Verfahrensgang
SG Berlin (Entscheidung vom 25.11.2021; Aktenzeichen S 72 KR 3207/19) |
LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 09.06.2022; Aktenzeichen L 14 KR 11/22) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Juni 2022 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die 1973 geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige und lebt zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Spanien. Sie erhält eine Rente wegen voller Erwerbsminderung und ist versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten in der Krankenversicherung der Rentner. Die Klägerin leidet aufgrund eines Gehirntumors an Epilepsie. Infolge eines Sturzes bei einem epileptischen Anfall verlor sie mehrere Zähne und weitere wurden gelockert. Mit ihrem Begehren, die Kosten der erforderlichen zahnärztlichen Behandlung in Spanien im Wege einer Vorwegzahlung in Höhe von 5047 Euro zu übernehmen, ist die Klägerin bei der Beklagten und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Zur Begründung hat das LSG - unter teilweisem Verweis auf die erstinstanzliche Entscheidung - ausgeführt: Die Beklagte erfülle ihre Leistungsverpflichtung in Spanien in Übereinstimmung mit dem Europarecht durch die Zahlung einer Pauschale an die spanische Sozialversicherung (Instituto Nacional de la Seguridad Social, INSS), die der Klägerin im Wege der so genannten Leistungsaushilfe Krankenbehandlungen im Umfang der in Spanien für spanische Versicherte geltenden Vorschriften zu gewähren habe. Dies schließe auch einen Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte nach § 13 Abs 4 Satz 1 SGB V aus. Dass in Spanien im Bereich der Zahnbehandlung vom deutschen Recht abweichende (geringere) Leistungsansprüche bestehen, sei insofern unerheblich. Versicherte hätten angesichts des gleichzeitigen Gewinns an Freizügigkeit hinzunehmen, dass ihnen im Ausland weder der Form noch dem Inhalt nach identische Ansprüche zustehen wie im Inland (Verweis auf BSG vom 13.7.2004 - B 1 KR 33/02 R - RdNr 36). Auch aus der Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.3.2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung ergäben sich keine weiteren Ansprüche (Urteil vom 9.6.2022).
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des allein geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung.
1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 ff mwN). Dem wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.
2. Die Klägerin formuliert folgende Rechtsfrage:
"Hat eine - sowohl in Deutschland als auch im europäischen Ausland krankenversicherte Person einen Anspruch auf Kostenübernahme gegen ihre deutsche, im Inland zur Leistung verpflichtete Versicherungsträgerin, wenn die kostenverursachende, notwendige ärztliche Behandlung im europäischen Durchführungsland nicht von der ausländischen Krankenversicherung übernommen wird, aber aufgrund von Transportunfähigkeit dort ausgeführt werden muss?"
Sie legt aber weder die Klärungsbedürftigkeit (dazu 3.) noch die Klärungsfähigkeit (dazu 4.) dieser Rechtsfrage hinreichend dar.
3. Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn sie bereits höchstrichterlich entschieden ist. Die Beschwerdebegründung hat deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rspr und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (vgl BSG vom 22.2.2017 - B 1 KR 73/16 B - juris RdNr 8 mwN; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit eines entsprechenden Maßstabs BVerfG ≪Kammer≫ vom 12.9.1991 - 1 BvR 765/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10 f = juris RdNr 4).
Eine Rechtsfrage ist auch dann nicht klärungsbedürftig, obwohl das BSG sie noch nicht ausdrücklich behandelt hat, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sodass eine weitere Klärung oder Fortentwicklung des Rechts nicht mehr zu erwarten ist (stRspr; vgl zB BSG vom 16.4.2012 - B 1 KR 25/11 B - juris RdNr 7 mwN).
Eine Rechtsfrage, über die bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, kann wieder klärungsbedürftig werden, wenn der Rspr in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden, was im Rahmen der Beschwerdebegründung ebenfalls darzulegen ist (vgl zB BSG vom 19.7.2012 - B 1 KR 65/11 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 32; BSG vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - juris RdNr 7). Erneute Klärungsbedürftigkeit ist darüber hinaus auch gegeben, wenn neue erhebliche Gesichtspunkte gegen die bisherige Rspr vorgebracht werden, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden Betrachtung der aufgeworfenen Fragestellung führen können und die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung nicht offensichtlich ausschließen (vgl BSG vom 30.9.1992 - 11 BAr 47/92 - SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2; BSG vom 11.2.2020 - B 10 EG 14/19 B - juris RdNr 6, jeweils mwN).
