Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 25.04.1996) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. April 1996 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger war Gesellschafter einer noch nicht ins Handelsregister eingetragenen GmbH (Vor-GmbH). Diese reichte als Arbeitgeberin der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse für November und Dezember 1992 Beitragsnachweise über Gesamtversicherungsbeiträge von insgesamt 5.951,23 DM ein, zahlte jedoch nicht. Nach erfolgloser Mahnung der Vor-GmbH bat die Beklagte mit Schreiben vom 26. Februar 1993 den Kläger um die Beantwortung verschiedener Fragen zur Vor-GmbH und wies ihn darauf hin, daß er als Gesellschafter für die rückständigen Beiträge, Säumniszuschläge und Kosten in Höhe von 6.100,03 DM haftbar sei. Als der Kläger hierauf nicht reagierte, leitete die Beklagte gegen ihn die Zwangsvollstreckung ein. Darauf vereinbarten Kläger und Beklagte am 13. September 1993 telefonisch, daß der Kläger die Beitragsschulden in Raten begleiche. Mit Schreiben vom 15. September 1993 (ohne Rechtsmittelbelehrung) wies die Beklagte den Kläger auf seine Haftung für die Beitragsschulden und auf die vereinbarte Ratenzahlung hin; bei deren Nichteinhaltung werde das Vollstreckungsverfahren wieder aufgenommen. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, nachdem er 3.000 DM auf die Beitragsschuld gezahlt hatte. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juni 1994 als unzulässig zurück. Die telefonisch getroffenen Zahlungsvereinbarungen und das daraus resultierende Schreiben vom 15. September 1993 seien keine Verwaltungsakte; Grundlage für die Vollstreckung seien die Beitragsnachweise.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 8. Juni 1995 abgewiesen. Entgegen der im Widerspruchsbescheid vertretenen Meinung sei das Schreiben vom 15. Februar 1993 ein Verwaltungsakt. Dieser sei auch rechtmäßig; denn der Kläger hafte für die Beitragsschulden der Vor-GmbH als Gesamtschuldner. Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 25. April 1996 zurückgewiesen.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger den Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) und den der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) geltend. Als Verfahrensmangel rügt er eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes ≪GG≫, § 62 und § 128 Abs 2 SGG), weil das LSG im angefochtenen Urteil das Anliegen des Klägers überhaupt nicht zur Kenntnis genommen habe. So sei nicht abgehandelt worden, ob ein belastender Bescheid aufzuheben sei, zu dem die erlassende Stelle mehrfach erklärt habe, sie wolle aus ihm keine rechtlichen Folgen ableiten, betrachte ihn nicht als Verwaltungsakt und halte deshalb Rechtsbehelfe gegen ihn für unzulässig. Eine materiell-rechtliche Haftung des Klägers sei nicht Streitgegenstand. Er habe daher keinen Anlaß gehabt, auf Ausführungen der Beklagten hierzu im vorliegenden Rechtsstreit zu antworten. Vielmehr habe der Kläger sich im Prozeß ausdrücklich dahingehend geäußert, er werde sich gegen die von der Beklagten behaupteten materiellen Haftung gesondert verteidigen, wenn sie später einmal darauf zurückkomme. Für grundsätzlich bedeutsam hält der Kläger die Frage: „Ist ein belastender Bescheid aufzuheben, zu dem die erlassende Stelle mehrfach erklärt hat, sie wolle keine rechtlichen Folgen aus dem Bescheid ableiten, betrachte diesen nicht als Verwaltungsakt und halte deshalb Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht für zulässig?” Hierzu trägt der Kläger vor, Erklärungen der einen Bescheid erlassenden Stelle, dieser sei kein Verwaltungsakt, beinhalteten im Grunde eine konkludente Aufhebung dieses Bescheides. Im Widerspruch zum eigenen Verhalten habe die Beklagte den Bescheid nicht aufgehoben, mutmaßlich um zu einem späteren Zeitpunkt wieder eine Kehrtwendung im eigenen Verhalten machen zu können, um sich widersprüchlich später dann doch wieder auf die Rechtskraft der Bescheidung und der Rechtsfolgenwirkungen berufen zu können.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde führt nicht zur Zulassung der Revision.
