Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des Gehörsanspruchs. Nichtberücksichtigung von Beteiligtenvortrag. Unzutreffende Beweiswürdigung und Normauslegung. Unrichtige Rechtsanwendung
Leitsatz (redaktionell)
1. Um eine Verletzung des Gehörsanspruchs durch Nichtberücksichtigung von Beteiligtenvortrag annehmen zu können, müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist.
2. Geht das Gericht in seinen Entscheidungsgründen auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage nicht ein, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war.
3. Auf eine unzutreffende Beweiswürdigung und Normauslegung kann eine Gehörsrüge nicht gestützt werden.
4. Der Anspruch auf rechtliches Gehör enthält keinen Anspruch, dass die Gerichte der Rechtsansicht des Grundrechtsträgers folgen, und schützt nicht vor einer aus dessen Sicht „unrichtigen” Rechtsanwendung.
Normenkette
SGG §§ 62, 103, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 1, § 169; GG Art. 103 Abs. 1; SGB III § 25; SGB IV §§ 7, 14
Verfahrensgang
SG Lüneburg (Entscheidung vom 10.05.2021; Aktenzeichen S 7 AL 37/20) |
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 22.09.2021; Aktenzeichen L 7 AL 61/21) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 22. September 2021 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der allein als Zulassungsgrund geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht in der erforderlichen Weise bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Beschwerde ist daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG, § 169 SGG).
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund stützt, muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die diesen Verfahrensmangel des LSG (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr; siehe bereits BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 16 mwN). Darüber hinaus ist aufzuzeigen, dass und warum die Entscheidung - ausgehend von der Rechtsansicht des LSG - auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit der Beeinflussung des Urteils besteht (stRspr; vgl bereits BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
a) Zum einen rügt der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG), weil das LSG sich nicht mit seinem Vortrag auseinandergesetzt habe, dass der Arbeitgeber eine bezahlte Hospitation angeboten habe und dass § 25 SGB III im Lichte des § 7 SGB IV auszulegen sei.
Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat (BVerfG vom 22.11.1983 - 2 BvR 399/81 - BVerfGE 65, 293 [295 f] mwN; BVerfG vom 19.5.1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 [145]; BVerfG vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205 [216 f]; BVerfG ≪Kammer≫ vom 26.9.2012 - 2 BvR 938/12 - BVerfGK 20, 53 [57] mwN; aus jüngerer Zeit etwa BVerfG ≪Kammer≫ vom 8.2.2021 - 1 BvR 242/21 - juris RdNr 6). Um eine Verletzung des Gehörsanspruchs durch Nichtberücksichtigung von Beteiligtenvortrag annehmen zu können, müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (BVerfG vom 22.11.1983 - 2 BvR 399/81 - BVerfGE 65, 293 [295 f] mwN; BVerfG vom 19.5.1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 [145]; BVerfG ≪Kammer≫ vom 17.12.1998 - 2 BvR 1556/98 - juris RdNr 10; aus jüngerer Zeit etwa BVerfG ≪Kammer≫ vom 8.2.2021 - 1 BvR 242/21 - juris RdNr 6). Geht das Gericht in seinen Entscheidungsgründen auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage nicht ein, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (BVerfG vom 19.5.1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 [145]; BVerfG ≪Kammer≫ vom 17.12.1998 - 2 BvR 1556/98 - juris RdNr 10; aus jüngerer Zeit etwa BVerfG ≪Kammer≫ vom 8.2.2021 - 1 BvR 242/21 - juris RdNr 6; aus der Rechtsprechung des Senats etwa BSG vom 31.8.2021 - B 11 AL 31/21 B - juris RdNr 6). Für Rechtsausführungen gilt dies entsprechend.
Gemessen an diesen Maßstäben ist eine Gehörsverletzung nicht hinreichend dargetan. Die Beschwerdebegründung räumt selbst ein, dass sich das LSG mit dem Vortrag des Klägers "grundsätzlich" auseinandergesetzt habe. Warum weitergehende Ausführungen zur Wahrung des Gehörsanspruchs erforderlich gewesen wären, legt die Beschwerdebegründung nicht plausibel dar. Hinsichtlich des im Schriftsatz vom 14.9.2021 erfolgten Vortrages, der Arbeitgeber habe eine bezahlte Hospitation gewünscht, wird bereits nicht deutlich, aus welchem Grund der bloße Wunsch eines Arbeitgebers - an anderer Stelle der Beschwerdebegründung wird ausgeführt, dass der Arbeitgeber über eine bezahlte Hospitation "nachgedacht" habe - Bedeutung für die tatsächlichen Umstände und deren rechtliche Würdigung haben sollen und deswegen Ausführungen in den Entscheidungsgründen hierzu zwingend erforderlich gewesen wären. Die Beschwerdebegründung führt im Übrigen selbst aus, dass das LSG davon ausgegangen sei, dass der Kläger als "Hospital" (gemeint: Hospitant) ohne Vergütung tätig gewesen sei. Außerdem lässt sich dem Urteil des LSG entnehmen, dass bereits das SG den Umstand gewürdigt hatte, dass sich aus dem vom Kläger vorgelegten Laufzettel ergebe, dass dieser in der Zeit vom 1. bis 10.10.2018 nicht als Arzt, sondern als Hospitant geführt worden sei. Auch das LSG hat sich zum Vortrag des Klägers, bereits ab dem 1.10.2018 auf Weisung eines Dritten ärztliche Leistungen erbracht zu haben, verhalten.
