Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirtschaftlichkeitsprüfung. Anwendung des § 106 Abs 5e S 1 SGB 5
Orientierungssatz
Durch die Einfügung des Wortes "erstmalig" als Tatbestandsvoraussetzung für die Anwendung des § 106 Abs 5e S 1 SGB 5 habe der Gesetzgeber verdeutlicht, dass die Privilegierung allein den Ärzten zugutekommen solle, die bislang noch keine Veranlassung zu Prüfmaßnahmen gegeben hätten. Eine "erstmalige" Überschreitung setze voraus, dass es nicht bereits in vorangegangenen Prüfungszeiträumen mindestens einmal oder gar wiederholt zu Überschreitungen gekommen sei (vgl BSG vom 22.10.2014 - B 6 KA 3/14 R = BSGE 117, 149 = SozR 4-2500 § 106 Nr 48 RdNr 58).
Normenkette
SGB 5 § 106 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, Abs. 5e S. 1 Fassung: 2011-12-22
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 24.05.2017; Aktenzeichen L 12 KA 19/16) |
SG München (Urteil vom 14.10.2015; Aktenzeichen S 38 KA 621/13) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. Mai 2017 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auf 9443 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Die klagende KÄV wendet sich gegen einen Regress in Höhe von 9443,14 Euro zu Lasten der zu 1. beigeladenen Berufsausübungsgemeinschaft (BAG) nach einer Richtgrößenprüfung für das Jahr 2008. Nachdem die Prüfungsstelle zunächst einen Regress in Höhe von 19 103,96 Euro festgesetzt hatte, reduzierte der beklagte Beschwerdeausschuss den Regressbetrag mit Bescheid vom 13.6.2013 auf 9443,14 Euro. Ebenfalls mit Bescheiden vom 13.6.2013 wandelte der Beklagte schriftliche Beratungen nach § 106 Abs 5a SGB V für die Jahre 2003 und 2005 sowie Regresse für die Jahre 2006 und 2007 in Beratungen nach § 106 Abs 5e SGB V um. Das SG hat den Bescheid für das Jahr 2008 aufgehoben und den Beklagten zur erneuten Entscheidung verurteilt (Urteil vom 14.10.2015). Das LSG hat auf die Berufung der zu 2. beigeladenen AOK das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 24.5.2017). Der Beklagte habe einen Regress festsetzen dürfen, weil die Beigeladene zu 1. im Hinblick auf die Prüfverfahren für die Vorjahre nicht erstmalig ihr Richtgrößenvolumen überschritten habe.
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil macht die Klägerin geltend, das Berufungsurteil weiche von Entscheidungen des BSG ab (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
II. Die Beschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg.
1. Soweit die Klägerin eine Divergenz zur Rechtsprechung des Senats sieht, kann offenbleiben, ob ihre Darlegungen den Begründungsanforderungen entsprechen. Es reicht grundsätzlich nicht aus, aus dem LSG-Urteil inhaltliche Schlussfolgerungen abzuleiten, die einem höchstrichterlich aufgestellten Rechtssatz widersprechen. Eine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt jedenfalls nicht vor. Für die Zulassung einer Revision wegen einer Rechtsprechungsabweichung ist Voraussetzung, dass entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze aus dem LSG-Urteil und aus einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG miteinander unvereinbar sind und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 28 RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44). Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das LSG einen Rechtssatz nicht beachtet oder unrichtig angewandt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Divergenz (stRspr; vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29 und 67). Das LSG-Urteil einerseits und die höchstrichterliche Entscheidung andererseits müssen jeweils abstrakte Rechtssätze enthalten, die einander widersprechen. Das ist hier nicht der Fall.