Gemessen daran legt die Klägerin die Klärungsbedürftigkeit der von ihr aufgeworfenen Rechtsfrage nicht hinreichend dar.
a) Zu den mit den vorliegend einschlägigen Regelungen der VO (EG) 883/2004 insoweit inhaltsgleichen Vorgängerregelungen der EWGV 1408/71 hat der erkennende Senat entschieden, dass die Sperre des § 16 Abs 1 Nr 1 SGB V durch die Regelungen des koordinierenden Europarechts nicht überwunden wird. An die Stelle des während des Aufenthaltes im EU-Ausland ausgeschlossenen Krankenbehandlungsanspruchs gegen die deutsche Krankenkasse tritt der Anspruch auf Sachleistungsaushilfe gegen den Träger des Aufenthaltsorts (vorliegend nach Art 24 Abs 1 VO ≪EG≫ 883/2004). Die krankenversicherungsrechtlichen Ansprüche der in einem anderen Mitgliedstaat erkrankenden Versicherten sind dabei durch die Einbeziehung in das Sachleistungssystem des Trägers des Aufenthaltsorts auf dasjenige beschränkt, was das Recht des Aufenthaltsstaats zur Verfügung stellt (BSG vom 13.7.2004 - B 1 KR 33/02 R - SozR 4-2500 § 13 Nr 3 RdNr 27 = juris RdNr 36; BSG vom 30.6.2009 - B 1 KR 22/08 R - BSGE 104, 1 = SozR 4-2500 § 13 Nr 23, RdNr 45). Die Freizügigkeit innerhalb der EU wird demnach nicht durch den Export von nationalen Ansprüchen (hier: von Deutschland nach Spanien), sondern durch die Einbeziehung von Berechtigten in das Sozialleistungssystem des Aufenthaltsorts sichergestellt (BSG vom 13.7.2004 - B 1 KR 33/02 R - SozR 4-2500 § 13 Nr 3 RdNr 27 = juris RdNr 36; EuGH vom 3.7.2003 - C-156/01 - EuGHE I 2003, 7045 RdNr 53 = SozR 4-6050 Art 22 Nr 1 - van der Duin). Dabei unterstellen die Kollisionsnormen die rechtliche Gleichwertigkeit der in den verschiedenen Mitgliedstaaten vorhandenen Krankenversicherungssysteme (BSG aaO). Neben dem Anspruch gegen den ausländischen Träger nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften begründet das europäische Recht keinen zusätzlichen Anspruch des Leistungsberechtigten gegen den Träger seines Heimatstaats, es sei denn, dieser hat von der Befugnis Gebrauch gemacht, seine Leistungspflicht in dieser Richtung zu erweitern (vgl EuGH aaO RdNr 41 mwN). Infolgedessen haben Versicherte angesichts des gleichzeitigen Gewinns an Freizügigkeit hinzunehmen, dass ihnen im Ausland weder der Form noch dem Inhalt nach identische Ansprüche zustehen wie im Inland (BSG vom 30.6.2009 - B 1 KR 22/08 R - BSGE 104, 1 = SozR 4-2500 § 13 Nr 23, RdNr 45; vgl auch EuGH vom 19.6.1980 - 41/79 - EuGHE 1980, 1979 RdNr 14 = SozR 6050 Art 69 Nr 6 S 22 f - Testa; EuGH vom 8.4.1992 - C-62/91 - EuGHE I 1992, 2737 RdNr 11 = SozR 3-6050 Art 67 Nr 3 S 8 - Gray).
Soweit die nach den europarechtlichen Vorschriften vorgeschriebene Anwendung des Rechts des Mitgliedstaats des Aufenthaltsortes eine Beschränkung des Leistungsanspruchs nach sich zieht, stellt dies nach der Rspr des erkennenden Senats auch kein einen Anspruch gegen die deutsche Krankenkasse begründendes Systemversagen dar. Selbst wenn einzelne Leistungen, die vom Leistungskatalog der deutschen GKV umfasst sind, nicht zu den nach dem Recht des Aufenthaltsmitgliedstaats vorgesehenen Leistungen gehören, besteht daher unter dem Blickwinkel der Freizügigkeit kein Anlass, Versicherten Ansprüche zuzuerkennen, wie sie Versicherten in Deutschland zustehen (BSG vom 13.7.2004 - B 1 KR 33/02 R - SozR 4-2500 § 13 Nr 3 RdNr 27 = juris RdNr 36).
b) Inwiefern die von ihr aufgeworfene Rechtsfrage durch die vorgenannte Rspr des erkennenden Senats und des EuGH noch nicht zweifelsfrei beantwortet sein sollte, legt die Klägerin nicht schlüssig dar. Allein die von ihr herausgearbeiteten (vermeintlichen) Unterschiede der Tatbestände der Entscheidung des BSG vom 13.7.2004 - B 1 KR 33/02 R - und des vorliegenden Verfahrens begründen eine Klärungsbedürftigkeit der von ihr aufgeworfenen Rechtsfrage nicht.
