Entscheidungsstichwort (Thema)
Allgemeine Handlungsfreiheit - keine Verletzung durch Versicherungs- und Beitragspflicht in der Sozialversicherung
Orientierungssatz
Die durch Art 2 Abs 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit wird durch die mit der RVO bzw dem SGB 5 und dem SGB 6 angeordnete Versicherungs- und Beitragspflicht zur Kranken- und Rentenversicherung sowie die mit den Vorschriften des AFG angeordnete Beitragspflicht abhängig Beschäftigter nicht verletzt.
Normenkette
AFG § 168 Abs. 1 S. 1; GG Art. 2 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; RVO § 165 Abs. 1 Fassung: 1945-03-17; SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 1 Fassung 1988-12-20; RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; SGB VI § 1 Abs. 1 Nr. 1 Fassung 1989-12-18
Verfahrensgang
Gründe
Umstritten ist die Rechtmäßigkeit eines Beitragsbescheides über Gesamtsozialversicherungsbeiträge, den die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse gegen die Klägerin erlassen hat. Die Beklagte hat Transportdienste, die der Beigeladene zu 1) für die Klägerin erbracht hat, als versicherungs- bzw beitragspflichtige Beschäftigung in der Kranken- und Rentenversicherung bzw Arbeitslosenversicherung angesehen. Die Klägerin hat demgegenüber die Ansicht vertreten, der Beigeladene zu 1) sei selbständig erwerbstätig gewesen. Die Vorinstanzen haben die Klage als unbegründet abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat seine Entscheidung im wesentlichen damit begründet, daß die für die Klägerin geleisteten Dienste des Beigeladenen zu 1) Merkmale sowohl der Selbständigkeit als auch der Abhängigkeit aufwiesen, daß aber bei der erforderlichen Gesamtwürdigung die Gesichtspunkte überwögen, die für eine abhängige und damit versicherungs- und beitragspflichtige Beschäftigung sprechen.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung und das Urteil des LSG leide an einem Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 3 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Soweit die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend macht, ist ihre Beschwerde jedenfalls unbegründet. Die von ihr aufgeworfenen Rechtsfragen haben keine grundsätzliche Bedeutung. Die Klägerin stellt die Frage: "Ist für die Beurteilung, ob eine Gesamtversicherungspflicht vorliegt, maßgebend, daß die nach § 432 HGB organisatorisch dem Unternehmen der Klägerin angeschlossenen Unterfrachtführer ausschließlich für einen Auftraggeber (hier die Klägerin) tätig werden?" (Seite 1 der Beschwerdebegründung). Diese Rechtsfrage hat keine grundsätzliche Bedeutung. Das LSG hat die ausschließliche Tätigkeit des Beigeladenen zu 1) für die Klägerin im Rahmen von dessen vertraglicher Bindung an die Klägerin als ein Merkmal angesehen, das für abhängige Beschäftigung des Beigeladenen zu 1) spricht. Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden, widerspricht nicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Die Bewertung der Ausschließlichkeitsbindung eines Transportunternehmers an einen Vertragspartner gewinnt auch nicht dadurch grundsätzliche Bedeutung, daß nach dem Vortrag der Klägerin die überwiegende Anzahl von mehr als 11.000 Unternehmen im Güternahverkehr nur an einen Vertragspartner gebunden sein soll. Auch dann, wenn in diesen Fällen nach den tatsächlichen Verhältnissen und der konkreten Vertragsgestaltung jeweils insgesamt eine selbständige Tätigkeit anzunehmen sein sollte, wird dadurch nicht ausgeschlossen, in der vertraglichen Alleinbindung an einen Unternehmer ein Merkmal zu sehen, das als solches für eine abhängige Beschäftigung spricht.
Soweit die Klägerin Grundrechtsverletzungen geltend macht, sind grundsätzliche Rechtsfragen nicht zu entscheiden. Die durch Art 2 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) geschützte allgemeine Handlungsfreiheit wird durch die mit der Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw dem Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) und dem Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) angeordnete Versicherungs- und Beitragspflicht zur Kranken- und Rentenversicherung sowie die mit den Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) angeordnete Beitragspflicht abhängig Beschäftigter nicht verletzt. Der Klägerin ist es nicht verwehrt, als Unternehmerin tätig zu werden. Wenn sie ihre Zusammenarbeit mit Dritten wie dem Beigeladenen zu 1) allerdings so gestaltet, daß diese nach dem Gesamtbild in einer abhängigen Beschäftigung zur Klägerin stehen, so ist die Klägerin im sozialversicherungsrechtlichen Sinne Arbeitgeberin. Sie trägt selbst vor, daß sie mit allen ihr angeschlossenen Frachtführern in einer Risikogemeinschaft stehe und der wirtschaftliche Erfolg für alle Beteiligten davon abhänge, inwieweit es ihnen gelinge, durch gemeinsame Bemühungen den Markt zu erobern. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist es wiederum so, daß bei der Ausgestaltung dieser Risikogemeinschaft im Verhältnis zwischen Klägerin und dem Beigeladenen zu 1) die Merkmale der abhängigen Beschäftigung des Beigeladenen zu 1) überwiegen, so daß eine versicherungs- und beitragspflichtige Beschäftigung vorliegt. Unter diesen Umständen ist die Frage, ob Art 2 Abs 1 GG verletzt ist, nicht in einem Revisionsverfahren klärungsbedürftig, sondern zu verneinen. Die durch Art 2 Abs 1 GG geschützte Vertragsfreiheit des Arbeitnehmers ist dadurch zulässig eingeschränkt, daß dieser dann, wenn er abhängig beschäftigt ist, der Versicherungs- bzw Beitragspflicht unterliegt. Auch dies ist in einem Revisionsverfahren nicht klärungsbedürftig.
