdevortrags ein Bild über den Streitgegenstand sowie seine tatsächlichen und rechtlichen Streitpunkte zu machen; es ist dagegen nicht Aufgabe des BSG, sich im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren selbst die maßgeblichen Tatsachen aus dem angegriffenen Urteil oder den Akten herauszusuchen.
2. Für die Behauptung der Verletzung des Fragerechts an den Sachverständigen ist es für rechtskundig vertretene Beteiligte erforderlich, diejenigen medizinischen Feststellungen näher zu benennen, die im Verfahren auf Grundlage der aktenkundigen medizinischen Sachverständigengutachten und Berichte zu den beabsichtigten Fragen bereits getroffen wurden oder damit zusammenhängen, um sodann auf dieser Basis auf insoweit bestehende Lücken, Widersprüche oder Unklarheiten hinzuweisen; hiervon ausgehend sind die konkret – aus Sicht des Klägers – noch erläuterungsbedürftigen Punkte zu formulieren.
3. Das Recht eines Beteiligten, Fragen an einen Sachverständigen zu stellen, besteht grundsätzlich nur mit Blick auf solche Gutachten, die im selben Rechtszug erstattet worden sind.
Normenkette
OEG § 1; BVG § 1 Abs. 3 S. 1, § 30 Abs. 1 S. 1; VersMedV Teil B Nr. 3.7; VersMedV Teil C Nr. 2d Sätze 2-3; SGG § 116 S. 2, § 118 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 1, § 169 Sätze 2-3; ZPO §§ 397, 402-403, 411 Abs. 4
Verfahrensgang
SG Braunschweig (Entscheidung vom 07.11.2017; Aktenzeichen S 61 SB 541/13) |
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 24.03.2021; Aktenzeichen L 10 SB 177/17) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 24. März 2021 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger wendet sich in der Hauptsache gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 100 auf 90 und die Entziehung des Merkzeichens H zum 1.7.2013. Ebenso wie zuvor das SG (Gerichtsbescheid vom 7.11.2017) hat auch das LSG die Entscheidung des Beklagten (Bescheid vom 21.6.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.9.2013) bestätigt. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage sei bei der hier erhobenen reinen Anfechtungsklage derjenige des Widerspruchsbescheids vom 11.9.2013. Entgegen der Auffassung des Klägers sei durch die überzeugenden Ausführungen des im Berufungsverfahren als Sachverständigen gehörten Augenarztes H in seinem Gutachten vom 14.7.2020 bewiesen, dass bei ihm sowohl zum Zeitpunkt des teilweise zurückgenommenen Bescheids vom 1.9.2011 als auch bei Erlass des Widerspruchsbescheids im September 2013 der Grad des GdB maximal 90 betragen und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H nicht vorgelegen hätten (Urteil vom 24.3.2021).
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht Verfahrensmängel und Divergenz geltend.
Mit Bescheid vom 8.6.2021 hat der Beklagte bei dem Kläger ab 12.2.2021 wieder einen GdB von 100 festgestellt, die Zuerkennung des Merkzeichens H aber weiterhin abgelehnt.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht in der hierfür erforderlichen Weise bezeichnet worden sind (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diese Darlegungsanforderungen an einen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
Soweit der Kläger mit der Auswertung der aktenkundigen medizinischen Befunde und Sachverständigengutachten durch das LSG nicht einverstanden ist und insbesondere meint, das Berufungsgericht hätte sich hinsichtlich der Einschätzung seines Sehvermögens nicht auf das Gutachten des augenärztlichen Sachverständigen H vom 14.7.2020 stützen dürfen, wendet er sich gegen die Beweiswürdigung der Vorinstanz. Eine solche Rüge kann jedoch nach der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG nicht mit Erfolg in einem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren erhoben werden. Denn in einem solchen Verfahren kann die Richtigkeit der Beweiswürdigung des LSG (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) nicht überprüft werden.
Auch mit seiner schlichten Behauptung, das LSG sei "über das begründete Ablehnungsgesuch" gegen den Sachverständigen H"einfach hinweggegangen, obwohl die im Ablehnungsgesuch vorgetragenen Sachverhalte offensichtlich zutreffend" gewesen seien, hat er keinen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG aufgezeigt. Gemäß § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 406 ZPO kann zwar ein gerichtlich bestellter Sachverständiger wegen Besorgnis der Befangenheit auf Antrag eines Prozessbeteiligten abgelehnt werden. Dementsprechend kann die Verwertung eines Sachverständigengutachtens, ohne über die substantiiert begründete Ablehnung des Sachverständigen zu entscheiden, einen Verfahrensmangel begründen (Senatsbeschluss vom 20.3.2017 - B 9 SB 54/16 B - juris RdNr 8). Der Kläger trägt aber selbst vor, dass das LSG sein Ablehnungsgesuch gegen den Sachverständigen H zurückgewiesen hat. Dass das LSG sein Ablehnungsgesuch in dem vom Kläger auch nicht inhaltlich wiedergegebenen Beschluss aus willkürlichen oder manipulativen Erwägungen zurückgewiesen habe (vgl Senatsbeschluss vom 6.8.2019 - B 9 V 14/19 B - juris RdNr 10 mwN), zeigt er nicht substantiiert auf.
Sofern der Kläger darüber hinaus eine unzutreffende Rechtsanwendung des Berufungsgerichts in seinem Einzelfall rügen will, kann er damit im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht gehört werden (vgl stRspr; zB Senatsbeschluss vom 12.8.2020 - B 9 V 27/20 B - juris RdNr 8 mwN).
2. Auch die behauptete Divergenz hat der Kläger nicht ordnungsgemäß bezeichnet. Eine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG aufgestellt hat. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung beruht.
Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies: Die Beschwerdebegründung muss erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz in der in Bezug genommenen höchstrichterlichen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das BSG die höchstrichterliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (vgl stRspr; zB Senatsbeschluss vom 25.10.2019 - B 9 SB 40/19 B - juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 13 R 140/17 B - juris RdNr 12 f). Diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
Der Kläger meint, das LSG weiche von der Rechtsprechung des BVerfG ab, "soweit es den effektiven Rechtsschutz angeht, der sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergibt". Soweit er eine Divergenz darin zu sehen meint, dass die Entscheidung des LSG im Widerspruch zu den von ihm zitierten Entscheidungen des BVerfG stehe, weil es die in dieser Rechtsprechung aufgestellten Rechtsgrundsätze zu Art 19 Abs 4 GG missachtet habe, fehlt es bereits an der Benennung eines divergierenden abstrakten Rechtssatzes aus dem angefochtenen Berufungsurteil. Der Kläger rügt im Kern seines Vorbringens lediglich, dass das LSG seine Sehfähigkeit auf Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen H fehlerhaft eingeschätzt habe. Er bezeichnet indes keinen Rechtssatz des LSG, der die zitierte Rechtsprechung des BVerfG in Frage stellen würde, sondern wendet sich auch hier im Kern gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts. Letztere kann jedoch - wie oben bereits erwähnt - mit der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar angegriffen werden (Senatsbeschluss vom 8.5.2017 - B 9 V 78/16 B - juris RdNr 15). Allein die - behauptete - Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall - zB aufgrund der Nichtbeachtung oder fehlerhaften Anwendung höchstrichterlicher Rechtsprechung - rechtfertigt die Zulassung wegen Divergenz nicht (vgl stRspr; zB Senatsbeschluss vom 16.4.2018 - B 9 V 8/18 B - juris RdNr 14; BSG Beschluss vom 16.3.2017 - B 13 R 390/16 B - juris RdNr 16).
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
4. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14793951 |