Soweit der Kläger vorträgt, das LSG habe sein Anliegen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, hat er den Verfahrensmangel nicht hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sind die Gerichte nach Art 103 Abs 1 GG nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen der Prozeßbeteiligten in den Entscheidungsgründen zu befassen (BVerfGE 50, 32, 35 mwN). Vielmehr verpflichtet das Gebot des rechtlichen Gehörs das Gericht, deren Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es ist erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, daß das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Um solches festzustellen, müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, daß das tatsächliche Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (so BVerfGE 65, 293, 295, 296 mwN = SozR 1100 Art 103 Nr 5). Hierfür sprechende Umstände hat der Kläger nicht ausreichend dargelegt. Das LSG hat im Tatbestand seines Urteils (S 4) das Vorbringen des Klägers in der Berufungsbegründung wie folgt dargestellt: „Ihm (dem Kläger) gegenüber sei der Anschein eines Verwaltungsaktes gesetzt worden. Er habe sich nur durch Widerspruch und Klage zur Wehr setzen können. Da sich die Beklagte darauf berufen habe, es liege gar kein Bescheid vor, habe sie im Grunde den Klageanspruch anerkannt und müsse die ‚Bescheide’ aufheben. Bei dieser Sachlage würde es gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn sie gleichwohl gegenüber dem Kläger vollstrecken würde. Es gehe nicht an, daß das SG der Beklagten erst zu einem Bescheid als Vollstreckungsgrundlage verhelfe. Auf die Frage einer materiellen Haftung komme es erst bei einer neuen Bescheidung durch die Beklagte an.” Hieraus wird deutlich, daß das LSG insbesondere die Ausführungen des Klägers zu der Frage, ob aufgrund der Äußerungen der Beklagten vor allem im Widerspruchsbescheid der angefochtene Bescheid aufzuheben sei, zur Kenntnis genommen hat. In den Entscheidungsgründen seines Urteils (S. 6) hat das LSG die genannte Frage sodann in Erwägung gezogen. Denn dort (S. 6) wird ausgeführt, die ursprüngliche Auffassung der Beklagten, der Widerspruch sei unzulässig, weil das Schreiben vom 15. September 1993 kein Bescheid sei, stehe der Bewertung dieses Schreibens als Verwaltungsakt nicht entgegen; denn die Auffassung der Beklagten sei gerade – wie geschehen – vom Gericht zu überprüfen gewesen.
Soweit der Beschwerdebegründung die Verfahrensrüge zu entnehmen ist, der Kläger sehe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, daß das LSG über die materielle Haftung entschieden habe, obwohl er im Berufungsverfahren hierzu nichts vorgetragen habe, ist die Beschwerde unbegründet. Insbesondere ist dem Kläger nicht das materielle Vorbringen zur Haftungsfrage verwehrt worden. Bereits das SG hatte die Verwaltungsakt-Qualität des angefochtenen Bescheides angenommen und die Haftung bejaht. Die Haftung war damit im Berufungsverfahren „Streitgegenstand”. Der Kläger konnte die Frage der Haftung nicht dadurch ausklammern, daß er dazu nichts vortrug und sich auf die formale Seite beschränkte. Das LSG hat nicht zu erkennen gegeben, daß es zur Frage der materiellen Haftung nicht entscheiden werde. Vielmehr hat es in seinem Prozeßkostenhilfe-Beschluß vom 24. Januar 1996 erwähnt, der angefochtene Bescheid und das Urteil des SG seien auch inhaltlich nicht zu beanstanden. Wenn der Kläger gleichwohl auf seinem formalen Standpunkt beharrte und nichts zur materiellen Seite vortrug, kann er jetzt nicht geltend machen, ihm sei zur materiellen Seite ein Vorbringen verwehrt und damit das rechtliche Gehör versagt worden. Aus den genannten Gründen liegt auch keine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung vor; denn eine solche ist nur gegeben, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht behandelt worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (vgl BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 4 mwN).
Soweit der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend macht, ist die Beschwerde ebenfalls unbegründet. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache dann, wenn sich die aufgeworfene Rechtsfrage nicht auf den Einzelfall beschränkt und die Klärung dazu dienen kann, die Rechtseinheit zu erhalten oder die Fortbildung des Rechts zu fördern (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 7 und 65). Voraussetzung hierfür ist stets, daß eine konkrete Rechtsfrage zur Entscheidung ansteht, die klärungsbedürftig (BSG SozR 1500 § 160a Nr 4) und klärungsfähig ist, dh in dem angestrebten Revisionsverfahren geklärt werden kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 54).
