Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Grundsatzrüge. fortbestehende Klärungsbedürftigkeit. Berücksichtigung neuer Rechtsprechung. nachträgliche Divergenz. Begründung der Divergenz mit einem vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist verkündeten, aber noch nicht abgesetzten Urteil

 

Orientierungssatz

1. Zur Darlegung der (fortbestehenden) Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage ist auf eine einschlägige neue Rechtsprechung nur einzugehen, wenn dem Beschwerdeführer eine Kenntnisnahme und Verwertung bis zum Ablauf der Begründungsfrist möglich war.

2. Zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist eine Divergenzrüge zulässig, wenn das Revisionsgericht zeitlich nach der mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit einen Rechtssatz aufstellt, der von einem Rechtssatz der angegriffenen Entscheidung abweicht, und eine Divergenz erst nachträglich, aber noch innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist eintritt (vgl BSG vom 8.9.2015 - B 1 KR 34/15 B = SozR 4-1500 § 160 Nr 28 RdNr 4 ff sowie vom 29.11.1989 - 7 BAr 130/88 = SozR 1500 § 160a Nr 67 S 90).

3. Ist das die Abweichung begründende Urteil vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist verkündet, aber noch nicht abgesetzt worden, gelten in Bezug auf den die Abweichung begründenden höchstrichterlichen Rechtssatz geringere Darlegungsanforderungen. Es genügt, wenn die höchstrichterliche Entscheidung genannt wird, von der das angegriffene Urteil angeblich abweicht, und Ausführungen dazu gemacht werden, dass unter Zugrundelegung der bekanntgewordenen Maßstäbe in der höchstrichterlichen Entscheidung das angefochtene Urteil nicht zutreffen dürfte (vgl BSG vom 29.11.1989 - 7 BAr 130/88 aaO).

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nrn. 1-2, § 160a Abs. 2 S. 3

 

Verfahrensgang

LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 24.02.2022; Aktenzeichen L 17 R 534/19)

SG Berlin (Urteil vom 07.06.2019; Aktenzeichen S 97 R 2219/18)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 24. Februar 2022 wird als unzulässig verworfen.

Die Klägerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 89 792 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Klägerin verlangt vom beklagten Land die Erstattung von Rentenzahlungen, die auf einem Versorgungsausgleich beruhen.

Die Ehe der bei der Klägerin versicherten F (im Folgenden: Versicherte) wurde im Oktober 1992 geschieden. Zur Durchführung des Versorgungsausgleichs wurden ihrem Rentenkonto 26,6462 Entgeltpunkte zu Lasten der beamtenrechtlichen Versorgungsansprüche des geschiedenen Ehemannes gegen den Beklagten gutgeschrieben. Die Klägerin gewährte der Versicherten für Oktober 1992 bis zu deren Tod im Dezember 2013 Altersrente. Im Oktober 2016 forderte sie von dem Beklagten Erstattung des auf dem Versorgungsausgleich beruhenden Anteils der für Januar 2001 bis Dezember 2013 gewährten Rente. Der Beklagte leistete Erstattung für Januar 2011 bis Dezember 2013. Hinsichtlich der zudem geforderten Erstattung für Januar 2001 bis Dezember 2010 (89 792,09 Euro) berief er sich auf Verjährung.

Die Klägerin hat am 18.6.2018 Klage vor dem SG Berlin erhoben, das den Beklagten im begehrten Umfang zur Zahlung verurteilt hat (Urteil vom 7.6.2019). Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG mit Urteil vom 24.2.2022 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der behauptete Erstattungsanspruch sei nach § 2 Abs 4 Satz 1 der Versorgungsausgleichs-Erstattungsverordnung (VAErstV) in der seit dem 1.7.2020 geltenden Fassung verjährt. Die geänderte Verjährungsregelung sei auch anwendbar auf Erstattungsansprüche, die nach § 2 Abs 4 Satz 1 VAErstV in der bis zum 30.6.2020 geltenden Fassung (im Folgenden: VAErstV aF) möglicherweise noch nicht verjährt gewesen seien.

Die Klägerin hat gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung Beschwerde zum BSG eingelegt, die sie mit Schriftsatz vom 29.6.2022 begründet hat. Die Beschwerdebegründungsfrist war zuvor bis zum 30.6.2022 verlängert worden. Die Klägerin hat sich zudem mit Schriftsatz vom 4.10.2022 geäußert.

