Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Mehrfachbegründung eines Urteils. Zulassung der Revision. Verfahrensmangel
Orientierungssatz
Für die Zulassung der Revision im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde ist, wenn ein Berufungsurteil nebeneinander auf mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt wurde, erforderlich, dass hinsichtlich jeder dieser Begründungen entweder sich darauf auswirkende Verfahrensmängel gerügt oder aber andere Zulassungsgründe formgerecht vorgebracht werden (vgl BSG vom 24.9.1980 - 11 BLw 4/80 = SozR 1500 § 160a Nr 38).
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 31.08.2006; Aktenzeichen L 16 (5/2) KR 78/03) |
SG Münster (Gerichtsbescheid vom 04.04.2003; Aktenzeichen S 9 KR 121/02) |
Gründe
I. Der 1948 geborene Kläger, der an einer schweren motorisch-spinalen Querschnittssymptomatik leidet und sich zur Verbesserung seiner stark eingeschränkten Gehfähigkeit (Merkzeichen "G" und "aG") in den Jahren 2001/2002 drei Elektrostimulationsbehandlungen im Staatlichen Rehabilitationszentrum von Prof. V. in M. unterzogen hat, begehrt von der beklagten Krankenkasse für die häusliche Fortsetzung der Therapie die Versorgung mit einer tragbaren Version des Elektrostimulationsgeräts ("orthopädischer Apparat AH 8-27"). Die Beklagte lehnte den Leistungsantrag ab, weil die Elektrostimulationstherapie nach V. eine alternative Behandlungsmethode darstelle, deren therapeutische Wirksamkeit nicht nachgewiesen sei und die sich auch in der medizinischen Praxis nicht durchgesetzt habe. Da die Therapie nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) umfasst werde, könne auch ein zur Durchführung der Therapie dienendes Hilfsmittel nicht gewährt werden.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 4.4.2003). In einem separat geführten Verfahren hat das SG auch die weitere Klage auf Erstattung der Behandlungs- und Reisekosten (insgesamt 4.100 Euro) für die in Moskau durchgeführten Elektrostimulationsbehandlungen abgewiesen (Urteil vom 11.3.2002).
In den ebenfalls separat geführten Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) jeweils Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 31.8.2006 bestimmt und dabei davon abgesehen, das persönliche Erscheinen des - nicht anwaltlich vertretenen - Klägers anzuordnen. Die Terminsmitteilungen sind dem Kläger am 7.8.2006 zugestellt worden. Mit einem am 9.8.2006 beim LSG eingegangenen Schriftsatz hat der Kläger begehrt, ihm die Reisekosten für die Fahrt zum Termin nach Essen einschließlich der Kosten für eine Begleitperson (160 Euro) im Wege einer Vorauszahlung zu erstatten; anderenfalls sei sein Erscheinen zum Termin aufgrund seiner Gehbehinderung nicht möglich. Das LSG hat dies abgelehnt und beide Berufungen im Termin zur mündlichen Verhandlung, zu welcher der Kläger nicht erschienen war, zurückgewiesen (Urteile vom 31.8.2006).
Mit seinen Beschwerden wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in beiden Berufungsentscheidungen. Er macht in beiden Verfahren geltend, das LSG-Urteil beruhe auf Verfahrensfehlern, weil das LSG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und über ein "inzidentes" Ablehnungsgesuch gegen einen gerichtlichen Sachverständigen nicht durch Beschluss entschieden habe.
Der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat der Beschwerde stattgegeben, das entsprechende Urteil des LSG vom 31.8.2006 - L 16 (5,2) KR 74/02 - durch Beschluss vom 24.5.2007 - B 1 KR 131/06 B - aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG zurückverwiesen. Der 1. Senat hat ausgeführt, der Kläger habe auf die Ankündigung des LSG, Prof. T. von den BG-Kliniken B. den Auftrag zur Erstattung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zu erteilen, diesen Sachverständigen mit Schreiben vom 24.6.2004 abgelehnt. Das LSG habe den Gutachtensauftrag gleichwohl erteilt, über das Ablehnungsgesuch des Klägers förmlich nicht entschieden und das von Prof. T. erstattete Gutachten im angegriffenen Urteil verwertet. Dieser Verfahrensfehler sei als wesentlich iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG einzustufen, weil das LSG die Zurückweisung der Berufung des Klägers auch auf das Sachverständigengutachten gestützt habe. Es wäre möglicherweise zu einer anderen Entscheidung gelangt, wenn ein anderer Sachverständiger zu anderen Ergebnissen gekommen wäre.