Es bestehen bereits Zweifel daran, ob der Kläger eine eindeutige konkrete Rechtsfrage formuliert hat, weil die von ihm aufgeworfene Frage mehrdeutig ist. Dessen ungeachtet führt die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage nicht zur Zulassung der Revision:
Legt man die Frage so aus, ein Bescheid sei aufzuheben, weil im Verhalten der Beklagten, insbesondere im Widerspruchsbescheid, eine konkludente Rücknahme des Bescheides zu sehen sei, so fehlt es an der über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung. Nach § 95 SGG ist, wenn ein Vorverfahren stattgefunden hat, Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Ob der Widerspruchsbescheid dem ursprünglichen Verwaltungsakt eine andere Gestalt gibt, ihn also ändert oder gar aufhebt, hängt von der Auslegung des jeweiligen Widerspruchsbescheides ab. Diese richtet sich wie sonst bei Verwaltungsakten iS des § 31 des Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren (SGB X) nach den für Willenserklärungen maßgebenden Auslegungsgrundsätzen (BSGE 17, 124, 126 = SozR Nr 8 zu § 160 SGG; BSGE 48, 56, 58 = SozR 2200 § 386a Nr 5). Maßgebend für den Inhalt der in Form des Verwaltungsaktes getroffenen Regelung (Verfügungssatz) ist die darin abgegebene Erklärung und der aus dem Inhalt ersichtliche Erklärungswille, wie er für den Adressaten des Verwaltungsaktes erkennbar geworden ist; der so ermittelte Verfügungssatz bestimmt den Inhalt des Verwaltungsaktes (BSG SozR 4100 § 117 Nr 21 S 112 mwN). Ist demnach nur im Einzelfall durch Auslegung nach den genannten Maßstäben zu ermitteln, ob und wie sich der jeweilige Widerspruchsbescheid auf den ursprünglichen Verwaltungsakt auswirkt, läßt sich die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage grundsätzlich nur im hier vorliegenden Einzelfall durch Auslegung des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 1994 lösen. Entsprechendes gilt, wenn die den Verwaltungsakt erlassende Stelle unabhängig von einem Widerspruchsbescheid Erklärungen abgegeben oder sich sonst so verhalten hat, daß darin möglicherweise eine Aufhebung des Verwaltungsaktes liegt.
Legt man die vom Kläger aufgeworfene Frage dahingehend aus, die Beklagte sei aufgrund ihres Verhaltens verpflichtet, den angefochtenen Bescheid aufzuheben, so ist diese Frage in einem Revisionsverfahren nicht klärungsfähig, weil ein entsprechender Verpflichtungsantrag nach dem Tatbestand des LSG-Urteils nicht gestellt und vom Kläger solches in der Beschwerdebegründung auch nicht vorgetragen worden ist.
Schließlich führt auch eine Auslegung der vom Kläger aufgeworfenen Rechtsfrage dahin, daß, wenn die Beklagte den angefochtenen Bescheid nicht aufhebt, dieses jedenfalls durch das Gericht geschehen muß, nicht zur Zulassung der Revision. Denn eine solche Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig. Die Klärungsbedürftigkeit ist grundsätzlich dann zu verneinen, wenn die Beantwortung der Rechtsfrage so gut wie unbestritten ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und 1300 § 13 Nr 1; vgl hierzu auch BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr 6). Dieses ist hier der Fall. Ein Bescheid darf vom Gericht nur aufgehoben werden, wenn er rechtswidrig ist. War der Bescheid im Zeitpunkt seines Erlasses rechtmäßig und ist er von der erlassenden Stelle nicht zurückgenommen worden, macht ein widersprüchliches Verhalten dieser Stelle nach Erlaß des Bescheides diesen nicht rechtswidrig. Der Kläger hat im übrigen nicht vorgetragen, der Bescheid sei von Anfang an rechtswidrig gewesen. Das von ihm beanstandete widersprüchliche Verhalten der Beklagten liegt, wie den Feststellungen des LSG und dem Vorbringen des Klägers zu entnehmen ist, zeitlich nach dem Erlaß des Bescheides.
Die Beschwerde des Klägers war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen