Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. soziales Entschädigungsrecht. GdS-Feststellung. Annahme eines "schwachen" Einzel-GdS durch das LSG. entgegenstehendes Gutachten. genaue Wiedergabe des Inhalts des Gutachtens. erforderliche medizinische Sachkunde des Gerichts. tatgerichtliche Aufgabe der GdS-Bewertung. richterliche Beweiswürdigung. sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. rechtliches Gehör. Überraschungsentscheidung. Thematisierung in den Vorinstanzen. vorherige Ablehnung einer erhöhenden Wirkung des Einzel-GdS durch Verfahrensgegner. Darlegungsanforderungen
Orientierungssatz
1. Rügt der Beschwerdeführer einer Nichtzulassungsbeschwerde, das LSG habe entgegen eines Gutachtens einen Einzel-GdS ohne eigene medizinische Sachkunde zu Unrecht als "schwachen" GdS eingeordnet, muss er in der Beschwerdebegründung den genauen Inhalt (und nicht nur seine eigene Interpretation) des maßgeblichen ärztlichen Gutachtens wiedergeben.
2. Soweit die Beschwerde insoweit dem LSG die Sachkunde für die Bewertung des Einzel-GdS sowie für die Beurteilung des Gesamt-GdS abspricht (zur tatrichterlichen Aufgabe der GdB-Bewertung vgl BSG vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R = SozR 4-3250 § 69 Nr 10), wendet sie sich letztlich gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, die § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG der Beurteilung durch das Revisionsgericht vollständig entzieht.
3. War die Frage einer erhöhenden Wirkung eines Einzel-GdS in den Instanzen bereits Verfahrensgegenstand (hier: ausdrückliche Verneinung durch den Beklagten), bedarf es zur Darlegung einer Gehörsverletzung in Gestalt einer Überraschungsentscheidung näherer Ausführungen dazu, warum trotzdem ein besonnener und kundiger Prozessbeteiligter nicht damit zu rechnen brauchte, dass nunmehr das LSG auch in seinem abschließenden Urteil die erhöhende Wirkung verneinen würde.
Normenkette
SGG § 160a Abs 2 S. 3, § 160 Abs 2 Nr. 3 Hs. 1, § 160 Abs 2 Nr. 3 Hs. 2, §§ 62, 106 Abs 3 Nr. 4 Alt. 2, § 128 Abs 2; ZPO § 411; BVG § 30 Abs 1 S. 1; VersMedV Anlage Teil A Buchst. d DBuchst ee S. 2; GG Art. 103
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Februar 2019 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Der Kläger begehrt höhere Entschädigungsleistungen für die Folgen seiner rechtsstaatswidrigen Haft in der DDR.
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Der Beklagte hat als Schädigungsfolgen der rechtsstaatswidrigen Haft des Klägers in der DDR und den dabei erlittenen schweren Misshandlungen ua folgende Gesundheitsstörungen festgestellt |
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Posttraumatische Belastungsstörung, |
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Depressionen, Ängste, Panikattacken, |
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chronisches Schmerzsyndrom mit Schmerzmittelabhängigkeit, |
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Loch in der Nasenscheidewand mit Krusten- und Borkenbildung und behinderter Nasenatmung, Schiefnase, |
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Schmerzempfindlichkeit im Stirnbereich nach Entnahme eines Stirnlappens |
und sie zuletzt mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 bewertet sowie eine besondere berufliche Betroffenheit des Klägers anerkannt. Der Beklagte gewährte dem Kläger dafür ab dem 1.8.2005 Beschädigtenrente nach einem GdS von insgesamt 60 und gestand ihm dem Grunde nach einen Anspruch auf Berufsschadensausgleich und Ausgleichsrente zu. |
Mit einem am 1.10.2012 gestellten Überprüfungsantrag begehrte der Kläger erfolglos die Feststellung weiterer Schädigungsfolgen sowie eines höheren GdS (Bescheid vom 9.1.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.9.2013, SG-Urteil vom 7.5.2015).
Das LSG hat den Beklagten auf die Berufung des Klägers verurteilt, als weitere Schädigungsfolge eine relative Harninkontinenz im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen, den geltend gemachten Anspruch auf höhere Entschädigung nach einem GdS von 70 aber verneint. Anders als die von beiden Instanzen gehörte psychiatrische Sachverständige annehme, erhöhten die beim Kläger wegen seiner Nasenverletzung anerkannten Schädigungsfolgen nicht den Gesamt-GdS. Die Beschwerden des Klägers im Zusammenhang mit dieser Schädigung seien von wechselnder Ausprägung und zudem nur teilweise schädigungsbedingt (Urteil vom 12.2.2019).