Der vom LSG festgestellte Sachverhalt bietet auch keinen Anlaß, grundsätzliche Rechtsfragen ihm Rahmen von Art 3 GG zu entscheiden. Dies gilt auch hinsichtlich der von der Klägerin dazu ergänzend gemachten Angaben. Die Klägerin beruft sich darauf, daß andere Gerichte gleiche oder ähnliche Sachverhalte rechtlich anders beurteilt hätten. Die Möglichkeit unterschiedlicher Entscheidungen zu vergleichbaren Sachverhalten ist eine notwendige Folge davon, daß Gerichte über Rechtsstreitigkeiten zwischen Beteiligten entscheiden und die Rechtskraftwirkung der jeweiligen Gerichtsentscheidungen nur zwischen den Beteiligten eintritt. Darin allein kann keine Verletzung von Art 3 GG gesehen werden. Auch in einem Revisionsverfahren könnte nur entschieden werden, ob das LSG aufgrund der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen eine rechtlich nicht zu beanstandende Entscheidung getroffen hat. Das Argument, andere Gerichte hätten bei einem vergleichbaren Sachverhalt die abhängige Beschäftigung verneint, wäre keine hinreichende Begründung dafür, daß das Revisionsgericht die Entscheidung des LSG im konkreten Fall aufheben könnte. Zu entscheiden ist in einem Revisionsverfahren nicht, ob andere Gerichte richtig entschieden haben, sondern ob das LSG zutreffend entschieden hat. Auch dies ist im Rahmen von Art 3 GG nicht zweifelhaft. Soweit die Klägerin geltend macht, andere Unternehmen arbeiteten mit ähnlichen oder gleichartigen Verträgen und deren Unterfrachtführer würden als selbständig angesehen, stellt sich im Rahmen von Art 3 GG ebenfalls keine grundsätzliche Rechtsfrage. Gegenstand des Rechtsstreits zwischen der Klägerin und der Beklagten ist, ob die für die Klägerin tätigen Unterfrachtführer bei ihr abhängig beschäftigt sind oder nicht. Wenn bei anderen Unternehmen aufgrund der dort gegebenen Verhältnisse, möglicherweise zu Unrecht, eine abhängige Beschäftigung vergleichbar Tätiger verneint wird, kann die Klägerin nicht verlangen, ebenso behandelt zu werden. Eine Gleichbehandlung im Unrecht gebietet der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 GG nicht. Dies muß insbesondere dann gelten, wenn eine Gleichbehandlung im Unrecht zum Nachteil der schutzbedürftigen abhängigen Beschäftigten gefordert wird. Auch dies ist nicht zweifelhaft und bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Hinsichtlich der von der Klägerin geltend gemachten Verletzung des Grundrechts der Berufsfreiheit (Art 12 GG) gilt das zu Art 2 GG Gesagte. Die unternehmerische Freiheit zur Berufsausübung wird durch die Anordnung der Versicherungspflicht von abhängig Beschäftigten zulässigerweise eingeschränkt. Eine Rechtsfrage stellt sich insoweit im vorliegenden Fall nicht. Eine Rechtsfrage zum Eigentumsschutz (Art 14 GG) stellt sich ebenfalls nicht. Insbesondere ist es unzutreffend, wenn die Klägerin sich in diesem Zusammenhang auf einen Vertrauensschutz hinsichtlich der Beitragsfreiheit berufen will, weil durch frühere Entscheidungen anderer Gerichte Unterfrachtführer wie der Beigeladene zu 1) als selbständige Unternehmer anerkannt worden seien. Ein Handeln der Beklagten, auf das die Klägerin in dem Sinne vertrauen konnte, daß der Beigeladene zu 1) nicht abhängig beschäftigt sei, liegt nicht vor. Die Möglichkeit, die Frage der Beitragspflicht der für die Klägerin tätigen Unterfrachtführer zu prüfen, bestand für die Beklagte erst, nachdem die Klägerin in Berlin mit einer eigenen Gesellschaft tätig geworden war. Die Beklagte hat diese Frage dann geprüft, nachdem sie Hinweise darauf erhalten hatte, daß die beigeladenen Unterfrachtführer versicherungs- und beitragspflichtig beschäftigt sein könnten. Entscheidungen anderer Gerichte gegenüber anderen Gesellschaften braucht sich die Beklagte nicht zurechnen zu lassen, und solche Entscheidungen konnten einen Vertrauenstatbestand zugunsten der Klägerin nicht schaffen. Die Höhe der Beitragsforderung ergibt sich daraus, daß die Klägerin eine Vielzahl von Beschäftigten angestellt hat. Die Klägerin will letztlich, daß Beitragsforderungen grundsätzlich nur noch für die Zukunft erhoben werden dürfen, wenn der Arbeitgeber seiner Ansicht nach hinreichenden Anlaß hat, von der Selbständigkeit der bei ihm Beschäftigten auszugehen. Nach der Gesetzeslage liegt aber das Risiko der Fehlbeurteilung der Versicherungspflicht einer Tätigkeit bzw Beschäftigung im Rahmen der Verjährungsregelungen auch bei dem Unternehmer. Daß diese Regelung mit Art 14 GG vereinbar ist, wird nicht ernsthaft bezweifelt und bedarf ebenfalls keiner Klärung in einem Revisionsverfahren.