Die Klägerin meint, das LSG habe den Rechtssatz aufgestellt, dass § 106 Abs 5e S 2 und 7 SGB V (in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 19.10.2012, BGBl I 2192) nicht gelte, wenn vor dem zu beurteilenden Prüfzeitraum bereits eine erstmalige Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % vorgelegen habe. Damit werde von der zeitlichen Geltungsanordnung des § 106 Abs 5e S 7 SGB V in der vom BSG vorgenommenen Auslegung abgewichen. Dabei übersieht die Klägerin, wie die Beigeladene zu 2. zutreffend ausführt, dass das LSG seine Entscheidung nicht auf § 106 Abs 5e S 2 SGB V, sondern auf § 106 Abs 5e S 1 SGB V gestützt hat. Wenn das LSG das Merkmal der "Erstmaligkeit" und damit das Erfordernis einer vorherigen Beratung verneint hat, weil die Beigeladene zu 1. bereits in den Vorjahren ihr Richtgrößenvolumen überschritten und dies zu einer Maßnahme der Wirtschaftlichkeitsprüfung geführt hatte, befindet es sich in Übereinstimmung mit dem BSG. Der Senat hat in seinem Urteil vom 22.10.2014 (B 6 KA 3/14 R - BSGE 117, 149 = SozR 4-2500 § 106 Nr 48, RdNr 65 f) ausgeführt, es sei nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber mit der Einführung des Grundsatzes "Beratung vor Regress" auch Vertragsärzte habe privilegieren wollen, die seit längerem nicht im Einklang mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot tätig seien. Ärzte, die ggf schon seit Jahren ihr Richtgrößenvolumen überschritten und hinlänglich wüssten, welcher Verordnungsumfang von der zuständigen Prüfungsstelle als wirtschaftlich angesehen werde, bedürften einer "Beratung" nicht. Diese wäre vielmehr bloße Förmelei. Durch die Einfügung des Wortes "erstmalig" als Tatbestandsvoraussetzung für die Anwendung des § 106 Abs 5e S 1 SGB V habe der Gesetzgeber verdeutlicht, dass die Privilegierung allein den Ärzten zugutekommen solle, die bislang noch keine Veranlassung zu Prüfmaßnahmen gegeben hätten. Eine "erstmalige" Überschreitung setze voraus, dass es nicht bereits in vorangegangenen Prüfungszeiträumen mindestens einmal oder gar wiederholt zu Überschreitungen gekommen sei (BSG aaO RdNr 58). Die Vorschrift des § 106 Abs 5e S 7 SGB V verhalte sich überhaupt nicht zur Frage der "Erstmaligkeit" der Überschreitung, sondern bestimme allein, dass der Abs 5e "auch" für Verfahren gelte, die am 31.12.2011 noch nicht abgeschlossen gewesen seien. Gegenstand der Regelung sei daher die generelle Frage, auf welche Verfahren § 106 Abs 5e SGB V überhaupt Anwendung finde, dh ob die Regelung nur zukünftige oder auch bereits laufende oder gar bereits durch Bescheide der Prüfgremien abgeschlossene Verfahren erfasse (BSG aaO RdNr 69).
War der Anwendungsbereich des § 106 Abs 5e SGB V nach der Rechtsauffassung des LSG nicht eröffnet, weil es an den Tatbestandsvoraussetzungen des S 1 fehlte, stellte sich die Frage, ob eine "künftige Überschreitung" iS des S 2 vorlag, nicht mehr (zu den unterschiedlichen Tatbestandsvoraussetzungen und unterschiedlichen Rechtsfolgen vgl BSG aaO RdNr 71 f). Die Klägerin entnimmt dem Urteil des LSG die Aussage: "Regressfestsetzungen sind infolge weiterer bzw. nachfolgender ("künftiger") Überschreitungen des Richtgrößenvolumens nicht ausgeschlossen, wenn es sich dabei um einen Prüfzeitraum handelt, der zeitlich vor einer Beratung i.S.d. § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V liegt, dem jedoch vor Inkrafttreten des § 106 Abs. 5e SGB V eine Beratung nach Abs. 5a voranging, die im laufenden Verwaltungsverfahren nach Inkrafttreten des Abs. 5e durch die Prüfgremien in eine Beratung nach Abs. 5e umgewandelt wurde. Die per Bescheidtenor in eine Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V umgewandelte Beratung wirkt auf den Zeitpunkt der erstmaligen Beratung nach § 106 Abs. 5a SGB V zurück, ohne dass die Voraussetzungen einer "individuellen Beratung" i.S.d. § 106 Abs. 5e SGB V vorliegen müssen."