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt, mit der er geltend macht, das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Bei der Bewertung der Schädigungsfolgen durch das LSG handele es sich um eine Verletzung rechtlichen Gehörs insbesondere in Gestalt einer Überraschungsentscheidung.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil der allein behauptete Verfahrensmangel nicht ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung dieses Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst substantiiert die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen dargetan werden. Dies wird aber nur dann erkennbar, wenn zuvor diese Tatsachen im Zusammenhang mit dem Verfahrensgang dargestellt und einer rechtlichen Wertung unterzogen werden. Hieran fehlt es.
Der Kläger wirft dem Berufungsgericht vor, es habe bei der Beurteilung seines Gesamt-GdS überraschend keinen vollen GdS von 20 für die Folgen seiner Nasenverletzung zugrunde gelegt, wie ihn die Sachverständige Prof. Dr. S in ihrem Gutachten vom 11.7.2011 aber angenommen habe. Es habe diesen GdS vielmehr ohne eigene medizinische Sachkunde zu Unrecht als "schwachen" GdS eingeordnet.
Indes kann der Senat die Stichhaltigkeit dieser Rüge auf der Grundlage des Beschwerdevortrags schon deshalb nicht abschließend beurteilen, weil es die Beschwerde versäumt hat, den Inhalt des maßgeblichen HNO-ärztlichen Gutachtens ausreichend wiederzugeben, anstatt nur dessen aus ihrer Sicht zutreffende Interpretation mitzuteilen. Es ist aber nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, aus der Beschwerdebegründung unter Heranziehung von Verwaltungs- und Prozessakten das zur Substantiierung der Beschwerde Erforderliche herauszusuchen (Senatsbeschluss vom 29.1.2018 - B 9 V 39/17 B - juris RdNr 10 mwN).
Auch unabhängig davon ist eine Gehörsverletzung in Gestalt einer Überraschungsentscheidung und damit der geltend gemachte Verstoß gegen §§ 62, 128 Abs 2 SGG, Art 103 GG nicht dargetan. Eine ausreichende Gewährleistung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass ein Verfahrensbeteiligter bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann (vgl BVerfG Kammerbeschluss vom 15.8.1996 - 2 BvR 2600/95 - juris RdNr 22 unter Hinweis auf BVerfGE 31, 364, 370; 66, 116, 147; 74, 1 5). Um den Anspruch auf rechtliches Gehör und damit zugleich das Gebot fairen Verfahrens (vgl BSG Beschluss vom 7.8.2014 - B 13 R 441/13 B - juris) zu wahren, darf das Gericht deshalb seine Entscheidung nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützen, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (Senatsbeschluss vom 2.12.2015 - B 9 V 12/15 B - juris RdNr 20 mwN).
Diese Voraussetzungen hat die Beschwerde nicht dargelegt. Bereits das SG hatte es danach abgelehnt, den GdS des Klägers auf HNO-Gebiet erhöhend zu berücksichtigen. Die Beschwerde setzt sich auch nicht damit auseinander, dass daran anknüpfend auch der Beklagte die Rechtsauffassung vertreten hat, eine Erhöhung des Gesamt-GdS durch die feststellbaren Funktionsbeeinträchtigungen auf HNO-Fachgebiet sei sehr fraglich. Auf eine vergleichbare Ansicht deutet auch der von Beschwerde mitgeteilte rechtliche Hinweis des Berichterstatters vom 21.1.2019 hin. Darin wird ausgeführt, eine Erhöhung des höchsten Einzel-GdS wegen des regelmäßigen Nasenblutens des Klägers - mithin eines Teilaspekts des GdS auf HNO-Gebiet - dürfte ausscheiden. Die Frage einer erhöhenden Wirkung des Einzel-GdS auf HNO-Gebiet war somit in beiden Instanzen Verfahrensgegenstand; die Vorinstanzen und der Beklagte haben sie ausdrücklich in Zweifel gezogen oder sogar verneint. Vor diesem Hintergrund hätte es der Darlegung bedurft, warum trotzdem ein besonnener und kundiger Prozessbeteiligter nicht damit zu rechnen brauchte, dass nunmehr das LSG auch in seinem abschließenden Urteil die erhöhende Wirkung verneinen würde.
Soweit die Beschwerde insoweit dem LSG die Sachkunde für die Bewertung des Einzel-GdS sowie für die Beurteilung des Gesamt-GdS abspricht (zur tatrichterlichen Aufgabe der GdB-Bewertung vgl Senatsurteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R = SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 23 f), wendet sie sich letztlich gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, die § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG indes der Beurteilung durch das Revisionsgericht vollständig entzieht. Kraft der darin enthaltenen ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung kann die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts mit der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar angegriffen werden (Senatsbeschluss vom 8.5.2017 - B 9 V 78/16 B - juris RdNr 15 mwN).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
2. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 SGG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13579392 |