II. 1. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG zu verwerfen. Sie wird nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form begründet.

a) Die Klägerin macht ausdrücklich nur eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde mit diesem Zulassungsgrund (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) begründet, muss in der Beschwerdebegründung dargetan werden, dass die Rechtssache eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss zur ordnungsgemäßen Darlegung dieses Revisionszulassungsgrundes daher eine Rechtsfrage benennen und zudem deren (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 4 mwN). Hinsichtlich der Klärungsbedürftigkeit ist unter Auswertung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu dem Problemkreis substantiiert vorzubringen, dass zu diesem Fragenbereich noch keine Entscheidung getroffen wurde oder durch die schon vorliegenden Urteile und Beschlüsse die nunmehr maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet worden ist (vgl zB BSG Beschluss vom 6.4.2021 - B 5 RE 16/20 B - juris RdNr 6 mwN). Gemessen hieran legt die Klägerin die Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage nicht ausreichend dar.

Der Beschwerdebegründung lässt sich die Rechtsfrage entnehmen:

"Kann ein Erstattungsanspruch nach § 225 Abs. 1 SGB VI, der zum Zeitpunkt des Eingangs der erstmaligen Erstattungsforderung beim zuständigen Träger der Versorgungslast und im Zeitpunkt der Klageerhebung zur Durchsetzung des Anspruchs noch nicht verjährt war, nachträglich verjähren, wenn während des sozialgerichtlichen Verfahrens eine Rechtsänderung eingetreten ist und die Verjährung durch die Klageerhebung gehemmt war?"

Die Frage zielt offensichtlich auf eine Klärung des zeitlichen Anwendungsbereichs des § 2 Abs 4 Satz 1 VAErstV in der seit dem 1.7.2020 geltenden Fassung. Die Klägerin befasst sich im Zusammenhang mit allgemeinen Erwägungen zum zeitlichen Anwendungsbereich von Gesetzen mit den Entscheidungen des BSG vom 29.9.2009 (B 8 SO 16/08 R - BSGE 104, 213 = SozR 4-1300 § 44 Nr 20), vom 26.6.2001 (B 2 U 28/00 R - SozR 3-2700 § 44 Nr 1) und vom 13.3.1997 (11 RAr 51/96 - SozR 3-4100 § 152 Nr 7). Sie zeigt indes nicht auf, inwiefern nach dem Urteil des BSG vom 7.4.2022 (B 5 R 35/21 R - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen) Klärungsbedarf speziell zum zeitlichen Anwendungsbereich des § 2 Abs 4 Satz 1 VAErstV verblieben sein könnte. Der Senat hatte dort ebenfalls über die Verjährung eines Erstattungsanspruchs des Beklagten gegen einen Träger der Beamtenversorgung zu befinden und die anwendbaren Verjährungsregelungen zu bestimmen. Er hat entschieden, der dortige Erstattungsanspruch für die Jahre 2004 bis 2012 sei bei Klageerhebung im Jahr 2018 gemäß § 2 Abs 4 Satz 1 VAErstV aF noch nicht verjährt gewesen. Nach den Grundsätzen des intertemporalen Rechts sei die Altfassung der Vorschrift auch auf den dort zu beurteilenden Sachverhalt anwendbar, trotz der während des dortigen Berufungsverfahrens bewirkten Gesetzesänderung (vgl BSG Urteil vom 7.4.2022 - B 5 R 35/21 R - juris RdNr 21, auch zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die Klägerin geht nicht darauf ein, ob sich mit diesen Erwägungen nicht zugleich die von ihr aufgeworfene Frage zum zeitlichen Anwendungsbereich des § 2 Abs 4 Satz 1 VAErstV beantworten lasse. Sie nennt die BSG-Entscheidung vom 7.4.2022 lediglich im Zusammenhang mit der Darstellung des Regelungsinhalts der Altfassung der Vorschrift, indem sie ausführt, das BSG habe bestätigt, dass nach § 2 Abs 4 Satz 1 VAErstV aF der Verjährungsbeginn letztlich davon abhänge, wann der Erstattungsanspruch geltend gemacht werde.

