Entscheidungsstichwort (Thema)
Revisionsnichtzulassungsbeschwerde. Geltendmachung einer Verfahrensmangels. Stützung der Entscheidung auf ein mehrere Jahre zurückliegendes Sachverständigengutachten
Leitsatz (redaktionell)
Es ist kein allgemeiner Erfahrungssatz ersichtlich, dass eine Verschlechterung des Gesundheitszustands nur dann angenommen werden kann, wenn sich jemand in regelmäßiger fachärztlicher Behandlung befindet. Es kann dann nicht unberücksichtigt bleiben, wenn der Kläger gerade einen Beweisantrag mit dem Ziel gestellt hat, das Vorliegen einer Verschlimmerung zu klären.
Orientierungssatz
Zur Feststellung der Höhe des Grades der Behinderung (GdB) sowie einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichens G) reicht es nicht aus, auf ein mehrere Jahre altes Sachverständigengutachten zurückzugreifen. Das gilt auch dann, wenn sich der Betroffenen nicht in fachärztlicher Behandlung befindet.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3; SGB 9 § 69
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Beschluss vom 18.12.2002; Aktenzeichen L 4 SB 35/01) |
SG Hamburg (Urteil vom 14.06.2001; Aktenzeichen 29 VS 154/95) |
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft die Feststellung der Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und der gesundheitlichen Merkmale einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen "G").
Bei der am 4. September 1945 geborenen Klägerin stellte die Beklagte durch Bescheid vom 1. November 1990 eine Behinderung mit einem GdB von 20 wegen der Gesundheitsstörung: "Degeneratives Lendenwirbelsäulensyndrom, Bandscheibenschaden L 4/5, Fußfehlstatik" fest. Mit Antrag vom 24. Juni 1993 machte die Klägerin eine Verschlimmerung der bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen im Bereich des Rückens und der Beine geltend. Durch Bescheid vom 19. Januar 1994 stellte die Beklagte einen GdB von 40 unter Berücksichtigung der Gesundheitsstörung: "Seelische Minderbelastbarkeit mit psychosomatischen Beschwerden" fest. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 27. Januar 1995). Das von der Klägerin angerufene Sozialgericht Hamburg (SG) hat ein medizinisches Gutachten des Nervenarztes Dr. T. vom 13. April 1998 eingeholt sowie Befundberichte und Unterlagen der behandelnden Ärzte der Klägerin (Allgemeinmediziner K., Orthopäde Dr. Tr., HNO-Arzt Prof. Dr. R.) beigezogen; sodann hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 14. Juni 2001). Das Landessozialgericht Hamburg (LSG) hat die Berufung der Klägerin durch seinen gemäß § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergangenen, im Wesentlichen auf die Entscheidungsgründe des SG gestützten Beschluss vom 18. Dezember 2002 mit der Begründung zurückgewiesen, es seien während des Berufungsverfahrens von der Klägerin keine (neuen) Gesichtspunkte vorgetragen worden und Anhaltspunkte für eine zwischenzeitlich eingetretene - weitere - Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht ersichtlich.
Mit ihrer gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Beschluss gerichteten Beschwerde macht die Klägerin einen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg.
Wie die Klägerin formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und zutreffend gerügt hat, ist der die Berufung der Klägerin zurückweisende Beschluss des LSG verfahrensfehlerhaft zu Stande gekommen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Danach ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Die im Berufungsverfahren anwaltlich nicht vertretene Klägerin hat mit Schreiben vom 12. Dezember 2001 eine weitere Begutachtung der von ihr geltend gemachten hinzugetretenen bzw verschlimmerten Gesundheitsstörungen durch Prof. Dr. M., A. Allgemeines Krankenhaus in H., beantragt; damit hat sie den gestellten Anforderungen genügt. Aus den näheren Umständen des Verfahrens kann auch nicht entnommen werden, dass sie diesen Antrag nicht mehr aufrechterhalten wollte (vgl Senatsbeschluss vom 18. September 2003 - B 9 SB 11/03 B -, zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen; SozR 1500 § 160 Nr 12). Daran hat sie sinngemäß auch festgehalten (vgl das Schreiben der Klägerin vom 17. November 2002), nachdem sie das LSG gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG angehört hatte.
Auf Grund der dem Beschluss des LSG zu Grunde liegenden Rechtsauffassung hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, den Sachverhalt - durch Einholung eines aussagekräftigen Befundberichtes des behandelnden Arztes, gegebenenfalls eines neuen Gutachtens - weiter aufzuklären. Seine Begründung, auf Grund der im Klage- und Berufungsverfahren eingeholten Gutachten und Befundberichte hätten sich keine Anhaltspunkte für die von der Klägerin aufgestellten Behauptungen ergeben, ist nicht schlüssig. Im Zeitpunkt der Entscheidung des LSG lag das nervenärztliche Gutachten von Dr. T. viereinhalb Jahre zurück; zudem beruhte es auf einer ambulanten Untersuchung durch den Sachverständigen am 21. Februar 1997. Hinsichtlich der auch in der Folgezeit von der Klägerin behaupteten weiteren Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes hat sich das SG auf einen Ausdruck der elektronischen Karteikarte des behandelnden Allgemeinarztes K. vom 24. April 2001 gestützt, die eine ärztliche Auskunft zur Bewertung der Gesundheitsentwicklung der Klägerin nicht enthält. Der Orthopäde Dr. Tr. hat am 7. März 2001 mitgeteilt, dass die Klägerin seit seinem letzten Befundbericht vom 15. Mai 1995 nicht mehr in seiner ambulanten Behandlung gestanden habe. Mit den genannten Beweismitteln konnte das LSG mithin weder die Behauptung der Klägerin widerlegen noch eigene Feststellungen zu deren aktueller gesundheitlicher Verfassung treffen. Soweit das LSG zur Begründung unterlassener weiterer Sachaufklärung auf die Angabe der Klägerin verwiesen hat, wonach diese nicht in regelmäßiger (fach-)ärztlicher Behandlung stehe, trägt dies nicht die gezogene Schlussfolgerung fehlender gesundheitlicher Verschlechterung. Zunächst ist kein allgemeiner Erfahrungssatz ersichtlich, dass bei Personen mit den Leiden und in der Situation der Klägerin eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes nur dann angenommen werden kann, wenn diese sich in regelmäßiger fachärztlicher Behandlung befinden. Darüber hinaus hat das LSG dabei unberücksichtigt gelassen, dass die Klägerin gerade einen Beweisantrag mit dem Ziel gestellt hat, das Vorliegen einer Verschlimmerung zu klären.
Da somit die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, steht es im Ermessen des erkennenden Gerichts, nach § 160a Abs 5 SGG zu verfahren; insoweit ist der Senat nicht an die gestellten Anträge gebunden (vgl Senatsbeschluss vom 10. Dezember 2003 - B 9 SB 15/01 B - mwN). Da es im Rechtsstreit hauptsächlich um Tatsachenfeststellungen geht, sprechen prozessökonomische Gründe für eine unmittelbare Zurückverweisung der Sache, zumal auch ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren zu keinem Ergebnis führen könnte.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen