Verfahrensgang
SG Speyer (Entscheidung vom 12.10.2017; Aktenzeichen S 10 R 855/15) |
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 07.08.2019; Aktenzeichen L 4 R 385/17) |
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. August 2019 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat der Klägerin die für das Beschwerdeverfahren notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Mit Urteil vom 7.8.2019 hat das LSG Rheinland-Pfalz die Berufung der Beklagten gegen die Verurteilung, der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form eines höhenverstellbaren Schreibtisches zu gewähren, zurückgewiesen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Beklagte Beschwerde zum BSG eingelegt, die sie mit Schriftsatz vom 15.11.2019 begründet hat.
II
1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen. Die Beschwerdebegründung genügt nicht der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form. Die Beklagte hat darin die geltend gemachten Verfahrensmängel (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Weise bezeichnet. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass iS von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels zunächst die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des Berufungsgerichts ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (stRspr; zB BSG Beschluss vom 27.10.2010 - B 12 KR 2/10 B - juris RdNr 5; jüngst BSG Beschluss vom 9.12.2019 - B 13 R 259/19 B - juris RdNr 4). Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Berufungsgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung vom 15.11.2019 nicht gerecht.
a) Die Beklagte rügt einen Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 103 Satz 1 Halbsatz 1 SGG). Eine solche Rüge muss folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das Berufungsgericht nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen und zu weiterer Sachaufklärung drängen müssen, (3) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (4) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des Berufungsgerichts auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das Berufungsgericht mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der Beweisaufnahme von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigen Ergebnis hätte gelangen können (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 19.11.2007 - B 5a/5 R 382/06 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 5; BSG Beschluss vom 3.12.2012 - B 13 R 351/12 B - juris RdNr 6 mwN; jüngst BSG Beschluss vom 28.11.2019 - B 13 R 169/18 B - juris RdNr 4).
Die Beklagte bringt vor, das LSG habe weder ein medizinisches Sachverständigengutachten zur erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin eingeholt noch eine Stellungnahme deren Arbeitgebers zu der Frage, ob der höhenverstellbare Schreibtisch, der momentan bereitgestellt werde, der Klägerin dauerhaft zur Verfügung stehe; beides habe sie in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG beantragt. Die Beklagte hat aber jedenfalls nicht schlüssig dargetan, dass das LSG ihren Beweisanträgen - wie nach § 160 Abs 2 Halbsatz 2 SGG erforderlich - ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei.
Wie die Beklagte selbst mitteilt, hat das LSG sich zur Beantwortung der Frage, ob die Erwerbsfähigkeit der Klägerin wegen Krankheit erheblich gefährdet iS des § 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI sei, ua auf den Entlassungsbericht des Z Therapiezentrum, in dem die Klägerin im Februar/März 2015 eine ambulante Reha-Maßnahme absolviert habe, auf die Empfehlung der Betriebsärztin B, die im Mai 2015 eine Arbeitsplatzbegehung durchgeführt habe, und auf den Befundbericht des Orthopäden K, bei dem die Klägerin bis Oktober 2016 in fortlaufender Behandlung gewesen sei, gestützt. Den in den genannten Unterlagen geäußerten, übereinstimmenden ärztlichen Einschätzungen sei zu entnehmen, dass die orthopädischen Erkrankungen der Klägerin (Cervicobrachialgie mit Radikulopathie links mit hochgradiger zervikaler spinaler Enge bei Massenprolaps C5/6 und Neuroforamenstenosen mit Indikation) deren Erwerbsfähigkeit erheblich gefährden würden; die Betriebsärztin B habe ausdrücklich die Zurverfügungstellung eines höhenverstellbaren Schreibtisches empfohlen. Das LSG habe sich zudem damit befasst, ob es bei der Klägerin - wie von der Beklagten im Berufungsverfahren vorgebracht - inzwischen zu einer wesentlichen Besserung gekommen sei. Anhaltspunkte hierfür seien für das LSG jedoch nicht erkennbar gewesen, selbst in Erwägung des Umstands, dass die ambulante orthopädische Behandlung der Klägerin