Der Klägerin wäre ein Eingehen auf die Entscheidung des Senats vom 7.4.2022 auch möglich gewesen, obgleich diese bei Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist noch nicht mit schriftlichen Entscheidungsgründen veröffentlicht gewesen ist. Zur Darlegung der (fortbestehenden) Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage ist auf eine einschlägige neue Rechtsprechung nur einzugehen, wenn dem Beschwerdeführer eine Kenntnisnahme und Verwertung bis zum Ablauf der Begründungsfrist möglich war (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 14g). Das ist hier schon deswegen zu bejahen, weil ein Vertreter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung des Senats vom 7.4.2022 zugegen gewesen ist (vgl zu diesem Aspekt, wenn auch bezogen auf eine Divergenzrüge, BSG Beschluss vom 29.11.1989 - 7 BAr 130/88 - SozR 1500 § 160a Nr 67 S 90). Zudem lässt sich dem vor Fristablauf veröffentlichten Terminbericht vom 7.4.2022 entnehmen, dass der Senat, wie die Klägerin im Schriftsatz vom 4.10.2022 selbst referiert, im dort zu entscheidenden Erstattungsfall die Verjährung nach § 2 Abs 4 Satz 1 VAErstV aF beurteilt und befunden hat, dass es sich bei § 2 Abs 4 Satz 1 VAErstV in der seit dem 1.7.2020 geltenden Fassung um eine Neuregelung handelt, die auf den dort entschiedenen Fall keine Anwendung findet. Bereits dies legt nahe, dass der Senat die aufgeworfene Rechtsfrage in dem Sinne geklärt hat, dass § 2 Abs 4 Satz 1 VAErstV keine Anwendung auf Altfälle findet. Vor diesem Hintergrund hätte es zumindest einer knappen Darlegung bedurft, inwiefern jedenfalls ausgehend von den Ausführungen im Terminbericht weiterhin Klärungsbedarf zum zeitlichen Anwendungsbereich der neuen Verjährungsregelung bestehen könnte. Derartiges Vorbringen fehlt.

b) Zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist eine Divergenzrüge zulässig, wenn das Revisionsgericht - wie hier - zeitlich nach der mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit einen Rechtssatz aufstellt, der von einem Rechtssatz der angegriffenen Entscheidung abweicht, und eine Divergenz erst nachträglich, aber noch innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist eintritt (vgl BSG Beschluss vom 8.9.2015 - B 1 KR 34/15 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 28 RdNr 4 ff und bereits BSG Beschluss vom 29.11.1989 - 7 BAr 130/88 - SozR 1500 § 160a Nr 67 S 90). Hierin liegt keine Umdeutung einer Grundsatzrüge in eine Divergenzrüge, die lediglich in den Fällen in Betracht kommt, in denen die Divergenz nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist eintritt (vgl hierzu zB BSG Beschluss vom 1.7.2021 - B 1 KR 49/20 B - juris RdNr 6 mwN; vgl auch BVerfG Zweiter Senat 1. Kammer Beschluss vom 21.1.2000 - 2 BvR 2125/97 - juris RdNr 34). Die nachträgliche Divergenz des angegriffenen Berufungsurteils ist vielmehr vom Beschwerdeführer - zumindest sinngemäß - geltend zu machen und entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG zu begründen (vgl BSG Beschluss vom 8.9.2015 - B 1 KR 34/15 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 28 RdNr 8; vgl auch BSG Beschluss vom 25.2.2021 - B 4 AS 362/20 B - juris RdNr 5). Ist wie hier das die Abweichung begründende Urteil vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist verkündet, aber noch nicht abgesetzt worden, gelten in Bezug auf den die Abweichung begründenden höchstrichterlichen Rechtssatz geringere Darlegungsanforderungen. Es genügt, wenn die höchstrichterliche Entscheidung genannt wird, von der das angegriffene Urteil angeblich abweicht, und Ausführungen dazu gemacht werden, dass unter Zugrundelegung der bekanntgewordenen Maßstäbe in der höchstrichterlichen Entscheidung das angefochtene Urteil nicht zutreffen dürfte (vgl BSG Beschluss vom 29.11.1989 - 7 BAr 130/88 - SozR 1500 § 160a Nr 67 S 90). Eine solche Divergenzrüge hat die Klägerin innerhalb der Begründungsfrist auch nicht sinngemäß erhoben.

Dem Schriftsatz vom 29.6.2022 lässt sich kein Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass die Klägerin eine Abweichung der angegriffenen Berufungsentscheidung vom - nachträglich - ergangenen Urteil des BSG vom 7.4.2022 geltend macht. Es wird auch nicht vorgebracht, das Urteil des LSG könnte in Anbetracht der Entscheidung des BSG vom 7.4.2022 inhaltlich unrichtig sein. Die Klägerin führt vielmehr aus, die aufgeworfene Rechtsfrage bedürfe der Klärung, weil sie bislang weder höchstrichterlich geklärt sei noch höchstrichterliche Entscheidungen zur Auslegung vergleichbarer Regelungen vorliegen würden. Der Schriftsatz vom 4.10.2022, in dem die Klägerin erstmals zu einer Abweichung vorträgt, ist erst nach Ablauf der Begründungsfrist beim BSG eingegangen.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO und berücksichtigt die Erfolglosigkeit der Beschwerde. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 47 Abs 1 Satz 1 und Abs 3, § 52 Abs 3 Satz 1 GKG.

Düring Hahn Hannes

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15503309

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