Auch ist nicht schlüssig vorgetragen, wieso das LSG zwingend auf seinen Vortrag hätte eingehen müssen, dass § 25 SGB III im Lichte von § 7 SGB IV ausgelegt und angewendet werden müsse. § 25 Abs 1 Satz 1 SGB III greift für die Definition der versicherungspflichtigen Beschäftigung den Beschäftigtenbegriff des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB IV auf, erweitert ihn aber um das Tatbestandsmerkmal der Entgeltlichkeit (vgl § 14 SGB IV). Zwischen § 25 Abs 1 Satz 1 SGB III und § 7 SGB IV besteht also kein Widerspruch, sodass nicht nachvollziehbar ist, weswegen der Kläger rügt, das LSG habe an keiner Stelle seines Urteils die Anwendbarkeit des § 7 SGB IV zurückgewiesen. Die Beschwerdebegründung legt zudem nicht dar, wieso es vor dem Hintergrund, dass das LSG eine Entgeltlichkeit im fraglichen Zeitraum verneint hat, weiterer Ausführungen zum Beschäftigtenbegriff bedurft hätte. Es entspricht der Rechtsprechung des Senats, dass die Zahlung von Arbeitsentgelt für die Bejahung der Versicherungspflicht nach § 25 Abs 1 Satz 1 Var 1 SGB III erforderlich ist (vgl etwa BSG vom 30.8.2018 - B 11 AL 15/17 R - BSGE 126, 217 = SozR 4-4300 § 150 Nr 5, RdNr 16; BSG vom 3.11.2021 - B 11 AL 8/20 R - noch nicht veröffentlicht), die Rechtsauffassung des Klägers, es komme auf die Entgeltlichkeit nicht an, ist angesichts des (auch von ihm konzedierten) Normwortlauts und der höchstrichterlichen Rechtsprechung also fernliegend.
Das Vorbringen des Klägers in der Beschwerdebegründung ist im Übrigen widersprüchlich, wenn er einerseits insinuiert, dass er zwischen dem 1. und 10.10.2018 (als Hospitant) gegen Entgelt beschäftigt gewesen sei - an anderer Stelle allerdings lediglich formuliert, dass die Beschäftigung "gegebenenfalls sogar entgeltlich war" -, andererseits sich aber gerade gegen die Auffassung des LSG wendet, dass es auf die Entgeltlichkeit der Beschäftigung für die Versicherungspflicht nach § 25 Abs 1 Satz 1 Var 1 SGB III ankomme.
Damit hat die Beschwerdebegründung eine Gehörsverletzung nicht schlüssig behauptet. Sie rügt der Sache nach allenfalls eine aus ihrer Sicht unzutreffende Beweiswürdigung und Normauslegung des LSG. Hierauf kann die Gehörsrüge indes nicht gestützt werden (vgl etwa BSG vom 25.6.2021 - B 13 R 93/20 B - juris RdNr 13; BSG vom 31.8.2021 - B 11 AL 31/21 B - juris RdNr 7). Art 103 Abs 1 GG enthält auch keinen Anspruch, dass die Gerichte der Rechtsansicht des Grundrechtsträgers folgen, und schützt nicht vor einer aus dessen Sicht "unrichtigen" Rechtsanwendung (BVerfG ≪Kammer≫ vom 6.5.2010 - 1 BvR 96/10 - SozR 4-1500 § 178a Nr 11 RdNr 28, insofern in BVerfGK 17, 298 nicht abgedruckt; BSG vom 31.8.2021 - B 11 AL 31/21 B - juris RdNr 7).
b) Zum anderen rügt der Kläger sinngemäß eine Verletzung des § 103 SGG, weil das LSG seinen Beweisanträgen nicht gefolgt sei. Der Kläger behauptet indes noch nicht einmal, einen Beweisantrag auch in der mündlichen Verhandlung aufrechterhalten zu haben; dies aber ist erforderlich (vgl hierzu BSG vom 18.12.2000 - B 2 U 336/00 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 31 S 51 f; BSG vom 18.9.2003 - B 9 SB 11/03 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 6; BSG vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11; ferner etwa BSG vom 13.1.2020 - B 4 AS 10/20 B - RdNr 6; BSG vom 28.1.2021 - B 11 AL 44/20 B - juris RdNr 3). Der Kläger hat in der Beschwerdebegründung auch keine Umstände vorgetragen, die Anlass geben könnten, von dieser Anforderung im vorliegenden Fall abzusehen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI15052514 |