Verfahrensgang
SG Gießen (Entscheidung vom 08.04.2016; Aktenzeichen S 5 R 401/13) |
Hessisches LSG (Urteil vom 17.05.2019; Aktenzeichen L 5 R 189/16) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 17. Mai 2019 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Mit Urteil vom 17.5.2019 hat das Hessische LSG einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung verneint.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt, die sie mit Schriftsatz vom 2.9.2019 begründet hat.
II
1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen. Die Beschwerdebegründung vom 2.9.2019 genügt nicht der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form. Die Klägerin hat darin weder den geltend gemachten Verfahrensmangel (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) noch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) in der gesetzlich vorgesehenen Weise bezeichnet bzw dargelegt.
a) Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass iS von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des Berufungsgerichts ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (stRspr; zB BSG Beschluss vom 27.10.2010 - B 12 KR 2/10 B - juris RdNr 5; jüngst BSG Beschluss vom 9.12.2019 - B 13 R 259/19 B - juris RdNr 4). Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Berufungsgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung vom 2.9.2019 nicht gerecht.
Die Klägerin rügt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 GG). Sie bringt dazu vor, das LSG habe zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters S eingeholt, der ein aufgehobenes Leistungsvermögen spätestens ab Dezember 2012 angenommen habe. Zum früheren Eintritt des Leistungsfalls - die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer Erwerbminderungsrente hätten letztmals Ende April 2011 vorgelegen - habe er ausgeführt, dieser sei vorstellbar, es erscheine aber fraglich, ob die diesbezüglichen Argumente und Hinweise für einen Vollbeweis ausreichen würden. In einer ergänzenden Stellungnahme habe der Sachverständige S an dieser Einschätzung festgehalten. Daraufhin habe das LSG auf Antrag der Klägerin ein Gutachten des Psychiaters und Psychotherapeuten H eingeholt, nach dessen Einschätzung das quantitative Leistungsvermögen der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits im Herbst 2010 auf unter drei Stunden arbeitstäglich herabgesunken gewesen sei. Der Zeitpunkt des Eintritts des Leistungsfalls sei zwischen den Beteiligten streitig geblieben. Mit Schreiben vom 16.10.2018 habe das LSG darauf hingewiesen, dass eine weitere Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen nicht beabsichtigt sei. Es werde insbesondere kein Anlass gesehen, eine Stellungnahme des Sachverständigen S zum Gutachten des Sachverständigen H einzuholen. Sodann sei auf Antrag der Klägerin eine Stellungnahme des Sachverständigen H zu der beratungsärztlichen Stellungnahme eingeholt worden, die die Beklagte zu seinem Gutachten vorgelegt habe. Nach Vorlage dieser ergänzenden Stellungnahme durch den Sachverständigen H habe das LSG mit Hinweisschreiben vom 14.1.2019 erneut mitgeteilt, es sei nicht beabsichtigt, eine ergänzende Stellungnahme beim Sachverständigen S einzuholen. Das LSG habe sodann im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung über die Berufung entschieden und sei von einem erst nach April 2011 eingetretenen Leistungsfall ausgegangen. Nach dem Dafürhalten der Klägerin hätte das LSG zu erkennen geben müssen, dass und warum es der Einschätzung des Sachverständigen H nicht zu folgen gedenke. Bei Erteilung eines solchen Hinweises hätte sie von ihrem Fragerecht gegenüber dem Sachverständige S Gebrauch gemacht. Eine Befragung hätte dazu führen können, dass dieser sich hinsichtlich des Eintritts des Leistungsfalls dem Sachverständigen H angeschlossen hätte.
Damit hat die Klägerin keinen rügefähigen Verfahrensmangel bezeichnet. Das gilt zunächst mit Blick darauf, dass das LSG ihr keinen gerichtlichen Hinweis erteilt hat. Es gibt keine allgemeine Verpflichtung der Gerichte, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Tatsachen- und Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern. Eine derartige Hinweispflicht wird weder durch den allgemeinen Anspruch auf rechtliches Gehör aus § 62 SGG bzw Art 103 Abs 1 GG noch durch die Regelungen zu richterlichen Hinweispflichten in § 106 Abs 1 und § 112 Abs 2 Satz 2 SGG begründet, denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung (BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - juris RdNr 44; BSG Beschluss vom 24.1.2018 - B 13 R 377/15 B - juris RdNr 19; BSG Beschluss vom 21.1.2020 - B 13 R 287/18 B - juris RdNr 12; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 590 mwN). Die Klägerin hat auch keine Umstände schlüssig dargetan, die vorliegend ausnahmsweise für das Bestehen einer Hinweispflicht sprechen könnten.