Es kann dahinstehen, ob es sich dabei um einen hinreichend abstrakten Rechtssatz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG handelt. Das angefochtene Urteil des LSG verhält sich jedenfalls weder zur Frage einer "künftigen Überschreitung" iS des § 106 Abs 5e S 2 SGB V noch zu den Anforderungen an eine Beratung. Die Klägerin verkennt insofern auch, dass die "umgewandelten" Maßnahmen betreffend die Jahre 2003, 2005 bis 2007 nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens waren. Dass die Klägerin meint, das LSG habe die höchstrichterliche Rechtsprechung zu § 106 Abs 5e SGB V unzutreffend umgesetzt, vermag eine Divergenz nicht zu begründen.
2. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung ist nicht hinreichend dargetan. Für die Geltendmachung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache muss nach den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Darlegungsanforderungen in der Beschwerdebegründung eine konkrete Rechtsfrage in klarer Formulierung bezeichnet (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 37 f; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 S 14) und ausgeführt werden, inwiefern diese Rechtsfrage in dem mit der Beschwerde angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 mwN).
Es fehlt bereits an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit dieser Fragen. Die Klägerin zeigt nicht auf, welche Bedeutung diesen Fragen angesichts der mit Bescheiden vom 13.6.2013 erfolgten und bestandskräftigen Umwandlung der Beratungen und Regresse für die Jahre 2003 und 2005 bis 2007 noch zukommen kann. Darüber hinaus ist auch ein Klärungsbedarf angesichts der Neustrukturierung der Wirtschaftlichkeitsprüfung durch das GKV-VSG zum 1.1.2017 nicht substantiiert dargelegt. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG sind Fragen zu einer Rechtsnorm, bei der es sich um ausgelaufenes Recht handelt, regelmäßig nicht von grundsätzlicher Bedeutung, weil die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage daraus erwächst, dass ihre Klärung nicht nur für den Einzelfall, sondern im Interesse der Fortbildung des Rechts oder seiner einheitlichen Auslegung erforderlich ist (vgl BSG Beschluss vom 29.11.2017 - B 6 KA 51/17 B - Juris RdNr 15; BSG Beschluss vom 28.6.2017 - B 6 KA 84/16 B - Juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 19.7.2012 - B 1 KR 65/11 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 10 mwN). Bei Rechtsfragen zu bereits außer Kraft getretenem Recht kann eine Klärungsbedürftigkeit nur anerkannt werden, wenn noch eine erhebliche Zahl von Fällen auf der Grundlage dieses ausgelaufenen Rechts zu entscheiden ist oder wenn die Überprüfung der Rechtsnorm bzw ihrer Auslegung aus anderen Gründen fortwirkende allgemeine Bedeutung hat (vgl zB BSG Beschluss vom 28.11.1975 - 12 BJ 150/75 - SozR 1500 § 160a Nr 19; BSG Beschluss vom 7.2.2007 - B 6 KA 56/06 B - Juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 11.3.2009 - B 6 KA 31/08 B - Juris RdNr 20; BSG Beschluss vom 19.7.2012 - B 1 KR 65/11 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 10 mwN). Der Vortrag der Klägerin, die Rechtsfragen stellten sich "noch in einer unbestimmten Anzahl ähnlich gelagerter Verfahren", ist in seiner Allgemeinheit nicht geeignet, eine grundsätzliche Bedeutung zu begründen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm §§ 154 ff VwGO. Danach hat die Klägerin auch die Kosten des von ihr ohne Erfolg durchgeführten Rechtsmittels zu tragen (§ 154 Abs 2 VwGO).
4. Die Festsetzung des Streitwerts hat ihre Grundlage in § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 3 S 1, § 47 Abs 1 und 3 GKG.
Fundstellen
Dokument-Index HI11740409 |