im Oktober 2016 geendet habe. Zur Überzeugung des LSG sei dies insbesondere mit dem Haltungswechsel zu erklären, den der seit 2015 vom Arbeitgeber leihweise zur Verfügung gestellte höhenverstellbare Schreibtisch der Klägerin ermögliche; die entsprechenden Angaben der in der Berufungsverhandlung befragten Klägerin seien glaubhaft. Der Beklagten hätte es vor diesem Hintergrund oblegen darzulegen, welche entscheidungserheblichen Tatsachen dabei aus der insoweit maßgeblichen Sicht des LSG offengeblieben sein könnten, zu deren Ermittlung die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zwingend veranlasst gewesen wäre. Dem genügt ihr Vorbringen nicht. Sie weist zwar für sich genommen zutreffend darauf hin, dass es dem Tatsachengericht bei fehlender Sachkunde verwehrt ist, medizinische Beurteilungen selbst vorzunehmen; vielmehr muss es sich regelmäßig sachverständiger Hilfe bedienen, um den medizinischen Sachverhalt zu ermitteln (BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, RdNr 45; BSG Beschluss vom 24.4.2014 - B 13 R 352/12 B - juris RdNr 11; BSG Urteil vom 6.9.2018 - B 2 U 10/17 R - BSGE 126, 244 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 9, RdNr 28; BSG Beschluss vom 22.9.2020 - B 13 R 45/20 B - RdNr 10). Aus ihrem Vorbringen ergibt sich indes nicht, dass das LSG anhand der vorliegenden Befunde eine rein medizinische Frage ohne Hinzuziehung eines Gutachters selbst entschieden habe, wie das Berufungsgericht in der von der Beklagten angeführten Entscheidung des BSG vom 2.6.1959 (2 RU 20/56 - SozR Nr 33 zu § 103 SGG - juris RdNr 16). Ausgehend von den in der Beschwerdegründung dargestellten Entscheidungsgründen hat das LSG vielmehr die übereinstimmenden medizinischen Einschätzungen von Seiten des Z, der Betriebsärztin B und dem Behandler K für überzeugend gehalten und diesen entnommen, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei erheblich gefährdet. Ferner hat das LSG nach der Mitteilung der Beklagten die in den genannten Unterlagen enthaltene Einschätzung für weiterhin maßgeblich gehalten, weil es keine Anhaltspunkte für eine wesentliche Besserung gebe. Dass die Beklagte diese Würdigung der Ermittlungsergebnisse durch das LSG offensichtlich nicht teilt und das angegriffene Urteil für inhaltlich falsch hält, kann nicht zur Revisionszulassung führen (stRspr; vgl etwa BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4; BSG Beschluss vom 21.4.2020 - B 13 R 44/19 B - juris RdNr 8; BVerfG Beschluss vom 6.5.2010 - 1 BvR 96/10 - SozR 4-1500 § 178a Nr 11 RdNr 28 mwN). Sollte die Beklagte mit ihrem - zur Bezeichnung der zudem gerügten Gehörsverletzung (dazu sogleich unter b) angebrachten - Vorbringen, es liege bislang überhaupt keine ärztliche Einschätzung zur Gefährdung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin vor, andeuten wollen, anders als vom LSG in den Urteilsgründen dargestellt, würden alle oder einige der genannten Unterlagen keine solche Einschätzung enthalten, hat sie dies nicht hinreichend dargelegt.
Ebenso wenig legt die Beklagte schlüssig dar, welche entscheidungserheblichen Tatsachen aus Sicht des LSG weiterer Aufklärung durch eine Befragung des Arbeitgebers der Klägerin bedurft hätten. Wie die Beklagte selbst darlegt, hat das LSG die Überzeugung gewonnen, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin könne (nur) durch die Gewährung von Teilhabeleistungen in Form eines höhenverstellbaren Schreibtisches iS des § 10 Abs 1 Nr 2 Buchst a SGB VI abgewendet werden, ua weil der vom Arbeitgeber seit 2015 bereitgestellte höhenverstellbare Schreibtisch der Klägerin nur leihweise zur Verfügung stehe. Dabei habe das LSG sich auf eine entsprechende Bestätigung des Arbeitgebers von 2016 gestützt und befunden, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die erkrankte Kollegin der Klägerin, für die der Tisch ursprünglich vorgesehen gewesen sei, dauerhaft nicht mehr auf ihren Arbeitsplatz zurückkehre und der Tisch dann gerade am Arbeitsplatz der Klägerin verbleiben könne. Indem die Beklagte ausführt, es erscheine nach der allgemeinen Lebenserfahrung schon aufgrund des Zeitablaufs überwiegend wahrscheinlich, dass die erkrankte Kollegin nicht an ihren bisherigen Arbeitsplatz zurückkehren werde - weil diese etwa eine andere Beschäftigung aufgenommen habe, Rente beziehe oder verstorben sei - stellt sie der Würdigung des Ermittlungsergebnisses durch das LSG eigene Mutmaßungen gegenüber. Letztlich wendet die Beklagte sich auch insoweit lediglich gegen die inhaltliche Richtigkeit des angegriffenen Urteils. Darauf lässt sich die begehrte Revisionszulassung wie ausgeführt nicht stützen.