II. Anders als im Parallelverfahren B 1 KR 131/06 B erfüllt die Beschwerde im vorliegenden Verfahren hinsichtlich beider Rügen nicht die Formerfordernisse der §§ 160 Abs 2 und 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Das Rechtsmittel war deshalb ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter nach § 160a Abs 4 Satz 2 iVm § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Ein Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) ist nur dann formgerecht dargelegt, wenn die ihn begründenden Tatsachen im Einzelnen aufgeführt sind und - in sich verständlich - den geltend gemachten Mangel ergeben. Außerdem ist darzulegen, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 10, 14). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
1) Die Beschwerde ist unzulässig, soweit der Kläger eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) geltend macht und dazu vorträgt, das LSG hätte ihm die Kosten für die Fahrt zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung erstatten bzw insoweit einen Vorschuss gewähren müssen. Zwar führt er aus, dass er aufgrund seiner Gehbehinderung eine Begleitperson nebst Fahrzeug oder ein Taxi benötigte, um öffentliche Verkehrsmittel und damit letztlich das LSG erreichen zu können, er jedoch außer Stande gewesen sei, die Kosten hierfür aufzubringen. Der Kläger hat jedoch nicht dargelegt, dass er seinen Anspruch auf rechtliches Gehör nur durch sein persönliches Erscheinen im Termin zur mündlichen Verhandlung habe verwirklichen können. Er hat seinen Standpunkt erst- und zweitinstanzlich in zahlreichen Schriftsätzen dargelegt. Eine weitere Beweisaufnahme, etwa durch Anhörung von Zeugen oder eines gerichtlichen Sachverständigen im Termin zur mündlichen Verhandlung, ist vom LSG nicht angeordnet worden. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der Kläger schriftsätzlich nicht ausreichend hat ausdrücken können. Sein persönliches Erscheinen ist - entgegen seiner Behauptung - vom LSG auch nicht angeordnet worden, sodass nach der Beschwerdebegründung nicht erkennbar ist, dass das rechtliche Gehör des Klägers im Berufungsverfahren nur durch persönliche Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gewährleistet werden konnte (so auch der 1. Senat im Beschluss vom 24.5.2007 - B 1 KR 131/06 B -).
2) Im Gegensatz zum Parallelverfahren ist die Beschwerde hier aber auch unzulässig, soweit der Kläger geltend macht, das LSG habe über den von ihm in beiden Verfahren gestellten Ablehnungsantrag gegen den vom Gericht bestellten Sachverständigen nicht förmlich entschieden und damit verfahrensfehlerhaft gehandelt. Zwar rügt der Kläger die Verfahrensweise des LSG zu Recht; auch insoweit kann auf den genannten Beschluss des 1. Senats verwiesen werden. Es fehlt aber an der Darlegung, dass das Urteil des LSG im vorliegenden Fall auf dem Verfahrensfehler beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Hierfür ist, wenn ein Berufungsurteil nebeneinander auf mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt wurde, erforderlich, dass hinsichtlich jeder dieser Begründungen entweder sich darauf auswirkende Verfahrensmängel gerügt oder aber andere Zulassungsgründe formgerecht vorgebracht werden (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 38 S 55; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, Kap IX RdNr 327). Dem wird die Beschwerdebegründung des Klägers nicht gerecht.
Das LSG hat sich bei der Zurückweisung der Berufung gegen den die Hilfsmittelversorgung ablehnenden Gerichtsbescheid des SG nicht allein auf das Gutachten von Prof. Tegenthoff gestützt, der die Wirksamkeit der von Prof. V. entwickelten Elektrostimulationsmethode als nicht nachgewiesen bezeichnet und auf in Deutschland vorhandene anerkannte Therapiemethoden verwiesen hat. Vielmehr hat das LSG in seiner Entscheidung auch auf zwei davon unabhängige Gründe abgehoben, nämlich zum Einen auf den fehlenden Nachweis der Funktionstauglichkeit, Sicherheit und Qualität des Hilfsmittels (vgl §§ 33 und 139 SGB V und entsprechender Regelungen des Medizinproduktegesetzes) und zum Anderen auf die eingeschränkte und hier zu verneinende sinnvolle Verwendbarkeit des Hilfsmittels, das nach der Produktbeschreibung der ambulanten Nachbehandlung nach einer zeitnah vorausgegangenen stationären Behandlung bei engmaschiger ärztlicher Kontrolle diene und deshalb bei einem hier vorliegenden zeitlichen Abstand von mehreren Jahren nicht mehr eingesetzt werden könne. Auf diese beiden Begründungen geht der Kläger nicht ein. Es ist daher nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die Begutachtung der Elektrostimulationsmethode durch einen anderen Sachverständigen zu einem für den Kläger positiven Berufungsurteil führen könnte.
III. Da die Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg hatte, konnte auch dem Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren und Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten nicht stattgegeben werden (§ 73a Abs 1 SGG iVm § 114 Satz 1 ZPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen