Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Klärungsfähigkeit einer Rechtsfrage aus dem Bereich der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen nach dem SGB 9 2018. zulässiger Streitgegenstand. Ablehnung eines Anspruchs auf Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem SGB 12 durch den ursprünglichen Verwaltungsakt
Orientierungssatz
1. Leistungen der ab dem 1.1.2020 geltenden Eingliederungshilfe nach dem SGB 9 2018 sind nicht zulässiger Streitgegenstand eines Rechtsstreits, wenn sich der Regelungsgegenstand des angegriffenen Verwaltungsakts auf Eingliederungshilfe als Leistung der Sozialhilfe nach dem bis 31.12.2019 geltenden Recht beschränkt.
2. Wie der Senat zwischenzeitlich in seiner Rechtsprechung geklärt hat (vgl BSG vom 28.1.2021 - B 8 SO 9/19 R = BSGE 131, 246 = SozR 4-3500 § 57 Nr 1 RdNr 19), handelt es sich bei der antragsabhängigen Eingliederungshilfe nach dem SGB 9 2018 nicht mehr um materielle Sozialhilfe im Sinne einer existenzsichernden Leistung, sondern um ein gänzlich neues Leistungserbringungsrecht.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 95; SGB IX § 90; SGB 9 2018 § 90; SGB IX §§ 90 ff.; SGB 9 2018 §§ 90 ff.; SGB XII §§ 53, § 53 ff.
Verfahrensgang
SG Freiburg i. Br. (Gerichtsbescheid vom 13.11.2018; Aktenzeichen S 6 SO 108/18) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 16.01.2020; Aktenzeichen L 7 SO 4472/18) |
SG Freiburg i. Br. (Gerichtsbescheid vom 13.11.2018; Aktenzeichen S 6 SO 108/18) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 16.01.2020; Aktenzeichen L 7 SO 4472/18) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Januar 2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Im Streit sind Leistungen der Eingliederungshilfe für den Erwerb und die Unterhaltung eines Kraftfahrzeugs. Der hierauf gerichtete Antrag des Klägers blieb bei der Beklagten und den Vorinstanzen erfolglos (Bescheid vom 6.9.2017; Widerspruchsbescheid vom 1.12.2017; Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ≪SG≫ Freiburg vom 13.11.2018; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Baden-Württemberg vom 16.1.2020). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, dass für den geltend gemachten Anspruch das neue Eingliederungshilferecht maßgeblich sei, das seit 1.1.2020 im Zweiten Teil des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung - (SGB IX) geregelt sei. Danach stehe dem Kläger die begehrte Leistung nicht zu, weil er nicht ständig auf ein Kraftfahrzeug angewiesen sei. Es seien voraussichtlich wöchentlich nur zwei bis drei Fahrten im Stadtgebiet der Beklagten zu berücksichtigen. Einkaufsfahrten seien unbeachtlich. Den danach bestehenden Bedarf könne der Kläger durch Nutzung von Behindertenfahrdiensten bzw Taxifahrten decken. Dass zwischen Taxiunternehmen und der Beklagten keine Vereinbarung nach § 95 Satz 2 SGB IX bestehe, sei unerheblich.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Grundsätzlich bedeutsam sei die Frage, ob ein ständiges Angewiesensein iS von § 114 Nr 1 SGB IX voraussetze, dass der Leistungsberechtigte das Kraftfahrzeug nahezu täglich benötige, oder ob es genüge, wenn er dauerhaft auf ein Kraftfahrzeug angewiesen sei, um mobil zu bleiben, es aber nur mehrmals wöchentlich nutze. Daneben stelle sich die Frage, ob Fahrten, die allein der Versorgung mit Verpflegung und der Erfüllung von Grundbedürfnissen dienten, keinen teilhabeberechtigenden Bedarf begründeten und deshalb bei der Beurteilung des Angewiesenseins außer Betracht zu lassen seien. Ferner sei zu klären, ob der Leistungsberechtigte auch dann gegen seine Wünsche auf eine kostengünstigere Leistung verwiesen werden könne, wenn für diese keine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung nach dem Achten Kapitel des Zweiten Teils des SGB IX abgeschlossen worden sei.
II. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist.
Die vom Kläger aufgeworfenen Rechtsfragen sind nicht klärungsfähig, weil sie vorliegend im Revisionsverfahren nicht zur Entscheidung anstünden. Die Fragen betreffen ausschließlich die ab 1.1.2020 geltende Eingliederungshilfe nach dem SGB IX. Leistungen der Eingliederungshilfe nach neuem Recht sind aber - entgegen der Rechtsauffassung des LSG - nicht zulässiger Streitgegenstand des Rechtsstreits, weil der angegriffene Verwaltungsakt keine Regelung über Leistungen nach dem SGB IX enthält, sondern sein Regelungsgegenstand sich auf Eingliederungshilfe als Leistung der Sozialhilfe nach dem bis 31.12.2019 geltenden Recht beschränkt. Wie der Senat zwischenzeitlich in seiner Rechtsprechung geklärt hat (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 28.1.2021 - B 8 SO 9/19 R - RdNr 19, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen), handelt es sich bei der antragsabhängigen Eingliederungshilfe nach neuem Recht nicht mehr um (jetzt im SGB IX verortete) materielle Sozialhilfe im Sinne einer existenzsichernden Leistung, sondern wegen des "Herauslösens der Eingliederungshilfe aus dem System der Sozialhilfe" (BT-Drucks 18/9522 S 282, 320) und der personenzentrierten Neuausrichtung (BT-Drucks 18/9522 S 199 f, 330 f) der "besonderen Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderung" um ein gänzlich neues Leistungserbringungsrecht (BT-Drucks 18/9522 S 330 f). Trotz bestehender Parallelen zu dem bis 31.12.2019 geltenden Recht ist damit eine systematisch andere Leistung im Streit, auch wenn der heutige Eingliederungshilfeträger nach Maßgabe des Landesrechts mit dem früheren Sozialhilfeträger identisch sein mag. Dies bedeutet zugleich, dass der ursprüngliche Verwaltungsakt für die Zeit ab 1.1.2020 keine Wirkung entfaltet und im vorliegenden Rechtsstreit Leistungsansprüche für die Zeit ab dem 1.1.2020 nicht geklärt werden können.
Auch der Zulassungsgrund der Divergenz liegt nicht vor (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Der Zulassungsgrund der Divergenz, bei dem es sich um einen Unterfall grundsätzlicher Bedeutung handelt (BSG vom 27.1.1999 - B 4 RA 131/98 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 = juris RdNr 10), ist gegeben, wenn das angegriffene Urteil von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Zwar weicht die Entscheidung des LSG - auch wenn dies dem LSG noch nicht bekannt sein konnte - von der zitierten Rechtsprechung des Senats ab. Die Entscheidung beruht allerdings nicht auf der Abweichung. Wäre das LSG der Rechtsprechung des Senats gefolgt, hätte die Klage für den von der Abweichung betroffenen Zeitraum (ab 1.1.2020) ebenfalls keinen Erfolg gehabt. Die Klage ist - wie ausgeführt - für diesen Zeitraum unzulässig.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14800568 |