Die Beschwerde ist unbegründet, soweit die Klägerin unter 2) und 3) auf den Seiten 16 und 18 der Beschwerdebegründung weitere Rechtsfragen als grundsätzlich bezeichnet. Die Frage: "Sind organisatorische Regelungen der vertraglichen Zusammenarbeit (insbesondere hinsichtlich Abrechnungswesen, Auftragszuteilung und Auftragsabwicklung) geeignet, eine Eingliederung eines bei der Klägerin tätigen Kraftfahrers anzunehmen, trotz eigenem Unternehmerrisikos (Kapitaleinsatz) und einem fehlenden umfassenden Weisungsrecht hinsichtlich Zeit, Dauer und Ort der Ausführung der Leistung, mit der Folge der Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses?" hat keine grundsätzliche Bedeutung, denn ihre Beantwortung ist nicht zweifelhaft. Es kann sein, daß organisatorische Regelungen der vertraglichen Zusammenarbeit geeignet sind, eine Eingliederung eines bei der Klägerin tätigen Kraftfahrers in deren Unternehmen anzunehmen, auch wenn dieser Kraftfahrer ein gewisses eigenes Unternehmerrisiko trägt und ein umfassendes Weisungsrecht hinsichtlich Zeit, Dauer und Ort der Ausführung der Leistung fehlt. Für die Entscheidung, ob eine Eingliederung vorliegt, ist eine Beurteilung aller tatsächlichen Umstände notwendig, wie sie das LSG vorgenommen hat. Auch die Frage: "Spricht die Tatsache einer vertraglichen begründeten Dienstleistung, welche den Verpflichteten ganz oder überwiegend aufgrund der Marktverhältnisse in Anspruch nimmt, für die Annahme einer abhängigen Beschäftigung, obwohl er bezüglich der täglichen Arbeitszeit und der Einteilung des Arbeitsablaufes keinen Weisungen unterliegt?" ist nicht zweifelhaft. Die Tatsache einer vertraglich begründeten Dienstleistung, welche den Verpflichteten ganz oder überwiegend aufgrund der Marktverhältnisse in Anspruch nimmt, kann für die Annahme einer abhängigen Beschäftigung sprechen. Dies gilt ohne Zweifel auch dann, wenn der Verpflichtete bezüglich der täglichen Arbeitszeit und der Einteilung des Arbeitsablaufes keinen Weisungen unterliegen sollte. Auch hier ergibt sich erst und nur aus der Beurteilung der gesamten Umstände, ob ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis vorliegt oder nicht. Im konkreten Fall hat das LSG hierbei zB auch festgestellt, daß aufgrund der tatsächlichen Geschehensabläufe eine starke Bindung der Beschäftigten und damit auch des Beigeladenen zu 1) in der Ausführung der Arbeit gegeben sei. Dies hat das LSG im einzelnen nachvollziehbar dargelegt.
Unzulässig ist die Beschwerde, soweit die Klägerin geltend macht, daß die Entscheidung des LSG von den Grundsatzentscheidungen des BSG abweiche (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Es ist weder ein Rechtssatz des LSG noch ein diesem widersprechender Rechtssatz des BSG in der Beschwerdebegründung auf Seite 19 bezeichnet, wie dies nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG erforderlich wäre.
Unzulässig ist die Beschwerde auch hinsichtlich des von der Klägerin gerügten Verfahrensmangels, denn dieser ist in der Beschwerdebegründung nicht ausreichend bezeichnet iS von § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Bezeichnet iS dieser Vorschrift ist der Verfahrensmangel nur, wenn in der Beschwerdebegründung die Tatsachen angegeben sind, die den Verfahrensmangel ergeben. Die Klägerin rügt, daß der Beigeladene zu 1) im Termin hätte gehört werden müssen. In der Sache kann das allenfalls die Rüge einer Verletzung des § 103 SGG sein. Auf die Verletzung dieser Vorschrift kann die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nur gestützt werden, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Einen Beweisantrag, den das LSG übergangen haben könnte, hat die Klägerin in ihrer Nichtzulassungsbeschwerde nicht angegeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 60272 |
RegNr, 21851 (BSG-Intern) |
BAGUV, RdSchr 15/97 (T) |
Die Beiträge 1995, 296-300 (OT1) |
HVBG-INFO 1995, 2508-2511 (OT1) |