b) Die Beklagte rügt zudem eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG), indem das LSG das Vorliegen einer erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin ohne vorherigen Hinweis aufgrund eigener Sachkunde bejaht habe. Sie hat jedoch keine Umstände hinreichend dargetan, die eine insoweit allein in Betracht kommende Gehörsverletzung in Form einer Überraschungsentscheidung zu begründen in der Lage wären.
Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne der aufgezeigten Vorschriften folgt ua das Verbot sog Überraschungsentscheidungen. Von einer solchen ist auszugehen, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr; zuletzt etwa BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 13.2.2019 - 2 BvR 633/16 - juris RdNr 24 mwN; s auch BSG Urteil vom 23.5.1996 - 13 RJ 75/95 - SozR 3-1500 § 62 Nr 12 - juris RdNr 24 ff; BSG Beschluss vom 20.12.2016 - B 5 R 242/16 B - juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 21.1.2020 - B 13 R 287/18 B - juris RdNr 13; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 14. Aufl 2020, § 62 RdNr 8b mwN). Soweit ein Gericht eigene Sachkunde bei der Urteilsfindung tragend berücksichtigen will, muss es den Beteiligten die Grundlagen hierfür offenbaren. Das Gericht muss in einem solchen Fall gegenüber den Beteiligten darlegen, worauf seine Sachkunde beruht und worauf sie sich bezieht, damit die Beteiligten hierzu Stellung nehmen und ihre Prozessführung entsprechend einrichten können (BSG Urteil vom 5.3.2002 - B 2 U 27/01 R - juris RdNr 20 f mwN; BSG Beschluss vom 15.9.2011 - B 2 U 157/11 B - juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 17.6.2020 - B 5 R 1/20 B - juris RdNr 5; s auch zu allgemeinkundigen Tatsachen BSG Urteil vom 8.9.1982 - 5b RJ 48/82 - SozR 2200 § 1246 Nr 98 S 302 - juris RdNr 11; zu berufskundlichen Tatsachen BSG Urteil vom 23.5.1996 - 13 RJ 75/95 - SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19 - juris RdNr 24; zu historischen Tatsachen BSG Urteil vom 26.7.2007 - B 13 R 28/06 R - BSGE 99, 35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4, RdNr 32). Aus dem Vorbringen der Beklagten ergibt sich aber wie ausgeführt schon nicht schlüssig, dass das LSG aus eigener Sachkunde beurteilt habe, ob und in welchem Ausmaß die Erwerbsfähigkeit der Klägerin (weiterhin) gefährdet sei. Ausgehend von den von der Beklagten mitgeteilten Entscheidungsgründen hat es sich vielmehr auf die entsprechenden medizinischen Einschätzungen in den vorliegenden Arztbriefen, Befundberichten und sonstigen Unterlagen gestützt. Dass ihr diese Unterlagen nicht bekannt gewesen seien oder sie sich hierzu nicht habe äußern können, hat die Beklagte nicht vorgebracht.
c) Die Beklagte rügt zudem einen Verstoß gegen die Begründungspflicht (§ 128 Abs 1 Satz 2 SGG iVm § 136 Abs 1 Nr 6 SGG), indem das LSG die Grundlage der eigenen Sachkunde in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils nicht offenbart habe. Sie hat aber auch insoweit nicht hinreichend dargetan, dass das LSG überhaupt eigene Sachkunde tragend berücksichtigt habe.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14470806 |