Das klägerische Vorbringen genügt auch nicht den Anforderungen an die Bezeichnung einer Gehörsverletzung in Form einer Überraschungsentscheidung. Von Letzterer kann nur ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262 - juris RdNr 18 mwN; BSG Beschluss vom 21.1.2020 - B 13 R 287/18 B - juris RdNr 13). Die Klägerin hat keine Umstände dargetan, die einzeln oder kumulativ eine solche unerwartete Wende zu begründen in der Lage wären. Sie hat selbst dargelegt, dass die allen Beteiligten bekannte Einschätzung des Sachverständigen S den geltend gemachten Anspruch nicht getragen habe. Soweit sie meint, die danach zu ihren Lasten verbliebene "Lücke in der Beweisführung" sei durch die Ausführungen im Gutachten des Sachverständigen H geschlossen worden, hat die Klägerin nichts dargelegt, was ihr Anlass zu der Annahme gegeben haben könnte, das LSG werde ihre Art der Beweiswürdigung teilen. Aus der Mitteilung über den Abschluss der Sachverhaltsermittlungen von Amts wegen durfte sie dies jedenfalls nicht schließen. Eine derartige Mitteilung gibt den Verfahrensbeteiligten lediglich Anlass, beizeiten zu erwägen, ob (weitere) förmliche Beweisanträge (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG) oder ein Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes (§ 109 Abs 1 SGG) gestellt werden sollen. Einen solchen Antrag hatte die Klägerin nach ihrem Vorbringen mit dem Antrag auf Anhörung des Sachverständigen H bereits erfolgreich gestellt. Die Mitteilung, weitere Ermittlungen von Amts wegen seien nicht beabsichtigt, erlaubt den Beteiligten hingegen keine Rückschlüsse auf die vom Spruchkörper beabsichtigte Beweiswürdigung, zumal diese wie erwähnt regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung erfolgt. Auch aus dem zweimaligen Hinweis des LSG, keine (weitere) ergänzende Stellungnahme beim Sachverständigen S einholen zu wollen, konnte die Klägerin nicht schließen, welche der divergierenden Sachverständigeneinschätzungen zum Eintritt des Leistungsfalls das LSG für überzeugender halten werde. Mit diesen Hinweisen hat das LSG lediglich bekräftigt, dass es die Sachverhaltsermittlungen als abgeschlossen betrachte.
Soweit die Klägerin offensichtlich nicht mit der Auswertung und Würdigung der vorliegenden Sachverständigengutachten durch das LSG einverstanden ist, wendet sie sich gegen dessen Beweiswürdigung. Eine Verfahrensrüge kann jedoch nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG).
b) Die Klägerin hat ebenso wenig die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache in der gebotenen Weise dargelegt. Wird mit der Nichtzulassungsbeschwerde eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG geltend gemacht, muss der Beschwerdeführer in der Beschwerdebegründung ausführen, welche Rechtsfrage sich ernsthaft stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten ist (Klärungsfähigkeit). In der Beschwerdebegründung ist deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und der Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (stRspr; vgl zuletzt etwa BSG Beschluss vom 22.9.2020 - B 13 R 229/19 B - juris RdNr 3 mwN; vgl auch BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 18.12.1991 - 1 BvR 1411/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 7 RdNr 8; ferner Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 14 ff mwN). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung vom 2.9.2019 nicht gerecht.
Die Klägerin formuliert folgende Rechtsfrage:
"Ist der Spruchkörper eines Sozialgerichtes nach Vorliegen zweier sich widersprechender Sachverständigengutachten verpflichtet, rechtzeitig einen Hinweis zu erteilen, ob es dem einen oder anderen Gutachten folgt oder es für bedenklich erachtet, damit die klagende Partei noch die Möglichkeit hat, einen Antrag auf Anhörung des Sachverständigen zu stellen?"
Sie versäumt es im Rahmen der hierauf bezogenen Ausführungen jedenfalls, die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Frage in der gebotenen Weise darzulegen. Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist. Als bereits höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht bzw das BVerfG diese zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, jedoch schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (vgl BSG Beschluss vom 21.1.1993 - 13 BJ 207/92 - SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17; BSG Beschluss vom 8.2.2017 - B 13 R 294/16 B - juris RdNr 4). Im Hinblick hierauf muss in der Beschwerdebegründung unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG zu dem Problemkreis substantiiert vorgetragen werden, dass zu dem angesprochenen Fragenbereich noch keine Entscheidung vorliege oder durch die schon vorliegenden Urteile die hier maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet sei (Krasney/Udsching/Groth, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, Kap IX RdNr 183 mwN). Hieran fehlt es vorliegend.
Das BSG hat etwa in den erwähnten Entscheidungen vom 17.4.2013 (B 9 SB 3/12 R) und 24.1.2018 (B 13 R 377/15 B) eine Verpflichtung des Gerichts, die Beteiligten auf die beabsichtigte Tatsachen- und Beweiswürdigung hinzuweisen, verneint. Vor diesem Hintergrund hätte es der Klägerin oblegen, näher darzulegen, dass und warum nach ihrem Dafürhalten die vorliegenden höchstrichterlichen Entscheidungen die aufgeworfene Rechtsfrage nicht beantworten oder diese erneut klärungsbedürftig geworden sei (zur Darlegung der erneuten Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage BSG Beschluss vom 25.9.1975 - 12 BJ 94/75 - SozR 1500 § 160a Nr 13, juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 2.8.2018 - B 10 ÜG 7/18 B - juris RdNr 8 mwN). Dem wird die Klägerin nicht gerecht, indem sie insoweit lediglich vorbringt, es sei nicht ersichtlich, dass das BSG zu der aufgeworfenen Rechtsfrage schon eine Entscheidung getroffen habe. Die Entscheidung des BSG vom 12.10.2018 (B 2 U 12/18 BH) zieht sie nicht zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage heran, sondern zur Bekräftigung ihres Vorbringens, dass ein Fragerecht gegenüber einem Sachverständigen nur in Bezug auf ein im selben Rechtszug eingeholtes Gutachten bestehe.
2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14366175 |