Insbesondere legt die Klägerin nicht schlüssig dar, warum nach der dargestellten Rspr noch Zweifel daran bestehen könnten, dass die Frage nach dem Bestehen von Leistungsansprüchen gegen die deutsche Krankenkasse auch dann nach den oben genannten Grundsätzen zu beantworten ist, wenn die/der Versicherte den Mitgliedstaat seines Aufenthaltsortes aufgrund von Transportunfähigkeit nicht verlassen kann. Zwar haben in Deutschland pflichtversicherte Rentner, die ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in einem anderen Mitgliedstaat der EU haben, Leistungsansprüche nach Maßgabe der deutschen Rechtsvorschriften, wenn sie sich vorübergehend in Deutschland aufhalten (vgl BSG vom 5.7.2005 - B 1 KR 4/04 R - SozR 4-2400 § 3 Nr 2). Warum sich allein daraus zugleich eine Verpflichtung der Krankenkasse ergeben sollte, ihren Versicherten die Möglichkeit zu verschaffen, zum Zwecke der Inanspruchnahme von GKV-Leistungen nach Deutschland einzureisen oder Leistungen nach Maßgabe der deutschen Rechtsvorschriften im Ausland in Anspruch zu nehmen, lässt sich dem Vorbringen der Klägerin nicht entnehmen.
Soweit die Klägerin geltend macht, sie könne aufgrund ihrer Behinderung von ihrer Freizügigkeit keinen Gebrauch machen, verkennt sie zudem, dass maßgeblich für ihre Einbeziehung in das Sachleistungssystem der spanischen Krankenversicherung nach der dargestellten Rspr des BSG und EuGH allein ist, dass sie durch die Begründung ihres Aufenthalts in Spanien von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, nicht dagegen, ob sie faktisch die Möglichkeit hat, nach Deutschland zurückzukehren und hier Leistungen der GKV in Anspruch zu nehmen.
c) Die Klägerin legt auch nicht dar, dass der Rspr des BSG in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wurde oder dass hiergegen neue erhebliche Gesichtspunkte vorgebracht werden, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden Betrachtung der aufgeworfenen Fragestellung führen können und die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung nicht offensichtlich ausschließen.
d) Soweit die Klägerin geltend macht, das LSG missachte geltende Regelungen der VO (EG) 883/2004 und seine rechtliche Bewertung verstoße gegen die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV), rügt sie nur die inhaltliche Unrichtigkeit des LSG-Urteils in ihrem Einzelfall. Die Behauptung, die Berufungsentscheidung sei inhaltlich unrichtig, kann aber nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; vgl BSG vom 17.7.2020 - B 1 KR 34/19 B - juris RdNr 6 mwN).
4. Klärungsfähig ist eine Rechtsfrage nur dann, wenn das BSG im angestrebten Revisionsverfahren überhaupt hierüber entscheiden müsste, die Frage also entscheidungserheblich ist (vgl BSG vom 13.1.2017 - B 12 R 23/16 B - juris RdNr 20; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 18.12.1991 - 1 BvR 1411/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14 = juris RdNr 8). Wie das Vorliegen grundsätzlicher Bedeutung insgesamt, ist dies auf der Tatsachengrundlage der Vorinstanz zu beurteilen. Auch Darlegungen zur Klärungsfähigkeit müssen sich also auf die Tatsachen beziehen, die das LSG im angegriffenen Urteil mit Bindungswirkung für das BSG (§ 163 SGG) festgestellt hat (vgl BSG vom 12.8.2020 - B 1 KR 46/19 B - juris RdNr 10 mwN). Dem wird die Klägerin nicht gerecht.
Die Klägerin legt nicht dar, dass das LSG Feststellungen dazu getroffen hat, dass die von ihr begehrte Behandlung "aufgrund von Transportunfähigkeit" zwingend in Spanien ausgeführt werden muss.
5. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
6. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Schlegel |
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Geiger |
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Bockholdt |
Fundstellen
Dokument-Index HI15796738 |